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Mohamads erste Worte

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Datum:

Rund ein Drittel der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sind minderjährig – und damit schulpflichtig. Das erfordert Improvisation, weil vielerorts Lehrer fehlen. Einigen Grundschulen sichern die Kinder aber auch das Überleben.

Bevor der Unterricht beginnt, vergehen erst mal ein paar Minuten. Monique Günter steht vor der Tafel und wartet darauf, dass ihre Schüler eintreffen. Erhan, neun Jahre alt, trudelt als Erster ein, gefolgt von Ricardo, auch neun, und Mohamad, elf. Fehlt nur noch dessen Schwester Vivien, die Mohamad aus dem Mathe-Unterricht holen muss. Solche Verzögerungen sind normal, denn die Flüchtlingsklasse der Grundschule Engen im Kreis Konstanz kommt nicht jeden Tag zusammen. Wer sich wo und um welche Uhrzeit versammeln muss, ist für die Lehrer nicht einfach, geschweige denn für die Kinder, von denen viele zum ersten Mal eine Schule besuchen.

Als es schließlich losgeht, fragt Monique Günter zunächst nach dem Datum. Rituale sind wichtig, das weiß die Lehrerin, die eine spezielle Fortbildung im Unterrichten von Flüchtlingskindern besucht hat. Mohamad versucht es als Erster. "Donnerstag", ruft er und überlegt kurz beim Datum. Für ihn ist die Schule besonders schwierig, denn sein Vater, ein Syrer, kann ihm selbst auf Arabisch nicht helfen. Er war schon in der Heimat ein Analphabet. Doch Mohamad schafft es. Als er das richtige Datum nennt, springt er vor Freude vom Stuhl. "Ganz toll", sagt Monique Günter. 

In der VKL, der Vorbereitungsklasse, steht die deutsche Sprache im Vordergrund: Begrüßungsfloskeln, Buchstaben, Zahlen, Alltagsgegenstände. Und immer wieder die richtigen Artikel. Wenn ein Satz richtig gesagt wurde, schreibt ihn Günter an die Tafel – einmal in Druckschrift, einmal in Schreibschrift. Auch so eine komplizierte Sache, mit der die Acht- bis Elfjährigen noch ihre Probleme haben. Andere Wörter sitzen ganz schnell. "Oktoberfest" kann Mohamad akzentfrei aussprechen, auch wenn das nicht auf dem Stundenplan steht. Als die Farben wiederholt werden, ist er sich dagegen nicht mehr so sicher. "Ich weiß nicht", sagt er verlegen. "Scheiße." Die Lehrerin schaut entsetzt: "Das hab ich dir aber nicht beigebracht."

Viermal pro Woche kommt die Flüchtlingsklasse, in der Mohamad und seine Mitschüler büffeln, für jeweils zwei Stunden zusammen. Die restliche Zeit verbringen die Kinder in regulären Klassen, lernen das Einmaleins, Fahrradregeln und die ersten englischen Sätze – typischer Grundschulalltag. Damit sie dem normalen Lehrplan folgen können, muss zunächst die Sprache sitzen. Deshalb spricht Monique Günter alle Sätze langsam und deutlich und wiederholt sie mehrmals. Als VKL-Lehrerin hat sie sich freiwillig gemeldet, ein Luxus, über den ihre Kollegen in größeren Städten nicht verfügen. Dort gibt es häufig so viele Asylbewerber, dass auch Lehrer ohne besondere Ambitionen oder Kenntnisse eine VKL unterrichten müssen.

Doch auch in Engen, einer Kleinstadt mit 10 000 Einwohnern, mussten die Lehrer improvisieren. Um alle Flüchtlingskinder unterzubringen, haben sie ihren Konferenzraum in ein dauerhaftes Klassenzimmer umgewandelt. Nun hängen dort Papierbuchstaben von der Decke; in den Regalen stapeln sich Sachbücher und ein Kuscheltier, das den Kindern als Maskottchen dient. An der Tafel kleben Piktogramme, die die Grundschüler an ihre Aufgaben erinnern: Tafel putzen, Blumen gießen, nach dem Unterricht die Stühle hochstellen. Es sind die kleinen Dinge, die Vertrauen schaffen – auch das hat Günter in ihrer Fortbildung gelernt.

