KONTEXT:Wochenzeitung
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"Die Ungerechtigkeit schreit zum Himmel"

"Die Ungerechtigkeit schreit zum Himmel"
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Bei der Wahl zum Bundespräsidenten hätte Christoph Butterwegge, Kandidat der Linken, gerne eine Ruck-Rede gehalten. Das darf er nicht. In Kontext erläutert der Armutsforscher, warum er Deutschland vor einer "sozialen Zerreißprobe" sieht, und was dagegen getan werden müsste.

Herr Butterwegge, wenn Sie nicht gerade fürs höchste Staatsamt antreten, arbeiten Sie als Armutsforscher. Bekommen Sie mit, wie's den Betroffenen geht?

Zuletzt war ich auf der Weihnachtsfeier des Düsseldorfer Straßenmagazins "fifty-fifty" zu Gast. Dort habe ich Suppe ausgeteilt und mich mit den Obdachlosen unterhalten. Obwohl sie zum Teil sehr verbittert sind, sind viele von ihnen politisch reflektiert. Da wurde mir berichtet, dass sie heute viel stärker unter Repression leiden als vor Hartz IV oder zu jener Zeit, als der Sozialstaat noch intakt und das gesellschaftliche Klima noch nicht so sehr von Konkurrenzdenken und Eiseskälte geprägt war.

Laut der Bundesregierung geht es den Menschen in Deutschland so gut wie noch nie.

Diese Aussage wird dadurch nicht richtiger, dass die Kanzlerin sie ständig wiederholt. Zwar stimmt es, dass sich das Privatvermögen vermehrt. Aber es konzentriert sich in wenigen Händen und die hohen Gewinne für wenige sind nur wegen niedriger Löhne für viele möglich. Jeder vierte Beschäftigte arbeitet im Niedriglohnsektor, also für weniger als 9,30 Euro brutto die Stunde. Dort landen nicht bloß Menschen, die nichts gelernt haben, die faul waren oder die sich in der Schule nicht genug angestrengt haben. Fast drei Viertel haben eine abgeschlossene Berufsausbildung, mehr als jeder zehnte sogar einen Hochschulabschluss. Ich muss das so deutlich sagen: Deutschland steht vor einer sozialen Zerreißprobe. Und die Angst vor dem sozialen Abstieg führt dazu, dass Menschen in der Mittelschicht und dem Kleinbürgertum sich politisch nach rechts wenden.

Jetzt profitiert davon mit der AfD ausgerechnet eine Partei, die mit ihrer Steuerpolitik und Streichungen von Sozialleistungen Reiche begünstigen und Arme noch ärmer machen will. Das können Letztere doch nicht wollen.

Ja, gewiss. Trotzdem erweckt die Partei den Eindruck, das Sprachrohr der sogenannten kleinen Leute zu sein. Nicht nur bei sozial Benachteiligten oder Unterprivilegierten gibt es verstärkt das Gefühl, vernachlässigt zu werden. Jetzt wird von der extremen Rechten ein vermeintlicher Innen-außen-Gegensatz konstruiert, besonders bei dem, was fälschlicherweise Flüchtlingskrise genannt wird. Der verquere Vorwurf lautet: Für uns werden keine Wohnungen gebaut, aber für Flüchtlinge. Wir haben keine Arbeitsplätze, aber die Flüchtlinge will man möglichst schnell in den Arbeitsmarkt integrieren. So scheint es wenigstens. In Wirklichkeit ist es der extreme Gegensatz von Arm und Reich, der die Probleme verursacht, und nicht die vermehrte Fluchtmigration, auch wenn sie Kosten verursacht und Ressourcen beansprucht. Geld gäbe es genug für alle – nur konzentriert es sich viel zu stark auf wenige Reiche und Hyperreiche.

Wie kommt es denn, dass die ungleiche Vermögensverteilung zu keinem Aufschrei in der Öffentlichkeit führt?

