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Frauke Brosius-Gersdorf

Tatsachen zählen nicht

Frauke Brosius-Gersdorf: Tatsachen zählen nicht
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Am Freitag zog Frauke Brosius-Gersdorf ihre Kandidatur als Verfassungsrichterin zurück. AfD, die Unionsparteien, diverse Medien und Teile der katholischen Kirche hatten gegen die Staatsrechtlerin gehetzt. Vor allem wegen ihrer Position zum Schwangerschaftsabbruch. Verstörend, kommentiert unsere Autorin.

Dass die Union Frauke Brosius-Gersdorf nicht einmal zum Gespräch einlädt, um ihre Argumente anzuhören und mit ihr zu diskutieren, ist ein heftiger Verstoß gegen ungeschriebene Verhaltensmaßstäbe. Und obendrein feige, was sonst nicht zur Selbstbeschreibung von CDU- und CSU-Abgeordneten gehört. Noch verstörender aber ist das Gesellschaftsbild, das hinter der aus Halbwissen, rechtsradikaler Propaganda, aber eben auch eigener Überzeugung gespeisten Ablehnung der Kandidatin fürs Verfassungsgericht offenbar wird. 

Am Tag vor der im Bundestag vorgesehenen Wahl der neuen Verfassungsrichter:innen feierte Baden-Württemberg in der Landesvertretung am Tiergarten in Berlin die traditionelle Stallwächterparty. Das Haus war rappelvoll, viele schwarze Promis vor Ort. Und Volksvertreter:innen von CDU und CSU waren durchaus bereit, in munterer Sommerlaune Fake News über die Kandidaten weiterzuerzählen, darunter den böswilligen Unfug, die kinderlose Juristin Brosius-Gersdorf sei für die Abschaffung der Schulpflicht.

Hat einer den Bericht gelesen? 

Erst recht höchstproblematisch ist das Gesellschaftsbild, das hinter der Abtreibungsdebatte steht. Dabei gehört keine Phantasie dazu, sich vorzustellen, von den marktschreierischen Kritiker:innen aus dem bürgerlichen Lager habe niemand den mehr als 500 Seiten starken Bericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin gelesen. Dort werden Geschichte, Gegenwart und mögliche Zukunft des Paragrafen 218 StGB abgehandelt. Womit aber ein Hauptproblem beschrieben ist: Nicht Tatsachen zählen, sondern Meinungen, die sich diffus und unreflektiert aufbauen, um dann mit größter Überzeugung vorgetragen zu werden.

Niemand, keiner der starken CDU-Ministerpräsidenten, der Führungskräfte mit Karriereinteresse und -option und dem C als schmückendem Beiwerk in fast jeder Rede, keiner der alten Granden, die nichts mehr zu befürchten haben, einfach niemand fand den Mut, die Nichteinladung öffentlich zu kritisieren. Und erst recht niemand trat dem hämischen Frohlocken der AfD entgegen, sie habe eine Verfassungsrichterin verhindert, die ein AfD-Verbot befürwortet. Das ist zwar auch falsch, dennoch darf Rüdiger Klos, Gründungsmitglied der Partei im Südwesten und Landtagsabgeordneter seit 2016, unwidersprochen behaupten, mit Brosius-Gersdorf "sollte eine Person in das Bundesverfassungsgericht eingeschleust werden, an deren Intention in Bezug auf die AfD keinerlei Zweifel bestehen können". Ihr Rückzug "markiert den Tag des Scheiterns eines hinterhältigen Planes der linken Parteien".

Demokratie nicht verstanden

Ähnliche Deutungsversuche kursieren nicht nur am äußersten rechten Rand, sondern insbesondere dort, wo der Annäherung zum konservativen Spektrum der Weg bereitet wird. So fabuliert etwa Roland Tichy, der frühere Chefredakteur der "Wirtschaftswoche", von einer "informell rot-rot-grünen Koalition". Um das nachvollziehen zu können, ist eine mentale Verrenkungsleistung nötig: Weil die CDU nämlich durch die Brandmauer erpresst werde, seien keine Mehrheiten für konservative Politik mehr möglich, und damit regiere mehr oder weniger der Sozialismus, der bekanntlich über Leichen geht. Über den angeblich neuesten Vorstoß schrieb Tichy am 20. Juli, nun wolle die Regierung "über Richterbesetzung das Bundesverfassungsgericht beherrschen und nach einem AfD-Verbot eine linke Regierung installieren, die sich dann kaum mehr abwählen lässt – danach geht es der CDU an den Kragen." Auch das rechte Krawallmedium "Nius", finanziert vom Multimillionär und CDU-Großspender Frank Gotthardt, beteiligte sich eifrig an der Hetzkampagne gegen Brosius-Gersdorf.

Dass die Unionsführung in der Fraktion nicht genug Rückhalt hatte für die von Jens Spahn und Co. schon getroffene Entscheidung zugunsten der Kandidatin, ist unter etlichen Aspekten bemerkenswert, um nicht zu sagen: beunruhigend. Die Nichtwahl hat die Demokratie beschädigt. Und ohne ehrliche faktenbasierte Aufarbeitung wird der Schaden noch größer. Die AfD jedenfalls hat ihr nächstes Opfer schon gefunden: Nicht nur der Karlsruher Bundestagsabgeordnete Paul Schmitz versendet Video-Aufrufe zur Verhinderung von Ann-Katrin Kaufhold als Verfassungsrichterin, weil die für Enteignung sei. Und dafür, Klimaschutz "unter allen Umständen" umzusetzen. Sein Appell müsste aufrechte Schwarze eigentlich erschaudern lassen: "Liebe CDU, bleib standhaft."

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3 Kommentare verfügbar

  • Gerald Wissler
    vor 1 Tag
    Antworten
    Es ist doch vollkommen egal, warum jemand so wählt wie er wählt.
    Deshalb gibt es ja auch ein Wahlgeheimnis, damit niemand sich rechtfertigen muss für sein Wahlverhalten.
    Es gibt auch kein Recht, gewählt zu werden, nur weil man sich einer Wahl stellt.

    Deshalb kann ich nicht nachvollziehen, warum…
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