Im Big Apple steckt der Wurm. Er hat sich reingebohrt, fast über Nacht, scheinbar aus dem Nichts. Manches spricht dafür, dass er sich einnisten wird. Auch anderswo, jenseits von Manhattan, der Wall Street und des Landes des unbegrenzten Kapitalismus – überall dort, wo seit Langem der Wurm drinsteckt und mächtig was faul ist. Auch bei uns.
Noch sind die Aktionen junger Menschen im fernen und doch so nahen New York nicht klar definiert, spontan – und allzu emotional, wie in hiesigen Gefilden der protesterfahrene Exministerpräsident Stefan Mappus und andere stramme Konservative wohl sagen würden. Noch meinen staatliche US-Behörden, durch martialisches Eingreifen und Kriminalisieren der Demonstranten Bürgerruhe erzwingen zu können (worin wiederum der Obengenannte auch einschlägige Erfahrungen hat). Und noch wissen die Medien, auch in Deutschland, nicht so recht, wie sie mit diesem buchstäblich jungen Protest umgehen sollen.
Das Motto klingt für viele ja auch verstörend, romantisch, weltfremd: "Occupy Wall Street – Besetzt die Wall Street!" Den New Yorker Finanzdistrikt mit seinen großen Banken und der weltgrößten Börse besetzen, ausgerechnet den geld-, also sinnstiftenden Ort, der unsere Welt inzwischen im Innersten zusammenhält? Ja, genau darum geht es den jungen Menschen, die seit etwa drei Wochen dort demonstrieren, gegen die Gier und Macht der Finanzbranche, gegen soziale Ungerechtigkeit, gegen Armut. Und ja, sie sind zum Großteil vielleicht romantische Weltverbesserer, junge Wilde, die sich im Pathos des Protestes teilweise in der Tradition der großen Demonstrationen in Tunesien, Ägypten, Spanien und Griechenland sehen.
Das Lüftlein wächst sich aus zum richtigen Wind
Doch "luftig", wie die New York Times die Bewegung "frustrierter" junger Menschen zunächst verniedlichend bezeichnet hat, wird dieser Protest nicht bleiben. Dass die Polizei 700 Demonstranten kurzzeitig festnahm, weil sie über die Brooklyn-Brücke marschiert waren und den Verkehr für Stunden lahmgelegt hatten, hat die Protestler nicht abgeschreckt. Uncle Sam ist verdutzt und ziemlich alarmiert: So viel Aufsässigkeit, laute Kritik und Demonstration gab es in den USA seit Langem nicht mehr. Inzwischen haben sich die Proteste auf andere US-Städte ausgedehnt. Dass Filmprominenz, Susan Sarandon oder Michael Moore die Camps besuchen, steigert die öffentliche Aufmerksamkeit. Was manche noch als New Yorker Lüftlein sehen wollen, ist längst dabei, sich zu einem veritablen Wind auszuwachsen.
Und der bläst nicht nur den Amerikanern ins Gesicht. Die Prognose dürfte nicht abwegig sein: Was in New York jetzt entstanden ist, wird an vielen und immer mehr Schauplätzen und Symbolorten dieser postmodernen Finanzwelt aufbrechen. Auch in Deutschland, wo erste Solidaritätsdemos bereits geplant werden und wo, wie man weiß, über soziale Netzwerke, Blogs oder Twitter Bewegungen auch über Nacht entstehen können. Sage niemand, dass all dies überraschend käme, sozusagen aus heiterem Himmel. Wir alle wissen es längst, wenn wir ehrlich sind, wir haben es nur immer wieder verdrängt, kaschiert und uns selbst davon abgelenkt und ablenken lassen: So kann dieser kapitale Irrsinn nicht weitergehen, ein großer Teil der Jugend wird dieses groteske Größenwahn-Spiel auf Dauer so nicht mehr mitspielen.
Eine Schein-Welt ist der turboüberdrehte Kapitalismus schon seit Langem. Geld regiert die Welt: Was der Volksmund jahrelang dahinplapperte, als traditionelle Metapher, ist längst Realität und Lebensmaxime. Beileibe nicht nur bei Boni-gierigen Bankern, sondern mitten in dieser Gesellschaft. Mehr Scheine als Sein, Besitz als Maß aller Dinge, Reichtum als oberstes Existenzziel, das Immer-mehr, der finanzielle Mehrwert als Sinn des Lebens – all diese Prinzipien haben sie hervor- und emporgebracht, sozusagen als kapitalistisches Massenprodukt: die Ellenbogenspitzen dieser Gesellschaft, die skrupellosen Überholer am Arbeitsplatz, die machtreichen Möchtegern-Manager, die geldtriebgesteuerten Angeber, die Statusfetischisten, die Hyperegomanen oder die saturierten Sesselfurzer.
Die soziale Kälte erreicht auch die Inseln der Seligen
Wer nicht wahrnimmt, dass die viel beklagte soziale Kälte eine geradezu zwangsläufige Folge eines ausufernden Kapitalismus ist, hat sich auf eine Insel der Seligen weggeträumt. Doch gerade dort lässt sich diese Entwicklung mitunter exemplarisch studieren. Ein nur scheinbar exotisches Beispiel: am nordwestlichen Rand Europas, auf der Inselgurppe der Färöer, war die soziale Welt lange Zeit in Ordnung. Die bunten Holzhäuser in den kleinen Inselorten und draußen auf dem weiten Land standen für jeden buchstäblich offen. Es gab so gut wie keine Klingeln, wer zu Besuch kam, öffnete einfach die Tür, trat ein und wurde überaus freundlich begrüßt. Auch Fremde. Inselpolizisten hatten wenig zu tun, an den letzten richtigen Kriminalfall konnten sich nur noch die Älteren erinnern. Es herrschte sozialer Frieden.
