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Gefängnis

"Da hat keiner was davon"

Gefängnis: "Da hat keiner was davon"
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In den ersten beiden Urteilen zur sogenannten Stuttgarter "Krawallnacht" wurden zwei junge Männer zu jeweils zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Thomas Galli hat 15 Jahre lang in Haftanstalten gearbeitet. Ein Gespräch über Rache und angemessene Strafen.

Er hat 15 Jahre in leitender Position in der Justiz gearbeitet, war Gefängnisdirektor in diversen Haftanstalten in Bayern und Sachsen. In dieser Zeit hat Thomas Galli mehr erlebt und gesehen, als so mancher in einem ganzen Leben. Schönes, aber auch Schreckliches. Anfänglich war da ein indifferentes Unwohlsein in Bezug auf das System Gefängnis, über die Jahre wurde er zu einem seiner größten Kritiker. Gefängnisse, sagt er, muss es geben. Aber nur für Menschen, die wirklich sehr gefährlich sind. Für die meisten anderen sollte das Strafsystem in Deutschland reformiert werden.


Herr Galli, wie ist es denn, wenn man ins Gefängnis kommt?

Man kommt an und darf fast nichts Persönliches mit hineinnehmen. Auch später darf man nur wenige Gegenstände im Besitz haben. Das ist so, weil die Anstalten immer die Gefahr vermuten, dass etwas reingeschmuggelt wird, eingenäht beispielsweise, und dass nicht alles immer kontrolliert werden kann. Man kommt von mehr oder weniger absoluter Freiheit in eine sehr strikte Fremdbestimmung und wird einem streng reglementierten Regime unterworfen. Internet gibt's natürlich nicht, keine Handys, keine Sozialen Netzwerke. Wenn man Glück hat, darf man ab und zu telefonieren, sonst dürfen Inhaftierte nur Briefe empfangen. Die weitgehende Abtrennung von Freunden und Familie, von Angehören, ist das, was viele Inhaftierte am einschneidendsten empfinden.

In Rottenburg ist das Gefängnis ein burgartiges Gebäude, wo Leute eingesperrt sind, die nicht raus dürfen. Drumrum ist blühendes Leben. Objektiv betrachtet ist das ziemlich absurd. Wie verändert Freiheitsentzug die Menschen?

"Gefängnisse sind heute als menschenunwürdige Institutionen zu bezeichnen. Sie verletzen systematisch Art. 1 unseres Grundgesetzes. Sie sind weder notwendig noch geeignet zur Reduzierung von Kriminalität. In ihrer plumpen und schädlichen Art zu strafen sind sie unter unser aller Würde."

[Dieses Zitat und die weiteren sind Thomas Gallis Buch "Weggesperrt – Warum Gefängnisse niemandem nützen" entnommen.]

Innerlich geraten viele in eine Oppositionshaltung zu Staat und Justiz und zur Gesellschaft. Und dadurch gelingt es auch nicht, die Menschen zu motivieren, dass sie zu "uns" gehören wollen, dass sie wieder ein normales Leben führen wollen. Sie spielen das Spiel während der Haftzeit zwangsweise mit, entfernen sich aber in der Mehrheit immer weiter von der Gesellschaft. Meistens sind jüngere Männer inhaftiert, zu 95 Prozent, die keine Beziehungen zu anderen Geschlechtern pflegen können, sie können sich nicht aussuchen, ob oder was sie arbeiten oder welche Ausbildung sie machen. Viele verlernen – oder lernen es auch nicht in ihrer Haftzeit –, selbstverantwortliche Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen für das eigene Leben.

Das ist Ihr großer Kritikpunkt am System Gefängnis.

Ja, denn wenn man davon ausgeht, dass 90 Prozent aller Inhaftierten nach wenigen Jahren wieder in Freiheit sind, macht es doch Sinn, sich zu überlegen, wie man die Jahre des Strafvollzugs so gestaltet, dass die Leute danach nicht wieder straffällig werden. So kann man auch die Sicherheit der Allgemeinheit vergrößern. Da bringt doch die vollkommene Abschottung nichts, dieses Hineingepresse in eine Subkultur. Nach ein paar Jahren kennen die Inhaftierten meistens nur noch andere Inhaftierte. Viele, die dann wieder entlassen werden, sind nach wie vor in diesem Milieu verhaftet. Davon hat doch niemand was.