Laut deutschem Recht sind alle Kinder schulpflichtig, egal welche Nationalität oder welchen Aufenthaltsstatus sie besitzen. Dadurch sollen sie möglichst schnell integriert werden und Anschluss zu Gleichaltrigen finden. Laut offiziellen Prognosen des Innenministeriums werden dieses Jahr über 800 000 Menschen Asyl in Deutschland beantragen. Wie viele davon minderjährig sind, lässt sich nur grob schätzen, vermutlich rund ein Drittel. 

Ab wann sie zur Schule gehen, ist je nach Bundesland unterschiedlich. In Thüringen etwa beginnt die Schulpflicht nach spätestens drei Monaten; in Baden-Württemberg erst nach sechs Monaten. Dadurch sollen die Kinder Zeit haben, sich in der neuen Umgebung einzugewöhnen. Doch dieses Verfahren sehen manche Bildungsexperten kritisch. Zum Beispiel die gemeinnützige Mercator-Stiftung, die eine Studie zu Flüchtlingen in Schulen durchgeführt hat. "Das Verfahren kann derzeit mehrere Monate, teilweise länger als ein Jahr dauern", moniert Studienautorin Mona Massumi. "Auch wenn in diesem Zeitraum ein Recht auf Schulbesuch besteht, sind die Kinder und Jugendlichen häufig faktisch vom Schulbesuch ausgeschlossen." Als Übergangslösung sollten daher außerschulische Angebote geschaffen werden.

In den Schulen selbst ist die Lage recht unterschiedlich. Vielerorts gibt es seit Jahrzehnten Vorbereitungsklassen. Unterrichtet werden dort nicht nur Asylbewerber, sondern auch Kinder aus EU-Ländern, die noch nicht gut genug Deutsch sprechen, um eine Regelklasse zu besuchen. Andere haben ihre Angebote in den vergangenen Jahren zurückgefahren oder nie welche aufgebaut. Von dem rasanten Anstieg der Schülerzahlen fühlen sie sich nun überrumpelt. 

So schrieb Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) im Sommer einen Brief an Angela Merkel, in dem er eine Aussetzung der Schulpflicht für Flüchtlinge forderte. Die Kapazitäten seien erreicht, und er wolle "kein weiteres Heidenau", schrieb Bausewein. In dem sächsischen Ort ist es wiederholt zu fremdenfeindlichen Ausschreitungen gekommen.

Im beschaulichen Engen kann Schulleiterin Inge Duffner mit solchen Gedankenspielen nichts anfangen. Aber auch sie wünscht sich mehr Unterstützung durchs Land. "Wir sind am Limit", sagt Duffner. "Unsere Personalsituation ist miserabel, wir müssen uns um Inklusion von Menschen mit Behinderung kümmern, und die Vorbereitungsklassen werden immer größer." 

Für den Arbeitsmarkt bedeutet die neue Situation indessen etwas Positives: In der ganzen Bundesrepublik werden händeringend Lehrer gesucht. Baden-Württemberg etwa hat seit dem Schuljahr 2014/15 zusätzlich 562 Stellen geschaffen. Demnächst sollen sogar Pensionäre rekrutiert werden, um den Bedarf zu decken. Im einwohnerstärksten Bundesland Nordrhein-Westfalen will die Landesregierung 2625 neue Lehrer einstellen, davon 900 für die Sprachförderung. Die nächste Herausforderung ist es nun, die Stellen auch zu besetzen. Viele Lehrer sind in der Vergangenheit abgewandert oder haben umgeschult, weil die Jobs fehlten.

Das alles reicht noch nicht, mahnt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Bei einem Pressetermin Anfang Oktober forderte die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe deutlich mehr Personal für Kindergärten, Schulen und Hochschulen. "Das Menschenrecht auf Bildung gilt für alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen – ohne Ausnahme und ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus", sagte Tepe. "Um diesen Kindern und Jugendlichen ein qualitativ gutes Schulangebot zu machen, sind gut 8000 Lehrkräfte je 100 000 Schüler zusätzlich notwendig." Neben Lehrern müssten auch zusätzliche Schulpsychologen und Sozialarbeiter eingestellt werden, damit die Integration gelinge. 

