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Wolfgang Ertel freigesprochen

Kafka lässt grüßen

Wolfgang Ertel freigesprochen: Kafka lässt grüßen
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Heizen wie in der DDR – so ging das lange an der Ravensburger Hochschule. Bis ein KI-Professor auf den Baum kletterte, protestierte und 4.000 Euro Strafe zahlen sollte. Jetzt wurde das Verfahren eingestellt. Eine kafkaeske Bürokratie im Rückblick.

Ein weißer Tesla vor der Tür, Modell Y, 300 PS. Kein Problem damit, Herr Ertel? Sie wissen schon – Elon Musk, der Anti-Demokrat. Man ist versucht, ihm beim Kaffee mit Hafermilch zu erzählen, was der Tesla-Chef für ein übler Bursche ist. Aber das weiß der Professor für Künstliche Intelligenz (KI) natürlich und verweist auf den Aufkleber unter dem linken Rücklicht. "I bought this before Elon went crazy", lautet die Botschaft. Technisch sei das Auto top, betont der Wissenschaftler. Gekauft hat er es vor zwei Jahren, weil es seiner Ansicht nach das Beste war und der Über-Reiche angeblich noch bei Trost.

Die Distanzierung von Musk ist das Mindeste. Bei dem Ruf, der dem Sohn eines Leutkircher LKW-Fahrers vorauseilt: Linker Kapitalismuskritiker, radikaler Klimaschützer, Sprecher der Scientists for Future, Sektion Ravensburg, passionierter Kletterer und "Professor auf dem Baum". Spätestens seit diesem Titel ist der 66-Jährige weit über Oberschwaben hinaus bekannt. Verliehen bekommen hat er ihn von der "Schwäbischen Zeitung" (SchwäZ), die wahrscheinlich nichts dagegen hätte, wenn Ertel länger dort oben bliebe. Mangels Beinfreiheit könnte er dann weniger Unruhe stiften. Zum Beispiel mit Leserbriefen, die sie nicht drucken will.

Begonnen hat die Geschichte mit den Bäumen Ende 2020. Eine Gruppe junger Leute um den damals 17-jährigen Umweltaktivisten Samuel Bosch hatte ein Transparent über die Grüner-Turm-Straße in Ravensburg gespannt, auf dem nur eine Zahl und ein Wort geschrieben standen: "1,5 Grad". Das Klimaziel von Paris. Oberbürgermeister Daniel Rapp von der CDU hat das nicht gefallen. Eine Unterredung mit der Öko-Apo lehnt er ab. Er zieht ein 60-köpfiges SEK zur Räumung vor. Wolfgang Ertel eilt mit dem Fahrrad von der Hochschule Ravensburg-Weingarten (RWU) herbei, wo er das KI-Institut leitet. Er spricht mit den Protestierenden.

Es war der Beginn einer Zeit, die der heimische Schriftsteller und Kontext-Autor Wolfram Frommlet als geprägt von "ordnungspolitischer Besessenheit" beschrieb. Es ist auch der Start des Baumcamps im Altdorfer Wald, das bis heute existiert.

Heizung an, Fenster auf, niemand da

Ein halbes Jahr später hockt der Professor auch auf dem Baum. Und das kam so: Jahr für Jahr, von 2010 an, stromerte er in den Weihnachts- und Semesterferien durch die Uni, und stellte fest, dass geheizt wurde wie einst in der DDR. Heizung an, Fenster auf, niemand da. Als Beauftragter für Nachhaltigkeit sah er es als seine Pflicht an, diesen Missstand zu melden, als mathematisch begabter Wissenschaftler machte er folgende Rechnung auf: Die RWU hat 31 große Hörsäle, 18 Seminar- und 69 Laborräume. Heizkosten pro Jahr 197.000 Euro, CO2-Ausstoß 1.000 Tonnen. Das entspricht dem Jahresverbrauch von 200 bis 400 Einfamilienhäusern. Würden die Heizkörper abgeschaltet und 20 Prozent Ferienanteil abgezogen, könnten jährlich 200 Tonnen CO2 und 40.000 Euro eingespart werden.

Klingt einfach, ist es aber nicht. Die technische Betriebsleitung lässt Ertel wissen, die Hausmeister seien überlastet, "das können wir nicht leisten". Der gelernte Informatiker entwickelt eine Software, die das "Weihnachtsferienheizkörperabschaltproblem" technisch löst, und stellt sie den Ministerien Finanzen, Wissenschaft und Umwelt vor. Der Plan ist, das Projekt zusammen mit den Hochschulen Stuttgart, Offenburg und Biberach, und später landesweit umzusetzen.