Ein Punkt ist sicher, dass eine große Mehrheit die Bundesrepublik immer noch für das Land der Sozialen Marktwirtschaft hält. Das ist zwar bloß ein Kosename für den Finanzmarktkapitalismus, und der frühere Sozialversicherungsstaat wird immer mehr zu einem Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat. Aber wer selbst nicht am Abgrund lebt, denkt sich, dass es so schlimm hier eigentlich gar nicht ist. Dann nimmt man das Problem der Spaltung in Arm und Reich oft überhaupt nicht wahr. Falls doch, gilt der Reichtum oft als Belohnung für Anstrengung, Fleiß und Leistung, Armut hingegen als gerechte Strafe für Drückebergerei und Faulenzertum leistungsunwilliger Sozialschmarotzer, die an ihrer Misere selbst schuld sind.

Gab es diese Denke nicht schon immer?

Der verstärkte Einfluss des Neoliberalismus seit der Jahrtausendwende und die Einführung von Hartz IV haben ihm noch mehr Wirkungsmacht beschert. Typisch ist die Art, wie die Armen heute verachtet und verächtlich gemacht werden. Das zeigt sich schon daran, wie würdelos "Hartzer" – diese Bezeichnung allein ist schon eine Beleidigung – im Nachmittagsprogramm der Privatsender dargestellt werden. Und leider hat diese Form des Fernsehens große Auswirkungen auf breite Schichten der Bevölkerung und ihr Weltbild. Übrigens ist die Agenda 2010 medial vorbereitet worden. Bevor sie entstand, gab Gerhard Schröder der "Bild" im April 2001 ein Interview, das die Zeitung mit den fetten Balken "Es gibt kein Recht auf Faulheit" betitelt hat. So wurden die später durch Hartz IV geschurigelten Langzeiterwerbslosen so dargestellt, als hätten sie nichts anderes verdient, als die Daumschrauben angelegt zu bekommen.

Und kriegt man das wieder raus aus den Köpfen?

Das ist ein riesiges Problem. Dafür müsste schon in den Schulen, besonders in der politischen Bildung vermittelt werden, dass Armut und Reichtum nicht das Ergebnis individueller, persönlicher Leistungen oder Fehlleistungen sind. Man dürfte den Betroffenen nicht länger die Schuld für ihr Schicksal in die Schuhe schieben. Natürlich gibt es Fälle von Leuten, die nicht mit Geld umgehen können oder suchtkrank sind. Das ist aber nicht die Hauptursache für Armut in einer reichen Gesellschaft.

Woran liegt es dann?

Die Mehrheit dieser Menschen wird in Strukturen hineingeboren, aus denen man einfach nicht wieder herauskommt, weil es sich um einen Teufelskreis handelt. Das fängt schon damit an, dass die Bildungschancen sehr stark vom Einkommen des Elternhauses abhängen. Beispiel Hartz-IV-Bezug: Aus armen Kindern werden arme Erwachsene, die dann wiederum arme Kinder bekommen. Dann wachsen sie zwangsläufig in die Altersarmut hinein, besonders wenn das Rentenniveau per Gesetz sinkt und die Altersvorsorge privatisiert wird. Es handelt sich dabei nicht etwa um ein Randphänomen, sondern um ein Phänomen, das heute Millionen von Menschen in Deutschland betrifft. 15,7 Prozent der Bevölkerung sind laut Daten des Statistischen Bundesamtes schon jetzt armutsgefährdet.

Hier in Stuttgart hat sich jüngst ein <link http: www.kontextwochenzeitung.de politik zu-wenig-kohle-in-der-tasche-4151.html internal-link-new-window>Bündnis Grundeinkommen gegründet. Sie halten davon wenig.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) ändert nichts an der extrem ungleichen Vermögensverteilung, also der strukturellen Spaltung der Gesellschaft. Außerdem widerspricht es meinem Gerechtigkeitsempfinden, wenn ein Multimillionär genauso viel Unterstützung vom Staat bekommen soll wie ein Müllwerker oder die Bezieherin einer Minirente. 1000 Euro im Monat meinetwegen, wie Götz Werner fordert. Der dm-Gründer will das BGE über eine auf mindestens 50 Prozent angehobene Mehrwertsteuer finanzieren und alle Steuern abschaffen, die ein Unternehmer wie er zahlen muss. Das würde vor allem die Armen treffen, die ihr ganzes Einkommen für den Lebensunterhalt brauchen. Götz Werner hingegen würde nicht bloß sein Milliardenvermögen behalten, sondern müsste auch keine Einkommen-, Kapitalertrag-, Gewerbe- oder Körperschaftsteuer mehr zahlen.

