Wer unabhängig sein will, darf keine Eigeninteressen verfolgen. Doch wer wissenschaftlich forscht, Bücher schreibt, Vorträge hält, der tut das, um seine wissenschaftlichen Karriere voranzutreiben. Aber: Wenn die Opfer sich anschließend als Forschungsmaterial wiederfinden, muss das ausgeglichen werden, indem die Betroffenen beteiligt werden an diesem Forschungsvorhaben. Ein gelungenes Beispiel war das Projekt von Professor Heiner Keupp, dessen Institut die Missbrauchsfälle im Kloster Ettal untersucht hat. Detlev Zander hat auf dem Podium gesagt, alles muss auf den Tisch. Ihn und die anderen Betroffenen auch in den wissenschaftlichen Prozess miteinzubeziehen als Autoren und nicht nur als Objekte, gehört dazu. Das kann natürlich für Menschen, denen in diesen Heimkontexten oft auch formale Bildung verweigert wurde, eine Herausforderung sein. Generell sollte man anbieten, ihnen eine kompetente Ombudsperson beiseite zu stellen.
Ein Aspekt, den Sie aus Ihrer Erfahrung weitergeben. Welche Fehler sollte die Korntaler Aufarbeitungsgruppe nicht machen?
Mir fehlen zwei Aspekte. Es besteht die Gefahr, dass man die Vorwürfe zu Taten von Einzeltätern stilisiert und den Organisationsaspekt nicht wahrnimmt. Wenn wir sagen, alles kommt auf den Tisch, dann darf ich nicht nur die einzelnen Täter identifizieren, sondern auch das System dahinter und die Abhängigkeiten. Es braucht also einen systemischen und organisationstheoretisch geschulten Blick auf Abläufe und Strukturen. Mir fehlt auch der kriminologische Blickwinkel. Man muss es deutlich sagen: Es handelt sich hier um schwere Verbrechen. Bei der Evangelischen Brüdergemeinde in Korntal gibt es in der Vergangenheit konkret den Hinweis auf Prostitution und ein Netzwerk. Kinder wurden verkauft und zu Waren gemacht.
Diesen Vorwürfen nachzugehen, gehört zur Aufarbeitung.
Ja, aber das ist auch ein generelles Problem solcher Einrichtungen, die Geld dafür bekommen, Kinder zu betreuen und das offenbar als Geschäftsmodel betreiben. Wer Oliver Twist gelesen hat, kennt diesen Mechanismus: Am meisten Geld bleibt übrig, wenn man möglichst wenig Geld für die Kinder ausgibt. Deswegen berichten Heimkinder regelmäßig, dass sie schlecht ernährt wurden und ihnen wenig Unterstützung zugekommen ist, obwohl der Träger viel Geld für den Heimplatz erhalten hat. Und das ist Betrug. Ich glaube, dass es gut ist, wenn man eine solche Untersuchung nicht einer einzelnen Person und Profession überantwortet. Frau Wolff ist sicher sehr gut geeignet. Aber man braucht eben noch andere Blickwinkel, um so ein strukturelles Geflecht wie bei einer solchen Einrichtung in Korntal aufklären zu können. Ein Team wäre gut.
Was muss intern bei der Brüdergemeinde passieren?
Inzwischen ist auf ihrer Homepage das Thema prominent zu sehen, das halte ich für wichtig. Es müssen dort natürlich in Zukunft auch die Zeugenaussagen und Namen der Täter öffentlich gemacht werden. Ich sehe auf der Homepage der Opferhilfe 20 Täter aufgezählt, anonymisiert, weil man sich nicht traut, in die rechtliche Auseinandersetzung zu gehen. Die Brüdergemeinde selbst müsste diese Namen öffentlich machen. Solange nicht Ross und Reiter genannt werden, kommt die Aufklärung nicht voran. Die Presse kann das nur bedingt leisten. Hier ist die Institution selbst gefordert, sich zu distanzieren. Das ist meine Erfahrung vom Canisius-Kolleg.
Steckt dahinter nicht die Angst, dass Betreuer, Lehrer und Verantwortliche zu Unrecht beschuldigt werden?
Dahinter steckt vor allem die Botschaft, eigentlich glauben wir euch doch nicht so recht. Wenn ich keinen Grund sehe, an den Aussagen zu zweifeln, dann muss ich mich auf die Seite der Betroffenen stellen. Die Opfer haben sich geoutet. Jetzt muss ebenso öffentlich benannt werden, wer die Täter waren. In der Berichterstattung wird dann der Name abgekürzt, aber der oder die Täter werden dennoch sichtbar. Dazu muss die Brüdergemeinde selber begreifen, dass Transparenz in ihrem eigenen Interesse ist. Die Missbrauchsexpertin Ursula Enders verwendet dafür den Begriff der "traumatisierten Institution". Natürlich sind Missbrauchsvorwürfe für jede Einrichtung zunächst ein Schock. Aber nur mit Offenheit kann man aus dieser Krise als bessere Institution hervorgehen. Die Zeit der falschen Rücksichtnahme auf die Täter muss vorbei sein.
7 Kommentare verfügbar
Angelika Oetken
am 20.06.2015Da kam ein "leitender" der Brüdergemeinde auf mich zu und wollte mir klar machen, dass hier Gott dahinter steckt und er mir damit klar machen wollte, dass dies seine letzte Warnung an mich war, "mein…