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Elitäres Trommeln

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Das Rutenfest gehört zu Ravensburg wie der Wasen zu Cannstatt. Jetzt haben Gymnasial-Direktoren beim traditionellen Schüler- und Stadtfest eine Leistungs-Regelung eingeführt: Ab 2019 darf nur noch im Trommlerkorps mitlaufen, wer in der Schule passable Noten hat.

O tempora, o mores! Haben sich vermutlich die Gymnasialdirektoren gedacht und angesichts des heutigen Abiturs für (fast) alle an die guten alten Zeiten gedacht, als sich Gymnasiasten noch als exklusive Bildungselite fühlen durften. Das hohe Niveau vermissend erwuchs der Wunsch, wenigstens einmal im Jahr, beim Rutenfest, wieder die feinen Unterschiede hervorzuheben. Es sei doch die Leistung, die bestimmt, wer zur Elite zählt.

Die Gymnasialdirektoren möchten in alleinmächtiger Bildungsaristokratie entscheiden, wer im Trommlerkorps der Gymnasien sowie bei den Landsknechten mitmachen darf. Lediglich bei einem besser als oder gerade noch befriedigenden Notendurchschnitt (besser als oder gleich 3,0) sowie einer besser als oder gerade noch guten Verhaltensnote (besser als oder gleich 2,0) solle der gemeine männliche Gymnasiast künftig noch die Chance haben, beim Rutenfest mittrommeln zu dürfen. Aber nur, wenn keine Verhaltenseinträge vorliegen. In jedem Fall möchten die Gymnasialschulleitungen sich ein Vetorecht vorbehalten.

Bisher wählen die Schüler unter sich die Teilnehmer fürs Trommlerkorps sowie für die Landsknechte. "So schreibt es die mittlerweile über 130 Jahre währende Tradition vor", heißt es auf der Homepage des Trommlerkorps. Dass die Gymnasiasten auf demokratischem Wege unter ihresgleichen die Besetzung regeln, ist den Philologen offensichtlich ein Dorn im Auge. Mark Overhage (Albert-Einstein-Gymnasium), geschäftsführender Schulleiter der Ravensburger Gymnasien: "Für die Schulen muss es die Möglichkeit geben, mitzureden, wer in der ersten Reihe stehen und die Gymnasien repräsentieren soll. Es obliegt daher der Schulleitung, aufgrund von Noten und Verhalten ein Veto gegen nicht geeignete Kandidaten einzulegen. Durch ein Veto ist dieser Schüler nicht mehr wählbar." Auch habe in der Vergangenheit das Engagement im Trommlerkorps beziehungsweise bei den Landsknechten bei manchen Schülern zu einer Verschlechterung der schulischen Leistungen bis hin zum nicht bestandenen Abitur geführt.

Komisches Fest

Das Rutenfest ist in Ravensburg sowas wie die "fünfte Jahreszeit". Jedes Jahr in der letzten Woche vor den Sommerferien feiern die Ravensburger fünf Tage lang mit zehntausenden BesucherInnen, Umzügen, Musik und Buden. Vermutlich geht das Spektakel auf das 15. Jahrhundert zurück, als Schüler mit ihren Lehrern in den Wald mussten, um die Ruten zur eigenen Züchtigung zu schneiden. Das Fest beginnt am Rutenfreitag: Der Oberbürgermeister übergibt Schulfahnen, Schärpen, Säbel, einen Tambourstab und einen Hirschfänger an das Trommlercorps der Gymnasien, nach einigen Kanonenschlägen wird angetrommelt und bis Dienstag gefeiert. (ana)

Kritiker, und davon gibt es nicht wenige, sehen darin nicht nur eine Bevormundung der Schüler, sondern auch einen Verstoß gegen demokratische Grundsätze. Denn im Stadtrecht ist verankert, dass Trommlerkorps und Landsknechte "sich demokratisch organisieren" sollen. Und dies hat Gründe. Schon einmal gab es eine Ausgrenzung bestimmter Schüler. In der NS-Zeit wurden Konfessionsschüler auf Betreiben der Nationalsozialisten und mit Unterstützung der Volksschulrektoren von den Trommlern ausgeschlossen, wie im Buch "Das Ravensburger Rutenfest in Geschichte und Gegenwart", von Helmut Binder, Alfred Lutz sowie Markus Glonnegger (1997) nachzulesen steht. Einen Widerspruch zum Stadtrecht sehen die Philologen aktuell nicht: "Die Schüler sollen sich nach wie vor demokratisch organisieren - innerhalb ihrer Gruppen."

Man züchte eine Generation von Duckmäusern heran, so der in Leserbriefen in der Lokalpresse gemachte Vorwurf an die Gymnasialrektoren. "Und so möchte man im 21. Jahrhundert allen Ernstes selbstständig denkende und handelnde Schüler und letztendlich mündige Staatsbürger erziehen?" Die Forderungen der Rektoren seinen "pädagogisch wertlos".

Beim Rutenfest gab es schon mal modernere pädagogische Ansätze. Andreas Reichle (geb. 1861), von 1904 bis zu seinem Tod 1921 Ravensburgs Oberbürgermeister, wandte sich 1905 gegen die am Rutenfest übliche öffentliche Preisverleihung an die besten Schüler. Sie sei "unmodern", stelle nur eine "Bloßstellung schwächer begabter Kinder" dar, und wurde daher abgeschafft. Auch heute noch gilt es allgemein in der Pädagogik als wenig sinnvoll, begabungsschwächere Schüler zu verhöhnen oder mit einem Belohnungssystem auszugrenzen. Zumal diese nicht unbedingt weniger fleißig lernen als schulische Überflieger. Durch ihre Ausgrenzung von der Teilnahme an den Trommlergruppen würde man begabungsschwächere Schüler nur demotivieren.

Overhage dagegen hat den primus inter pares im Blick: Es sei eine Auszeichnung, im Trommlerkorps oder bei den Landsknechten dabei zu sein. Und deshalb sei es gerechtfertigt, gute schulische Leistungen mit dieser Auszeichnung zu belohnen. Der Proteststurm blieb nicht aus. Zumal den Schülern der Wille der Rektoren einfach so per Brief aufgedrückt werden sollte. Nun fand ein Krisengipfel statt. "Sachlich, fair und ergebnisorientiert" sollen die Gespräche verlaufen sein, und blieben dennoch ohne Ergebnis, weil die Gymnasialrektoren nicht von ihrem Standpunkt abweichen wollten. Bestimmte Dinge müsse man eben "auch mal an die heutige Zeit anpassen", wird Overhage in der Lokalpresse zitiert. Man habe nichts gegen die Trommlergruppen, "viele Schüler lernen dadurch Ordnung und Disziplin". Aber weil die Trommler "die Schulfahnen durch Ravensburg tragen", könne es nicht angehen, dass sich die Rektoren wie bisher quasi überhaupt nicht in das Besetzungsprozedere einmischen.

Deshalb steht nach dem Krisengipfel nur eines fest: Jetzt im neuen Jahr gehen die Gespräche weiter. Für 2018 bleibt man noch beim alten Wahlmodus.

 

Dieser Text ist zuerst im Magazin "Blix" erschienen.


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7 Kommentare verfügbar

  • Arian Müller
    am 04.07.2022
    Antworten
    Ich bin schwul.
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