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Bürgerentscheid

Geislingen will weg

Bürgerentscheid: Geislingen will weg
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Am Sonntag stimmte eine deutliche Mehrheit der GeislingerInnen dafür, den Landkreis Göppingen zu verlassen. Damit ist Geislingen bereits die achte Kommune, die lieber zum Alb-Donau-Kreis gehören würde. Den Ausschlag gab die Schließung der Helfenstein-Klinik.

Schon lange fühlen sich Gemeinden des Oberen Filstals vom Landkreis Göppingen vernachlässigt. Die Entscheidung des Kreistags im Mai 2021, die Helfenstein-Klinik in Geislingen zu schließen, war dann der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und BürgerInnen aktiv werden ließ. Die Helfenstein-Klinik ist der zweite, kleinere Standort der kreiseigenen Alb-Fils-Kliniken. Das große Krankenhaus in Göppingen wird gerade erneuert. Bis heute heißt es auf der Website der Alb-Fils-Kliniken: "Unsere Standorte trennt nichts, außer 18 Kilometer. Und da wir den ganzen Landkreis Göppingen und Randgebiete der angrenzenden Landkreise medizinisch versorgen, ist es nur sinnvoll, die Gesundheitsversorgung über zwei Standorte zu verteilen, vom Oberen bis zum Unteren Filstal." Angesichts der Kreistagsentscheidung tönt das in den Ohren der GeislingerInnen wie Hohn.

In der Fußgängerzone zwischen Rathaus und Wochenmarkt bauen Ludwig Kraus, Thomas Reiff und Erkan Erdem einen Infostand auf. An die rot-grünen Farben des Aktionsbündnisses sind die GeislingerInnen mittlerweile gewöhnt. Jeden Mittwoch stehen Bündnis-Aktive hier, immer wieder auch an anderen Orten des oberen Filstals. Dazu kommen samstägliche Mahnwachen vor dem Krankenhaus und als einzigartige Geislinger Protestform die "Notfeuer" mit Fackeln auf der Burgruine Helfenstein.

Kraus, Erdem und Reiff sitzen im Gemeinderat, ebenso Holger Schrag, der mit Kraus im März das Aktionsbündnis initiiert hat. Mit Werner Gass bilden sie die DNF: "Die neue Fraktion". Die hat sich im Zuge der Querelen um das Michelberg-Gymnasium Anfang 2020 neu zusammengefunden, nachdem Geislingen im Zuge der energetischen Sanierung der Schule 21 Millionen Euro in den Sand gesetzt hat.

Schrag ist seit 2009 Stadtrat, stand mal den Linken, mal den Grünen nahe. Kraus und Gass waren vorher bei den Freien Wählern und Erdem gehört der neuen Wählervereinigung Perspektive Geislingen an, die 2019 mit zwei Ratsherren in den Gemeinderat eingezogen ist.

Erdem freut sich, mitgestalten zu können, muss allerdings feststellen, dass für Neues oft wenig Spielraum bleibt. Grund ist die angespannte Finanzlage. "Das Problem beginnt damit, dass der größte Steuerzahler versucht, möglichst wenig Steuern zu zahlen", umreißt Schrag die Sachlage. Der größte Steuerzahler ist die WMF. Nachdem der amerikanische Investor KKR 2012 die Aktienmehrheit erworben und das Unternehmen kräftig ausgepresst hatte, hat 2016 die französische Groupe SEB übernommen, die weiterhin Beschäftigte und Produktionskapazitäten abbaut.

Dies alles sind Geislinger Probleme, die nichts mit dem Landkreis zu tun haben. Aber in Sachen Helfenstein-Klinik haben Kraus und Erdem nicht nur den SPD-Abgeordneten Reiff, sondern den gesamten Gemeinderat auf ihrer Seite. "Alle sagen, das geht so nicht", betont Kraus. Fraktionsübergreifend fühlten sich die Gemeinderäte vom Landkreis übergangen. Also: Raus! Der Beschluss, die Bürger über einen Landkreiswechsel abstimmen zu lassen, fiel einstimmig.

