KONTEXT:Wochenzeitung
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Genial oder dumm?

Genial oder dumm?
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Wer unter Schlafstörungen leidet, findet starke Arznei im aktuellen Themenschwerpunkt der "Zeit". Dort wird mal wieder die Frage diskutiert, ob die Linken schuld sind am Erfolg der Rechten – mit Argumenten, wie sie in FAZ und "Welt" schon seit vielen Jahren zu lesen sind. Ein Meinungsbeitrag stammt von Jens Jessen, der 2018 während der MeToo-Debatte unter dem Titel "Der bedrohte Mann" vor "totalitärem Feminismus" warnte: Weil es ja in Wahrheit gar nicht um Gleichberechtigung gehe, sondern darum, sogar Männer, die "sich gar nichts vorzuwerfen haben – außer ihrer Zugehörigkeit zum verfluchten Geschlecht", aus Machtpositionen zu verdrängen. Folgerichtig schreibt so einer sieben Jahre später etwas von der "rituellen Klage, dass rechtes Gedankengut 'schon in der Mitte angekommen' beziehungsweise 'salonfähig geworden'" sei. Und beweist mit billigem Populismus über Lastenrad fahrende Veganerinnen in der Lieblingszeitung des linksliberalen Bildungsbürgertums, dass an der These durchaus etwas dran sein könnte.

Kotz mit Lasso

Während sich etwa die CDU auf Bundesebene für – wohlgemerkt rechtswidrige – Grenzzurückweisungen Schutz suchender Menschen feiert, will ihr Stuttgarter Ortsverband eine Arbeitspflicht für Asylbewerber:innen, die nach den Vorstellungen der Union für einen Stundenlohn von 80 Cent schuften müssen sollen. Wobei Alexander Kotz, Fraktionsvorsitzender der CDU im Gemeinderat, sich aber auch mehr Eigeninitiative erwartet: "Ich will sie auch nicht mit dem Lasso fangen müssen", stellt der Unternehmer klar.

"Mit beträchtlicher Dreistigkeit", schreibt Kontext-Autorin Johanna Henkel-Waidhofer, werden aktuell zudem Abgas-Ziele der EU torpediert: Die Initiative stammt von insbesondere deutschen Autoherstellern, die am Verbrenner festhalten wollen, weil die EU sonst Gefahr laufe, "den Anschluss an die Transformation der Automobilindustrie zu verpassen" – ja, so frech widersprüchlich wird dabei tatsächlich argumentiert. Und für das Ansinnen der Autobosse gibt es fleißig Beihilfe von Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU).

Zustände sind das! Zustände, die man sich eigentlich nicht gefallen lassen darf. Da sollte man sich doch wehren. Da muss man sich wehren! Wir wollen eine Wehrpflich… äh, Moment. Erst einmal auf freiwilliger Basis sollen mehr Menschen für Freiheit und Vaterland zur Waffe greifen, und wer zu spät geboren ist, bekommt demnächst Post von der Bundeswehr. Insbesondere Jugendliche sollen rekrutiert werden. Kontext-Redakteur Korbinian Strohhuber, Jahrgang 2000, hat aufgeschrieben, was ihm dazu durch den Kopf geht. Doch es gibt eine noch jüngere Zielgruppe: Schülerinnen und Schüler. So bietet etwa das baden-württembergische Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung dieses Jahr eine Fortbildung an, bei der Jugendoffiziere der Bundeswehr vorführen können, was so ein Militärhubschrauber alles draufhat.

Boris Palmer und die AfD

Immerhin ist die Strategie dahinter einigermaßen durchsichtig – was sich von einem seltsamen Kuhhandel in Tübingen nicht gerade behaupten lässt. Dort diskutiert demnächst der Rechtsextremist Markus Frohnmaier (AfD) mit dem ex-grünen Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos). Die faschistisch durchsetzte AfD auf ein Podium zu hieven, sorgt für Unmut in der Universitätsstadt: Ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen hat Protest angemeldet, und unterstützt wird der von ... Boris Palmer?! Der hat sogar angeboten, auf der Demo gegen sein eigenes Verhalten einen Redebeitrag zu halten. Ist die Palmersche Doppelstrategie genial oder dumm? Kontext wird jedenfalls beobachten, wie der Tag in Tübingen verläuft, und berichten.

Dass der Protest gegen die Verhältnisse nicht zwangsläufig deprimierend und aufreibend sein muss, zeigt sich derweil im oberschwäbischen Altdorfer Wald. Noch bis zum 7. September gibt es dort ein Zeltlager des Widerstands gegen politische Absichten, Bäume und Pflanzen in Kiesgruben zu versenken. Zum Rahmenprogramm gehört nicht nur ein Sitzblockadetraining: Am 29. August traten dort Kai Sichtermann (Bass) und Funky Götzner (Schlagzeug) von Ton Steine Scherben auf, unterstützt von der Sängerin Birte Volta – mit dem nicht gerade neuen und nicht gerade falschen Appell: Macht kaputt, was euch kaputt macht.

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