Foto: Ronald Hansch

Thomas Galli, Jahrgang 1973, war Lehrbeauftragter für Strafrecht und Psychologie, Mitglied des Kriminalpräventiven Rats der Stadt Dresden und Vertreter Sachsens bei der Bundesvereinigung der Anstaltsleiter. Galli saß im Beirat des Netzwerks Betroffener von sexualisierter Gewalt und ist Vorstand der Deutschen Gesellschaft zur humanen Fortentwicklung des Strafrechts. Seit 2016 ist er als Rechtsanwalt in Augsburg tätig. Er hat mehrere Bücher zum Thema Strafvollzug veröffentlicht, sein jüngstes, "Weggesperrt – Warum Gefängnisse niemandem nützen", ist im Mai in der Edition Körber erschienen(ana)

Strafen bringen also wenig?

Man muss sich überlegen, was man mit Strafe erreichen will. Bei den Fällen in Stuttgart beispielsweise stellt sich diese Frage auch. Wenn Randalierer Polizeiautos zerstören, muss man das als Unrecht öffentlich brandmarken. Aber ob da einer zwei Jahre in Haft sitzt oder zwei Jahre gemeinnützige Leistung erbringen muss – das hat die gleiche Abschreckungswirkung. Gerade in diesen Fällen könnte ich mir vorstellen, dass die Leute verpflichtet werden, gemeinnützige Leistungen im Polizeibereich zu erbringen, damit sie mal Kontakt haben zu den Menschen unter den Polizeiuniformen. Generell müsste man etwas weg von dem strukturierten Law-and-Order-Denken, das bei näherer Betrachtung nur die Wut und Aggression der Leute schürt. Und sie erst recht auf eine kriminelle Bahn bringt. Also: gemeinnützige Arbeit! Man kann das auch kombinieren mit einer elektronischen Fußfessel, oder mit Wohngruppen, die gegen Entweichung gesichert werden. Dann könnte man mit Inhaftierten individuell und in einem realitätsnahen Kontext arbeiten.

Sie sagen, Gefängnisse sind Hochschulen des Verbrechens. Was meinen Sie damit?

Weit verbreitet sind Drogenkonsum und Drogenhandel in allen Anstalten. Man geht im Durchschnitt davon aus, dass mindestens 50 Prozent aller Inhaftierten Betäubungsmittel konsumieren. Das heißt, Gefängnisse sind kein geeignetes Umfeld, um Menschen von Sucht oder aus einem Drogenmilieu herauszubringen. Gewalt ist an der Tagesordnung. Ganz schlimme Vorfälle gibt es Gott sei dank nicht so oft, also wenn Gefangene tödlich verletzt werden von anderen. Aber die Gewalt an sich, die Drohungen mit Gewalt und auch die Machtkämpfe, wer das Sagen hat, das ist alltäglich. Wenn ich ein paar hundert junge Männer zusammensperre, auch wenn es keine Straffälligen wären, gibt es Machtkämpfe. Was die Leute im Gefängnis lernen, ist, kein Opfer zu werden und selbst mit Gewalt aufzutreten, um sich behaupten zu können. Das sind natürlich Strukturen und Einstellungen, die man draußen auch nicht haben will. Insofern lehrt das Gefängnis genau das Falsche.

"Wenn diejenigen, die mit bewusst falschen Behauptungen gegen Geflüchtete hetzen und damit großen menschlichen und gesellschaftlichen Schaden anrichten, in unseren Parlamenten sitzen; wenn in großem Umfang Waffen an Länder wie die Türkei oder Saudi-Arabien geliefert werden, die damit massive Menschenrechtsverletzungen begehen, und so ein Beitrag geleistet wird, dass viele Menschen traumatisiert und entwurzelt zu uns fliehen müssen, dann ist es schon fragwürdig, wenn wir Menschen die Freiheit entziehen, die etwas Geringwertiges gestohlen oder Drogen verkauft haben."

In Ihrem Buch beschreiben Sie Gefängnisse als Teil eines kapitalistischen Gesellschaftssystems. Wie ist das gemeint?

Relativ häufig begegne ich dem Argument, wir können Gefängnisse nicht überwinden, wenn wir den Kapitalismus nicht überwinden. Da ist sicher was dran, aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Da hätte ich auch Sorge, wenn ich sage, wir müssen erst den Kapitalismus abschaffen. Aber natürlich ist es so, dass soziale Ungleichheiten immer ein ganz großer Nährboden für Gewalt sind. Soziale Ungleichheit bringt mit sich, dass Menschen von bestimmten Regeln und Strukturen, die es in unserer kapitalistischen Gesellschaft gibt, nicht profitieren können. Sie haben weniger Neigung, sich an diese Regeln zu halten, von denen eben nur andere profitieren. Das ist für mich einleuchtend.