Die GEW rechnet in den nächsten zwölf Monaten mit knapp 300 000 zusätzlichen Schülern, die allein oder mit ihren Eltern geflüchtet sind. Für das deutsche Bildungssystem hat das durchaus Vorteile: Die Kinder sorgen dafür, dass viele Grundschulen, die aufgrund mangelnder Schülerzahlen geschlossen werden sollten, nun doch bestehen bleiben. So betonte Sachsen-Anhalts Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD), der schmerzhafte Grundschulabbau sei aufgrund der Flüchtlingskinder nun abgeschlossen. Paradoxerweise betrifft diese Entwicklung vor allem die neuen Bundesländer – dort, wo Pegida am stärksten ist und die meisten Menschen gegen Asylbewerber demonstrieren.

Die Kinder, die die VKL in Engen besuchen, kommen aus Syrien, Rumänien, Italien, Kroatien, Indien, Serbien und Costa Rica. "Im Prinzip bräuchte man für jedes Kind einen Lehrer", meint Schulleiterin Duffner, "aber das ist natürlich illusorisch." Stattdessen versucht man, die Schüler, so gut es geht, auf ein Niveau zu bringen – "und ein Stück Normalität zu leben", wie es Monique Günter formuliert. Einfach ist das nicht, denn längst nicht nur die Sprache bereitet Probleme.

Viele Kinder sind vom Krieg traumatisiert, haben Angehörige verloren und auf überfüllten Booten unter Todesangst gelitten. "Manche malen Bilder, die Gewalt zeigen", sagt Günter. Direkt ansprechen will sie diese Erlebnisse nicht. "Das traue ich mich nicht", sagt die Lehrerin, "zumindest noch nicht. Erst mal müssen wir uns aneinander gewöhnen." 

Auch die sozialen Hintergründe der Grundschüler sind äußerst unterschiedlich. Ein Leitfaden des Landes Baden-Württemberg, der sich an Lehrer richtet, betont: "Es gibt nicht 'die Flüchtlingskinder'." Manche hätten in ihrer Heimat in extremer Armut gelebt, während andere aus Ärztefamilien stammten. Die kulturellen Unterschiede gingen zudem weit über die üblichen Klischees – Sprache, Rollenbilder, Kleidungsstil – hinaus. So berichtet der Leitfaden von einer Lehrerin, die sich ärgerte, weil sie ein Kind beim Reden nicht anschaute – aus Unhöflichkeit, wie sie meinte. In Wahrheit stammte das Kind aus einer Kultur, in der es umgekehrt als unhöflich gilt, Älteren in die Augen zu schauen. Um deutsche Gepflogenheiten zu lernen, braucht es Zeit und Geduld seitens der Pädagogen.

"Struktur ist fürs Eingewöhnen besonders wichtig", sagt Monique Günter. "Wir wiederholen Begriffe, spielen zusammen, machen Hausaufgaben – und die fordere ich dann auch ein." Umgekehrt sehnten sich die Kinder der Vorbereitungsklasse nach Ritualen. Am Ende des Unterrichts fragt Günter die Kinder immer, wie es ihnen geht. Mithilfe eines Papp-Smileys sollen sie ihre Gefühle dann ausdrücken. "Wenn ich das vergesse, werde ich sofort darauf hingewiesen", sagt Günter und lacht. Als die Doppelstunde vorbei ist, stürmen Erhan, Mohamad, Ricardo und ihre Freunde sofort ans Klettergerüst. Draußen auf dem Schulhof vermischt sich ihr Lachen mit dem der anderen Kinder, und auch Lehrerin Günter schaut nun zufrieden. Normalität leben – in Engen klappt das schon mal ganz gut.


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4 Kommentare verfügbar

  • Blender
    am 13.11.2015
    Antworten
    Roland Weiss, 11.11.2015 13:02

    Die Kosten die entstehen sind vor allem Lohnkosten für Lehrer und für Mieten und dieses Geld bleibt im Land. Im Gegensatz von Banken"Rettungen" und ÖPP/PPP Projekten wo meist ausländische Hedgefonds das Geld abziehen um es in Steuerparadiesen zu lagern.
    Aber wenn…
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