Herr Butterwegge, wenn Sie nicht gerade fürs höchste Staatsamt antreten, arbeiten Sie als Armutsforscher. Bekommen Sie mit, wie's den Betroffenen geht?
Zuletzt war ich auf der Weihnachtsfeier des Düsseldorfer Straßenmagazins "fifty-fifty" zu Gast. Dort habe ich Suppe ausgeteilt und mich mit den Obdachlosen unterhalten. Obwohl sie zum Teil sehr verbittert sind, sind viele von ihnen politisch reflektiert. Da wurde mir berichtet, dass sie heute viel stärker unter Repression leiden als vor Hartz IV oder zu jener Zeit, als der Sozialstaat noch intakt und das gesellschaftliche Klima noch nicht so sehr von Konkurrenzdenken und Eiseskälte geprägt war.
Laut der Bundesregierung geht es den Menschen in Deutschland so gut wie noch nie.
Diese Aussage wird dadurch nicht richtiger, dass die Kanzlerin sie ständig wiederholt. Zwar stimmt es, dass sich das Privatvermögen vermehrt. Aber es konzentriert sich in wenigen Händen und die hohen Gewinne für wenige sind nur wegen niedriger Löhne für viele möglich. Jeder vierte Beschäftigte arbeitet im Niedriglohnsektor, also für weniger als 9,30 Euro brutto die Stunde. Dort landen nicht bloß Menschen, die nichts gelernt haben, die faul waren oder die sich in der Schule nicht genug angestrengt haben. Fast drei Viertel haben eine abgeschlossene Berufsausbildung, mehr als jeder zehnte sogar einen Hochschulabschluss. Ich muss das so deutlich sagen: Deutschland steht vor einer sozialen Zerreißprobe. Und die Angst vor dem sozialen Abstieg führt dazu, dass Menschen in der Mittelschicht und dem Kleinbürgertum sich politisch nach rechts wenden.
Jetzt profitiert davon mit der AfD ausgerechnet eine Partei, die mit ihrer Steuerpolitik und Streichungen von Sozialleistungen Reiche begünstigen und Arme noch ärmer machen will. Das können Letztere doch nicht wollen.
Ja, gewiss. Trotzdem erweckt die Partei den Eindruck, das Sprachrohr der sogenannten kleinen Leute zu sein. Nicht nur bei sozial Benachteiligten oder Unterprivilegierten gibt es verstärkt das Gefühl, vernachlässigt zu werden. Jetzt wird von der extremen Rechten ein vermeintlicher Innen-außen-Gegensatz konstruiert, besonders bei dem, was fälschlicherweise Flüchtlingskrise genannt wird. Der verquere Vorwurf lautet: Für uns werden keine Wohnungen gebaut, aber für Flüchtlinge. Wir haben keine Arbeitsplätze, aber die Flüchtlinge will man möglichst schnell in den Arbeitsmarkt integrieren. So scheint es wenigstens. In Wirklichkeit ist es der extreme Gegensatz von Arm und Reich, der die Probleme verursacht, und nicht die vermehrte Fluchtmigration, auch wenn sie Kosten verursacht und Ressourcen beansprucht. Geld gäbe es genug für alle – nur konzentriert es sich viel zu stark auf wenige Reiche und Hyperreiche.
Wie kommt es denn, dass die ungleiche Vermögensverteilung zu keinem Aufschrei in der Öffentlichkeit führt?
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markus uebel
am 23.05.2019