Landrat Wolff ist in Geislingen unbeliebt

"Wut, Enttäuschung und Unverständnis" äußerte auch Oberbürgermeister Frank Dehmer in einer Videobotschaft wenige Tage nach dem Beschluss des Kreistags im Mai, den er als einen "extremen Nackenschlag" empfinde. In einem Brief an den Kreistag hatten er und 14 weitere Bürgermeister schon vor einem Jahr gegen die Schließungspläne protestiert. Dehmer will den Kampf noch nicht aufgeben und unterstützt ausdrücklich das Aktionsbündnis.

Kraus bleibt betont sachlich. Aber das Problem hat auch einen Namen – den er kein einziges Mal erwähnt. Umso deutlicher ein Demo-Transparent: Zu sehen ist Landrat Edgar Wolff, der mit dem Holzhammer eines dritten Gutachtens auf die Helfenstein-Klinik eindrischt. "Glaub's mir, wir kriegen dich noch kaputt", steht daneben und darunter: "Wenn man Gesundheitswesen rein wirtschaftlich sieht".

Wolff (Freie Wähler) hat in Stuttgarter Ämtern und im persönlichen Referat Manfred Rommels angefangen, bevor er 1997 Bürgermeister von Ebersbach wurde, ganz am anderen Ende des Landkreises. 2009 wurde er, mit den Stimmen von Grünen und SPD, knapp zum Landrat gewählt. Damit wurde er auch Aufsichtsratsvorsitzender der Alb-Fils-Kliniken. In dieser Funktion hat der 62-Jährige drei Gutachten in Auftrag gegeben, die der Helfenstein-Klinik keine Perspektive mehr einräumen.

Ins Positive gewendet lautete das so: Die Gutachter sollten einen Weg aufzeigen, "die Helfenstein-Klinik zu stabilisieren und die Gesundheitsversorgung an beiden Standorten der AFK sicherzustellen". Hinter der blumigen Formulierung verbirgt sich etwas, das mal als Praxisklinik, dann wieder als Primärversorgungszentrum oder Gesundheitscampus bezeichnet wird: eine Art Gemeinschaftspraxis, die aber in der Nacht und am Wochenende geschlossen bleibt.

"Eine Klinik, zwei Standorte": Auf den Slogan zum hundertjährigen Bestehen der Helfenstein-Klinik 2015 glaubten sich die Bewohner des Oberen Filstals verlassen zu können. 50 Millionen waren zuvor noch investiert worden. Ein ambulantes Gesundheitszentrum hat 2013 seine Pforten geöffnet. Den Protest der Geislinger wehrt Landrat Wolff ab: "Eine Klinik, zwei Standorte – das war weder ein Beschluss noch eine Garantie noch ein Versprechen."

Systematisch kaputtgespart

Die Helfenstein-Klinik habe 2019 einen Verlust von 1,9 Millionen Euro eingefahren, rechnen die Gutachter vor, gegenüber 6,6 Millionen im Fall der fünfmal so großen Klinik am Eichert. Dort entsteht seit zwei Jahren ein Neubau, der statt, wie ursprünglich angekündigt, 372 mittlerweile 445 Millionen Euro kostet. Es ist "eines der größten Neubauprojekte in Baden-Württemberg", vermerkt die Klinik stolz auf ihrer Website.

"Seit ich im Landkreis als Journalist tätig bin", schreibt Joachim Abel auf seinem Nachrichtenportal Filstal-Express, "geht es jedes Jahr im Kreistag bei der Klinik im Wesentlichen um die 'Schwarze Null', die wieder nicht erreicht, aber bald erreicht werden soll." Abteilungen seien nach Göppingen verlagert worden, was die Zahl der Bettenbelegungen reduzierte, was dann wiederum der Klinik in Geislingen angelastet wurde; Personal wurde nach Göppingen versetzt – und fehlt nun in Geislingen. Abel schließt: "Die Klinik wurde systematisch ausgeblutet."

Ludwig Kraus vom Aktionsbündnis hat weitere Argumente parat. Er bezweifelt, dass die Klinik am Eichert im Berufsverkehr von jedem Ort im Landkreis in dreißig Minuten erreichbar sei, wie dies seit 2018 bundesweit Vorschrift ist. Die Helfenstein-Klinik kennzeichne "eine gewisse Wärme, kein Abgefertigtwerden". Die Klinik am Eichert im Göppingen dagegen machte 2012 und 2018 durch Fehldiagnosen und Behandlungsfehler auf sich aufmerksam.

