KONTEXT:Wochenzeitung
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Scheiden tut weh

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Es gebietet die gute Form, sich an dieser Stelle vom bald scheidenden Stuttgart-21-Projektsprecher Wolfgang Dietrich zu verabschieden. Vier Jahre hat der IT-Unternehmer und Sportrechte-Vermarkter aus Leonberg den DB-Prügelknaben gegeben. Jetzt muss sich Bahnchef Grube einen neuen Prellbock suchen. 

Manch einer befürchtet bereits, dass nach Dietrichs Weggang zum Jahresende in der künftigen medialen Auseinandersetzung um S 21 Kontext und die anderen örtlichen Medien das Schicksal der ZDF-"heute-show" erleiden werden. Die krankt seit dem Rauswurf der FDP aus dem Bundestag unter notorischer Gag-Armut, wie Moderator Oliver Welke mehrfach betonte. Wenn es auch im Kessel, im Trog oder im Tunnel in den vergangenen vier Jahren wenig zu lachen gab, Dietrich hatte den Vertretern des schrägen Humors immer wieder Steilvorlagen geliefert. Damit ist es nun voraussichtlich vorbei. Ein letzter Rest Hoffnung bleibt. Dietrich hat angekündigt, er werde mit seinen Gegnern, und dabei vor allem den Journalisten, abrechnen. Darauf freuen wir uns schon.

Während der Erörterung zum Filderabschnitt des Milliardenprojekts war Dietrich noch voll gefordert. Für die Bahn lief die elftägige Veranstaltung suboptimal, zu deutlich wurden trotz aller rhetorischen Künste der DB-Juristen die Mängel ihrer Antragstrasse deutlich. "Es wurde hinsichtlich Leistungsfähigkeit gelogen, dass sich die Schienen biegen", so ein Resümee der Projektkritiker, von denen etliche dem Sitzungsmarathon pausenlos begleiteten.

Trotz der auch inzwischen auf der politischen Ebene eingestandenen "Murksplanung" befürchten die Kritiker, dass das Eisenbahnbundesamt (Eba) die Bahnpläne trotz Leistungszweifeln, überhöhter Gleisneigung und Brandschutzproblemen letztlich genehmigen wird. Am Samstag, 18. Oktober, wollen die S-21-Kritiker deshalb nach Bonn zur Eba-Zentrale fahren und "das Eisenbahnbundesamt aufrütteln, dass es sich aus der Umklammerung von Politik und Wirtschaft löst und wieder seine von der Verfassung vorgesehene Aufgabe wahrnimmt, für einen sicheren und zuverlässigen Bahnverkehr zu sorgen". Standesgemäß fährt ein historischer Sonderzug mit dem sagenhaften Krokodil die Demonstranten nach Bonn und zurück. Mit dabei haben die Organisatoren Flugblätter, auf denen der Kontext-Bericht "Causa Nostra" über die Verquickungen von Eba, Deutscher Bahn und Bauindustrie abgedruckt ist. Fahrkarten (40 Spenden-Euro) nach Bonn sind noch an der Mahnwache gegenüber dem Hauptbahnhof erhältlich.

Warum nicht mal eine Undercover-Reportage über die Bahn?

Wenn's ums Abrechnen geht, wird Wolfgang Dietrich nicht den Südwestrundfunk (SWR) meinen. Dort hat er für seine Sorgen stets ein offenes Ohr gefunden. Scharfe Kritik oder gar eine Undercover-Reportage hatte er nicht zu befürchten. Schade eigentlich, weil es beim SWR Leute gibt, die so etwas können. Der Kollege Jürgen Rose hat es vorgeführt, mit seinem Film "Hungerlohn am Fließband", in dem er die Niedriglöhne bei Daimler öffentlich gemacht hat. Wie in Kontext ausführlich berichtet ("Hungerlohn unterm Stern" und "Dicke Backen beim SWR"), hat der Autokonzern dagegen geklagt. Bisher vergeblich. In der vergangenen Woche hat das Landgericht Stuttgart die Klage abgewiesen und die Ausstrahlung des Beitrags für rechtmäßig erklärt. Während Daimler keine Ruhe gibt und in die nächste Instanz will, ist die Anstalt schon jetzt beglückt. Das Urteil sei eine gute Nachricht für die "gesamte deutsche Medienlandschaft", verkündet SWR-Sprecher Wolfgang Utz, weil damit klar sei, dass gesellschaftliche Missstände auch mit investigativen Mitteln aufzudecken seien. Die Pressfreiheit ende somit "nicht an Werkstoren". Und nicht vor Tunnels.


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11 Kommentare verfügbar

  • Ulrich Frank
    am 21.10.2014
    Antworten
    Ja, man darf schon darauf gespannt sein ob, und wann, ein Projektsprecher, ein Projekt-Messias in der Nachfolge des Herrn Dietrich gefunden werden wird, der u.a. die "moralische Pflicht weiterzubauen" verkündigen wird. Zu denken wäre in diesem Zusammenhang an Herrn Kotz von der CDU - der…
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