Neben der Werner-Variante gibt es durchaus verschiedene Modelle, wie ein BGE aussehen könnte. Es geht doch um eine gesicherte Grundlage für ein würdevolles Leben.

Gut, das stimmt. Aber mein Vorwurf an die BGE-Befürworter ist auch nicht, dass sie alle wie Götz Werner ein ungerechtes System anstreben. Katja Kipping, die Vorsitzende der Linkspartei, und andere haben zweifellos ganz andere Vorstellungen. Die würden jedoch wohl kaum verwirklicht werden, sondern eher die von neoliberalen Ökonomen wie Thomas Straubhaar aus Hamburg. Der findet das BGE toll, weil man dann keinen Kündigungsschutz, keinen Flächentarifvertrag und keinen Mindestlohn mehr bräuchte. Und am Ende hätten wir einen noch größeren Niedriglohnsektor. Profitieren würden davon Großunternehmer und Spitzenmanager, die derzeit mit dem fadenscheinigen Argument die Werbetrommel für das Grundeinkommen rühren, der Digitalisierungsprozess führe zum Ende der Arbeitsgesellschaft.

Eine soziale Grundsicherung wollen Sie offensichtlich auch.

Ja, aber eine, die dem Namen wirklich gerecht wird. Sie muss bedarfsgerecht, armutsfest und repressionsfrei sein, also ohne die Betroffenen entwürdigende Sanktionen auskommen. Statt den Sozialversicherungsstaat, wie wir ihn kannten, mit Hilfe eines steuerfinanzierten Grundeinkommens zu zerschlagen, muss man ihn gezielt weiterentwickeln und durch die Einbeziehung solch finanzstarker Gruppen wie der Selbstständigen, Freiberufler, Beamten, Abgeordneten und Minister auf ein festes finanzielles Fundament stellen. Alle Einkommen sollten verbeitragt werden, also auch Kapitaleinkünfte, Zinsen, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachterlöse. Und die Beitragsbemessungsgrenze muss auf- oder stark angehoben werden, damit die Solidarität nicht bei einem mittleren Einkommen aufhört. Außerdem sind Kapitaleigentümer, Vermögende und Spitzenverdiener wieder stärker zu besteuern.

Ist die aktuelle Steuerpolitik wirklich so schlimm, wie Sie sie darstellen?

Die Ungerechtigkeit schreit zum Himmel, wenn 36 Multimilliardäre in Deutschland so viel Vermögen besitzen wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung, mehr als 40 Millionen Menschen. Und gerade die Hyperreichen wurden von den letzten Bundesregierungen systematisch begünstigt, um nicht zu sagen "überprivilegiert", wie sich die Karlsruher Verfassungsrichter bezüglich der Firmenerben ausdrückten. Wenn eine alleinerziehende Mutter im Hartz-IV-Bezug in den Laden geht und Windeln für ihr Kind kauft, zahlt sie darauf 19 Prozent Steuern. Wenn sich ein Hyperreicher ein Aktienpaket für 30 Millionen Euro kauft, zahlt er darauf keinen Cent Steuern. Zu den Begünstigten gehören beispielsweise Susanne Klatten und Stefan Quandt, das reichste Geschwisterpaar unseres Landes, mit einem Privatvermögen von 30 Milliarden Euro. Ihnen gehört fast die Hälfte von BMW und allein diese Aktien brachten ihnen letztes Jahr 994,7 Millionen Euro an Dividende ein.