"Leider ohne Erfolg", sagt Ertel. Eine Ministerialbeamtin habe sich danach für drei Wochen zur Beratung zurückgezogen und sei anschließend über Monate nicht erreichbar gewesen. Damit ist der Dienstweg ausgeschöpft. 2018 wirft er als Beauftragter für Nachhaltigkeit hin. Zutiefst frustriert. Er sei an der "starren, planwirtschaftlich organisierten Landesbürokratie" gescheitert, notiert Ertel. Er könnte auch mit Kafka sagen, vor der Willkür einer Behörde habe er kein Entkommen mehr gesehen.

Der hängende Professor bringt den Durchbruch

Wäre da nicht Samuel Bosch gewesen. Zusammen mit ihm, dem Gesicht der oberschwäbischen Klimaschützer, klettert Ertel am 11. Mai 2021 auf eine Trauerweide am Campus und spannt ein Seil zum gegenüberliegenden Gebäude. Sie hängen sich kopfüber dran, zwischen ihnen schaukelt ein Transparent, auf dem ein intelligentes Heizungssystem gefordert wird. Das Foto verbreitet sich republikweit. "Wenn der Professor im Baum hängt", titelt die FAZ.

Sechs Tage später meldet sich die Wissenschaftsministerin persönlich. "Theresia Bauer am Apparat", hört Ertel die grüne Politikerin sagen, "wenn ein Professor auf den Baum steigt, muss da etwas dran sein." Plötzlich kommt Bewegung in den Beamten-Beton. Die Ministerien sprechen miteinander, mit dem Rektor und ihm, und plötzlich werden an den baden-württembergischen Hochschulen Personalstellen für Klimaschutzmanager geschaffen. Zwei davon gehen an die RWU, wo in der Folge tatsächlich "große Fortschritte", so Ertel, beim Energiesparen gemacht werden. Die Thermostate sind runtergedreht, die Fenster geschlossen.

Was lernen wir daraus? "Du musst raus aus dem System", antwortet der Landesbeamte, der jahrzehntelang darin gearbeitet hat, "von innen heraus kriegst du es nicht geändert." Er lernt, dass es nur mit Öffentlichkeit geht, mit Protestformen, die sich medial möglichst spektakulär vermitteln lassen. Offensichtlich muss man erst am Seil hängen, um seine Botschaften los zu werden, Dinge tun, die mit der Obrigkeit nicht abgesprochen, geschweige denn genehmigt sind, womöglich die Frage aufwerfen, ob staatliche Institutionen noch alle Latten am Zaun haben?

Das ist etwas burschikos formuliert, aber was soll man anderes sagen, wenn Ertel und Bosch am 10. September 2021 vom Amtsgericht Ravensburg einen Strafbefehl erhalten, der sie beschuldigt, mit ihrer Baumaktion eine nicht angemeldete öffentliche Versammlung geleitet zu haben. Ein halbes Jahr später wird Ertel zu einer Geldstrafe von 4.000 Euro verurteilt, die Staatsanwaltschaft fordert sogar 10.000 Euro, Gericht und Strafverfolger gehen nur der Frage nach, ob eine Ordnungswidrigkeit vorliegt. Ob die Beschuldigten den Schutz des Planeten im Sinn hatten, interessiert sie nicht. Dass ein Beauftragter für Nachhaltigkeit die gesetzliche Pflicht hat, den Heizungsirrsinn zu beenden, ebenso wenig. Ertel und Bosch legen Berufung beim Landgericht Ravensburg ein.

Am 13. Mai 2025 teilt es den Angeklagten mit, das Gericht sei überlastet und stelle das Verfahren wegen Geringfügigkeit gemäß Paragraf 153 Absatz 2 StPO ein. Die Kosten trage die Staatskasse. Ertel willigt ein, akzeptiert den "Freispruch zweiter Klasse", weil er dem Gericht Arbeit und Kosten sparen will. Ihn tröstet die Erkenntnis, mit dem Besetzen eines Baumes, zusammen mit dem "großartigen Samuel", viel mehr erreicht zu haben, als in zehn Jahren "bürokratischer Bemühungen". In seiner 30-jährigen Dienstzeit sei das einer seiner größten Erfolge gewesen.

Solchermaßen gestärkt plant er jetzt für die Zeit nach dem Sommer. Mit seinen "Scientists for Future" will er dem Oberbürgermeister wieder auf die Pelle rücken, der versprochen hat, 2040 klimaneutral zu sein, stolz ist auf den "European Energy Award", aber schon mauert, wenn die Parkplätze bei der Oberschwabenhalle Gebühren kosten oder die Autos aus der Altstadt verbannt werden sollen. Ertel hat errechnet, dass die Stadt Jahr für Jahr 13,3 Prozent CO2-Emissionen einsparen müsste, um das Klimaziel zu erreichen, stellt aber zugleich fest, dass der Strom- und Gasverbrauch in den letzten fünf Jahren nicht gesunken ist.

Doch es besteht Hoffnung. Der KI-Professor ist seit März vergangenen Jahres emeritiert und sagt, er habe jetzt die Freiheit, jederzeit wieder auf Bäume zu klettern.

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