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Treppenwitz

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Seitdem der "Treffpunkt Rotebühlplatz" innen und außen Treppen hat, wird er schon als schwäbisches Pompidoule bezeichnet. Dabei ist das Stuttgarter Kulturzentrum nichts anderes als eine miese Baustelle, die voll ins Stadtbild passt.

Im "Treffpunkt Rotebühlplatz" gibt es mehr Treppen zu bestaunen als auf Bildern von M.C. Escher. Dutzende davon vernetzen die fünf Stockwerke, einige sind nur wenige Meter lang, teils zählen sie einhundert Stufen und mehr. Ihre hochkomplexen Abzweigungen – oft sind es mehrere pro Treppe – führen dabei nicht immer zu den kürzesten Wegen, und inmitten dieser labyrinthischen Verästelungen lässt sich leicht der Überblick verlieren. Doch optisch macht der Stil was her.

Das große Foyer habe gar einen "sakralen Charakter", wusste Architekt Horst Haag die eigene Arbeit zu würdigen. Auch wenn "die Bezeichnung Kathedrale der Kultur vielleicht etwas zu hoch gegriffen" sei. Das war im Januar 1992, als der "Treffpunkt Rotebühlplatz" in Stuttgart-Mitte feierlich eröffnet wurde. Euphorisierte Kommunalpolitiker bejubelten das 100 Millionen D-Mark schwere Bauwerk und zogen, in einem Anflug lokalpatriotischer Megalomanie, direkte Vergleiche zum berühmten Pariser Centre Pompidou: Dort ist das französische Nationalmuseum für Moderne Kunst beherbergt. Im "Treffpunkt Rotebühlplatz" gibt es vier Schulen, ein Café, Veranstaltungen und einen Treffpunkt für Senioren und Kinder. Dieses "einmalige Spektrum von Kulturangeboten" (Architekt Haag) solle nun unter einem Dach zusammenfinden. Und die vielen Treppen dienen dabei nicht einfach nur dem Überwinden von Höhenunterschieden, sie sind auch "Symbole für Verbindung und Kontakte".

Wenngleich diese Metaphorik bestechend originell erscheinen mag, ausgedacht hat sie sich nicht Horst Haag. Vielmehr führt der Architekt eine treppentheoretische Tradition fort, deren Wurzeln Jahrtausende zurückreichen. Die Stufe könne als Sinnbild so vieles repräsentieren, etwa das prozesshafte Überwinden, sie ermögliche "moralische Schritte, geistige, metaphysische Schritte vom weltlichen Unten zum transzendentalen Oben", beschreibt Sophie Jung, die sich im Architektur-Magazin "Baunetzwoche" intensiv mit der Kulturgeschichte der normierten Treppe auseinandergesetzt hat. "Der Mensch war immer das Maß der Treppe", ist hier zu erfahren. Allerdings konkurrierten über Jahrhunderte hinweg verschiedene Dogmen, welchem Aspekt beim Treppenbau der Vorrang einzuräumen sei: Repräsentanz oder Funktionalität? 

1675: Die Französische Treppenrevolution beginnt

Herrschende Meinung in der Antike war, dass ein Regent, der etwas auf sich hält, die Treppen vor den Augen seiner Untertanen gebieterisch und erhaben hinauf- und hinabschreiten können musste. Die Inszenierung des Steigeaktes nahm einen hohen Stellenwert ein, und dafür waren große Stufen praktisch, die jeden Schritt weit und kraftvoll erscheinen ließen. Die treppenhistorische Moderne begann laut Jung im Jahr 1675, und die zentrale Figur dabei war der Ingenieur und Mathematiker Francois Blondel, der mit seiner Blondel-Formel einen fundamentalen Paradigmenwechsel im Treppenkosmos einläutete. Sein revolutionärer Gedanke: Egal ob die Füße eines Adligen oder die eines Bettlers eine Treppe bestiegen, die Stufen dienten dabei immer der Funktion, Höhenunterschiede zu bezwingen. Daher sollten die Proportionen von Stufenhöhe und Auftrittsfläche "den allgemeinen Menschen zum Maßstab haben, ungeachtet seines Standes", fasst Jung die egalitäre Treppenphilosophie des Pragmatikers zusammen. Blondel "dekonstruiert den menschlichen Steigeakt und reduziert ihn auf ein Grundelement: den Schritt".