Als Vorstand eines Vereins leitet Kraus in Aufhausen ein kleines Pflegeheim. Er hat erlebt, dass alte Menschen, die nicht gesundet waren, aus dem Krankenhaus regelrecht abgeschoben wurden. Wer aufgrund von Mehrfacherkrankungen länger im Klinikum bleiben müsse, brauche Zuwendung, erklärt er. Ihn stört zudem, dass die Göppinger Klinik für Angehörige aus den Randbereichen des Oberen Filstals per ÖPNV kaum erreichbar sei.

Die Enttäuschung im gesamten Oberen Filstal sitzt tief. Sechs Kommunen – Deggingen, Hohenstadt, Wiesensteig, Drackenstein, Mühlhausen, Bad Überkingen – hatten bereits im Sommer per Gemeinderatsbeschluss ihre Verwaltungen angewiesen, einen Ausstieg aus dem Landkreis Göppingen zu prüfen. Nun, am Wahlsonntag, haben in Geislingen die BürgerInnen mit 80, in Böhmenkirch mit 70 Prozent der abgegebenen Stimmen für den Ausstieg votiert. Ob der Landkreiswechsel gelingt, ist noch nicht gesagt. Denn zuständig ist der Landtag. Und was der Landrat des Alb-Donau-Kreises, Heiner Scheffold (parteilos), zu dem Ansinnen der acht Göppinger Kreiskommunen sagt, ist noch offen.

Mehr Demokratie wäre schön

Aber die Austrittswünsche der Gemeinden sind ein Signal nach Göppingen. Zu lange schon fühlt sich das Obere Filstal benachteiligt. Ob es um die Neuausschreibung der Müllabfuhr ging, wo den Bürgern 15 Prozent weniger Gebühren in Aussicht gestellt wurden, wenn sie ihren Müll halbieren (!), oder um die Aufnahme des Landkreises in den Verkehrsverbund Stuttgart, von dem aus Geislinger Sicht vor allem das Untere Filstal profitiert, während das Obere nur zahlt. Mit der Mehrheit der doppelt so großen Kreishauptstadt und der dichter bevölkerten Nachbargemeinden lassen sich alle Geislinger Anliegen leicht abbügeln.

"Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir uns deutlich artikulieren und auch lautstark wehren müssen", meint Stadtrat Holger Schrag. "Hier geht es nicht um eine Einzelfrage, eine einzelne Abstimmung zur Helfenstein-Klinik. Es geht vielmehr darum, wie man miteinander umgeht, welche Grundhaltung man gegenüber der Bevölkerung eines großen Teilgebiets des Landkreises einnimmt und ob man sich bemüht, diese Bürger in Entscheidungsprozessen mitzunehmen, anstatt sie niederzustimmen."

Nun sammelt das Aktionsbündnis auch noch Unterschriften, damit der Landtag für Bürgerentscheide auf Kreisebene sorgt. Das gibt es in nahezu allen Bundesländern, nur nicht in Baden-Württemberg und Hessen. Mehr als 4.000 Bürger haben schon unterzeichnet, 10.000 Unterschriften sind landesweit nötig. Einen ersten Anlauf hat es vor drei Jahren schon einmal gegeben, berichtet Edgar Wunder vom Verein Mehr Demokratie, der sei allerdings vom Landtag abgeschmettert worden. Am kommenden Freitag werden Wunder und Schrag das Anliegen auf der Landespressekonferenz vorstellen.


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2 Kommentare verfügbar

  • Michael
    am 29.09.2021
    Antworten
    Schon der erste Satz ist Falsch: "Am Sonntag stimmte eine deutliche Mehrheit der GeislingerInnen dafür, den Landkreis Göppingen zu verlassen."

    Es ging bei dem Bürgerntscheid darum, dass GEPRÜFT werden soll unter welchen Rahmenbedingungen ein Austritt aus dem Landkreis Göppingen sowie ein…
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