Sehen Sie bei den aktuellen politischen Verhältnissen eine Chance, daran etwas zu ändern?

Ja. Ich hoffe, dass sich die von Martin Schulz entfachte Aufbruchstimmung in der SPD nicht als Strohfeuer erweist. Eine wirkliche, linke Alternative für Deutschland – der Name selbst ist ja genial – wäre eine "Mehrheit diesseits der Union", wie sie Willy Brandt vorschwebte. Und wenn Schulz bis drei zählen kann, weiß er, dass er nur mit der Linken und den Bündnisgrünen Kanzler werden kann. Wir brauchen eine Bundesregierung, die Themen wie die soziale Frage, Steuergerechtigkeit und die Bekämpfung von Armut in den Mittelpunkt rückt. Dann könnte ich mir gut vorstellen, dass hier eine ungeheure Dynamik, eine neue soziale Bewegung entsteht.

Und das klappt mit der Agenda-SPD und den Kretschmann-Grünen?

Leider sieht es so aus, als ob Schulz um die Mitte werben will. Aber fast alle Parteien drängen in die Mitte. Das ist der falsche Ansatz, um Wahlen zu gewinnen. Brandt hat das seinerzeit anders gemacht. Er hat versucht, das politische Spektrum insgesamt nach links zu verschieben. Das hat die Leute begeistert und mitgerissen, weshalb die SPD nach dem "Willy-Wahlkampf" 1972 mit 45,8 Prozent auch ihr bestes Wahlergebnis aller Zeiten eingefahren hat. Das müsste sie jetzt wieder tun: Mut beweisen und Rot-Rot-Grün wagen.

Wenn Sie jetzt am Sonntag die Gelegenheit haben, vor einem großen Publikum zu sprechen...

Die habe ich leider nicht. Die Bundesversammlung wählt den Präsidenten ohne Aussprache. Norbert Lammert hält eine Rede als Hausherr und Versammlungsleiter, danach wird gewählt und schließlich die Nationalhymne gesungen. Da hätte ich gerne eine Ruck-Rede gehalten.

Dann machen Sie es doch an dieser Stelle.

Ich halte es mit Antonio Gramsci, dem Begründer der Kommunistischen Partei Italiens. Der hat sich als Pessimist des Verstandes und als Optimist des Herzens bezeichnet. Wenn ich mir die Weltlage, Krisen, Kriege und Bürgerkriege angucke, befürchte ich, dass wir auf einen neuen Kalten Krieg zusteuern und dass Not und Elend auf der Welt zunehmen. Aber wenn man sich ins Private zurückzieht, weil man glaubt, chancenlos zu sein, wird man auch nichts verändern. Ich hege aber die Hoffnung, dass wir das Schlüsselproblem der sozialen Ungerechtigkeit lösen. Da bekenne ich mich als Weltverbesserer und Gutmensch. Soll ich meinen Kindern eine schlechtere Welt hinterlassen? Nein, ich will sie im Kleinen gerechter, sozialer, solidarischer und friedlicher machen. Vielleicht gelingt das den Kindern später im globalen Maßstab.

 

Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität Köln gelehrt. Zuletzt sind seine Bücher "Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?" (2015), "Kritik des Neoliberalismus" (2016) und "Armut" (2016) erschienen. Am 12. Februar bewirbt er sich als Kandidat der Partei Die Linke um das Amt des Bundespräsidenten. Damit habe er, sagt der 66-Jährige, zumindest mehr Aufmerksamkeit für sein Thema bekommen als als Wissenschaftler.


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25 Kommentare verfügbar

  • markus uebel
    am 23.05.2019
    Antworten
    immer das rumgemaule an den aktionären, jeder kann aktien kaufen und ich bin auch niedriglöhner und kaufe mir dann mal ein paar aktien und die sollen dann wieder besteuert werden ... wir haben schon genug doppelt und dreifachbesteuerung (einkommen wird ja beim ausgeben wieder besteuert, und und und…
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Ausgabe 709 / Bedeckt von braunem Laub / bedellus / vor 1 Tag 1 Stunde
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