Im Gegensatz dazu scheint der praktische Nutzen von Stufen gegenüber ihrer metaphorischen Strahlkraft im offenbar sakral anmutenden Treppen-Haus der jungen Stuttgarter Vergangenheit eine eher untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Den Gestaltungswettbewerb für den "Treffpunkt Rotebühlplatz" gewann Architekt Horst Haag bereits 1979, zwölf Jahre vor der Fertigstellung. Genügend Vorlauf, könnte man meinen, um die Planung in allen Aspekten gründlich zu durchdenken und angesichts der vielen hundert Stufen im Innenbereich wirkt nicht unwahrscheinlich, dass dem Thema Treppen dabei eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil wurde. Und nun muss ausgerechnet hier nachgebessert werden: Denn eine Rauchsimulation kam zu dem Ergebnis, dass dem Gebäude Fluchtwege fehlen. 

Wie konnte das geschehen? Waren die Gedankengänge bei der Konzeption des Gebäudes zu sehr auf die Metaphysik des transzendentalen Treppensteigens fokussiert? Und wie kommt es, dass dieser Misstand erst 27 Jahre nach der Eröffnung aufgefallen ist? 

Die Stellungnahme der Stadt Stuttgart fällt wolkig aus. Sie erläutert, dass der "Treffpunkt Rotebühlplatz quasi ein überdachter Marktplatz" sei: "Seine Nutzung ist immer auch ein Spiegel der Zeit." Da der bisher vorhandene, "zwingend erforderliche Rettungsweg nur durch das Foyer" führe, seien diverse Veranstaltungen, vor allem in den oberen Stockwerken, bislang nur mit einem erheblichen Organisationsaufwand möglich gewesen: "Dies soll durch bauliche Veränderungen im Obergeschoss vermieden werden." 

Kopfschütteln bei der Deutschen Gesellschaft für Treppenforschung

Im Frühjahr wurden daraufhin drei provisorische Brandschutztreppen von außen an das Gebäude angebracht. Sie wirken grobschlächtig, massiv und brutal. Der Fahrradweg, den sie blockieren, musste ein Stück zur Seite weichen, und wird nun durch eine notdürftig dahingepinselte, gelbe Schlangenlinie markiert. Vor vielen Fenstern der zur Stadtseite gewandten Glasfront steht nun ein wuchtiges Gerüst, das zahlreichen Zimmern mit seinen dichten Gitterstäben einen Gefängniszellenflair verleiht. Ein betroffener Musiklehrer wägt differenziert Pro und Contra ab: "Es ist gut, dass wir jetzt fliehen können. Aber es ist halt potthässlich." Wie lange das Provisorium erhalten bleibt, steht noch in den Sternen: Nach Auskunft der Stadt wolle der Gemeinderat im Herbst darüber beraten, den "Treffpunkt Rotebühlplatz" zu modernisieren und zu erweitern. Erst wenn hier ein Grundsatzbeschluss feststeht, lasse sich absehen, wie lang die Übergangstreppe dort stehen wird. Das klingt nach einem mehrjährigen Prozedere. 

Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Treppenforschung kann da nur den Kopf schütteln. Er kannte das Stuttgarter Pompidoule noch gar nicht, berichtet Wolfgang Diehl im Gespräch mit Kontext, und dementsprechend wolle er sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. "Gerade geht überall die Angst um, verklagt zu werden", sagt er, und besonders beim Brandschutz werde daher viel nachgerüstet, wofür er auch Verständnis habe. Die Ausführung in Stuttgart wirkt auf ihn allerdings "sehr primitiv", da wären – auch provisorisch – "auf jeden Fall ansprechendere Varianten möglich gewesen". 

Bei dieser Einschätzung vernachlässigt der Experte aus Frankfurt allerdings, wie harmonisch sich die drei massiven Gerüste mit authentischem Baustellencharme in das Stadtbild von Stuttgart-Mitte einfügen, das maßgeblich von Kränen, Gruben, Baggern und Zäunen geprägt wird. Ein weiterer Pluspunkt für das Provisorium: Dem großen Vorbild aus Paris, dem Centre Pompidou, sah der "Treffpunkt" noch nie ähnlicher.


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3 Kommentare verfügbar

  • Peter Meisel
    am 27.03.2019
    Antworten
    Toll, da ist nichts hinzu zu fügen: "Dabei ist das Stuttgarter Kulturzentrum nichts anderes als eine miese Baustelle, die voll ins Stadtbild passt."
    Den Informierten wird der Laocoon als Warner vor dem Untergang der Stadt noch grausam in Erinnerung gebracht werden: "Stuttgart 21 wurde durch eine…
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