Bis eines Tages Finanzhaie die Insel betraten. Sie kamen aus Frankfurt und Kopenhagen, von dem Anlageunternehmen Phoenix, traten in die offenen Häuser ein und versprachen Renditen in schwindelerregenden Höhen. Die ersten Insulaner ließen sich locken, darunter vermögende Leute, aber auch Handwerker und Kleinunternehmer. Die smarten Werber vom Festland verstanden ihr Geschäft. Immer mehr Verträge schlossen sie ab, sogar eine ganze Kleinstadt ließ sich auf die scheinbar gewinnträchtigen Geschäfte ein. "Ein Mann, ein Wort", auf dieses alte Prinzip hatten viele auf der Insel vertraut. Ein fataler Fehler.
Als 2005 im fernen Frankfurt die Wertpapierhandelsbank Phoenix pleiteging und deutsche Staatsanwälte einen der größten Fälle von Anlagebetrug mit weltweit 30 000 Opfern zu ermitteln begannen, brach die heile Welt auf den Färöer zusammen. Misstrauen machte sich breit, für die geprellten Anleger gab es Argwohn, Häme und Spott, und diese schwiegen aus Scham. Viele Bürger begannen, ihre Haustüren abzuschließen und Klingeln zu montieren. Das soziale Klima war vergiftet, in kürzester Zeit.
Bizarre Auswüchse einer absoluten Machtgier
Inzwischen erweisen sich manche Realitäten und Strategien innerhalb des kapitalistischen Systems als so grotesk, dass sie für immer mehr Menschen weder rational noch emotional nachzuvollziehen sind: wenn etwa Hedgefonds auf fallende Kurse wetten oder auf den Fall des Euro, oder wenn Banken, die mit staatlichen Geldern vor der Pleite bewahrt wurden, auf den Bankrott ganzer Staaten spekulieren. Das sind bizarre Auswüchse einer absoluten Machtgier und einer realen, geradezu absolutistischen Macht.
Die Politik reagiert darauf in der Wahrnehmung vieler Bürger eher ohnmächtig und hilflos. Dass konservative Chefdenker wie der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher jetzt der Gedanke umtreibt, dass die Linken mit ihrer Kapitalismuskritik oder gar Karl Marx selbst recht haben könnten, zeigt, wie ernst – oder dramatisch – die Lage ist. Doch durch einen intellektuellen Diskurs allein lässt sich das gravierende Problem gewiss nicht lösen.
Gerade junge Menschen wissen es, und sie fühlen es: Soziale Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Empathie kann man nicht kaufen, Gier nicht abstoßen wie faule Aktien, und bei sozialer Kälte hilft kein Milliarden-Rettungsschirm für Banken. Es muss sich grundlegend etwas ändern. Und ganz konkret. Bevor die Auswüchse des Kapitalismus auch unsere Kinder fressen, proben diese die Revolution. In New York verkleiden sich Demonstranten als Zombies, die Geld fressen. Schein-Tote in einer Schein-Welt.
Warum unter Protest nur Bahnhof verstehen?
Es geht um viel, nein: es geht um alles, ums Ganze, um die Zukunft dieses Systems und der Menschen, die darin zunehmend verarmt und verkümmert sind, im real-wirtschaftlichen wie im emotional-menschlichen Sinne. Es geht darum, wieder ganz zu sein, als Gesellschaft und Individuum. Immer mehr junge Menschen wird es geben, die dieses System radikal hinterfragen und nicht mehr bereit sind, das Gefühl von sozialer Kälte und innerer Leere mit kapitalen Selbstlügen zu übertünchen. Sie suchen nach einem neuen, anderen Sinn des Lebens, statt als kapitalistische Karikaturen herumzulaufen. Dahinter stehen Sehnsüchte, tiefe Sehnsüchte, die eine politische Brisanz in sich tragen – wenn sie nicht erfüllt werden. Und genau darin steckt das Potenzial zu dem, was die jungen Demonstranten in der Wall Street jetzt schon betonen: "Die Revolution beginnt zu Hause."
Sicherlich sind die sozialen Kontraste und der existenzielle Druck in den USA oder in Spanien derzeit (noch) größer als in Deutschland. Doch in seinem inhaltlichen Kern kann und wird dieser junge Protest absehbar als Welle über den Großen Teich schwappen. Direkt vor die eigene Haustüre. Gut möglich, dass etliche junge Menschen in Stuttgart demnächst ihre Eltern fragen, warum sie unter Protest nur Bahnhof verstehen. Und dass sie sich bei einer ganz neuen Initiative engagieren: den Menschenschützern.
Vielleicht wird sich das Motto der jungen Aktionen und Demonstrationen bald ändern, in einem grundsätzlichen, damit radikalen Sinne. "Besetzt das Leben!" – mit anderen Werten als Profit und mit dem wahren Kapital: Mensch sein.
5 Kommentare verfügbar
Demokratie? Aber immer!
am 16.10.2011Noch treffender, zumindest ehrlicher, wäre folgender Aufdruck auf den abgebildeten Tragetaschen: "Sei ein Rindvieh -…