Wichtig ist also eine gute Sozialpolitik?

Die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik, ja, das ist keine neue Erkenntnis. Ganz großes Thema sind Ersatzfreiheitsstrafen für Menschen, die Geldstrafen nicht bezahlen konnten, für Schwarzfahrer beispielsweise. Das betrifft eindeutig keine Ärzte oder Manager. Diese Strafen sind zutiefst ungerecht, und solche Ungerechtigkeiten sollte man aus dem Strafrecht verbannen. Auch bei den Jugendlichen in Stuttgart: Die haben ja weit überwiegend einen Migrationshintergrund. Das ist keine Berechtigung, Krawall zu machen, aber man sollte davon wegkommen, zu meinen, wir könnten gesamtgesellschaftliche Probleme ignorieren und sagen, diese jungen Leute sind schuldig und müssen nur lang und hart bestraft werden.

In diesem Fall ist die Diskussion politisch hoch aufgeladen, da geht es, so sehe ich es zumindest, auch um Vergeltung: denen Schaden zuzufügen, die anderen durch ihren Krawall Schaden zugefügt haben.

"Das Gefängnis, wie wir es heute kennen, nützt also letztlich niemandem – zumindest erfüllt es nicht den Zweck, den wir ihm zuschreiben. Es eignet sich nicht dazu, potenzielle Straftäter wirksam abzuschrecken. Es eignet sich nicht dafür, die Kriminalitätswahrscheinlichkeit seiner Insassen zu verringern. Es eignet sich nicht einmal dazu, Kriminalität insgesamt wirksam zu reduzieren. Es eignet sich nicht für einen menschenwürdigen Umgang mit Straffälligen. Und es eignet sich nicht dazu, die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten zu befriedigen."

Das muss man sich erst mal bewusst machen, weil es immer geleugnet wird: Vergeltung spielt bei uns keine Rolle mehr, es geht um Resozialisierung, heißt es ja immer. Aber das ist nicht der Fall. Strafe ist eine Zufügung von Leid. Unsere Strafen sind nach wie vor Vergeltung und eine Form von Rache.

Die Polizeigewerkschaften haben im Stuttgarter Fall das Urteil von zweieinhalb Jahren gelobt. Eine davon fordert sogar, dass die Krawallmacher generell nicht nach Jugendstrafrecht verurteilt werden, sondern nach dem Erwachsenenstrafrecht.

Vielleicht ist das nicht unbedingt ein Vergeltungsbedürfnis gegenüber den Tätern. Sondern das Bedürfnis, dass eine offizielle Institution – wie es Gerichte sind – ganz klar feststellt, wie hoch das Unrecht ist, das da passiert ist. Da finde ich, ist unsere Sprache zu undifferenziert. Das ist ein Problem in unserem Rechtssystem, dass wir nur die Möglichkeit haben, durch die Höhe einer Freiheitsstrafe auszudrücken, wie schlimm etwas ist. Ich finde, wir sollten da mehr differenzieren. Dass Gerichte die Höhe eines Unrechts feststellen, dann aber ein großer Rahmen möglicher Rechtsfolgen entsteht, der nicht mehr vom Gericht gefällt wird. Man könnte den von Unrecht Betroffenen Rechnung tragen, indem man sagt: Ja, wir sehen, dass schlimm ist, was passiert ist. Aber was mit den Betroffenen passiert, folgt dann wieder anderen Regeln. Wir brauchen andere Möglichkeiten, um zu bemessen, wie hoch ein Unrecht ist. Nicht nur die, dem Täter ein möglichst schmerzhaftes Übel zuzufügen.


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2 Kommentare verfügbar

  • Nico
    am 28.11.2020
    Antworten
    Und was sagt man zu "White Collar crime"?
    Wirecard?
    Asozialen Steuerhinterzug?
    Mehrwertsteuerbetrug?
    Cum-Cum Cum-Ex?
    etc.

    Da sind doch offensichtlich auch Menschen dran beteiligt, die einer Sozialisierung bedürfen.

    Immer nur nach unten treten. Einseitige Sicht der Dinge das.…
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