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Aus für Stardirigent Agrest

Feudale Zeiten

Aus für Stardirigent Agrest: Feudale Zeiten
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Der Schattenintendant im Stuttgarter Ballett hat es geschafft: Musikdirektor Mikhail Agrest ist raus. Aber Reid Anderson sollte sich nicht zu früh freuen. Der Stardirigent kommt zurück. Ein feudales Schauspiel in fünf Akten.

Die Freundinnen und Freunde des Spitzentanzes sollten jetzt noch schnell die Website des Stuttgarter Balletts aufrufen. Dort steht, dass Mikhail Agrest hochgelobt wird für sein "Gespür für orchestrale Farben, die Klarheit der Textur, Poesie, Lyrik, Leidenschaft und ihren Sinn für Dramatik". Seine Inspiration beziehe er aus der Natur, er wandere gerne durch die Weinberge rund um Stuttgart und sammle Pilze im Schwarzwald. Zusammen mit seinem Beagle Dorabella. Alles sehr nett, sehr freundlich, auch das Foto darunter. Aber wie gesagt, fix anklicken unter "The Stuttgart Ballet". Wer weiß, wie lange der Widerborstige dort noch steht?

Erster Akt. Mamma mia

Es ist der 13. Oktober 2021, ein Mittwoch, an dem alles Unglück seinen Anfang nimmt. Reid Anderson, 76, der einst ruhmreiche Ballettintendant, auch als Ausmister berüchtigt, brüllt im Stuttgarter Opernhaus. "You will do, what I tell you", herrscht er den Dirigenten an, der ihm zu schnell ist. Die Proben zu Crankos "Onegin" müssen immer wieder abgebrochen werden. Am Pult steht Mikhail Agrest. In der Branche gilt der heute 50-Jährige als Star. Er hat an der Met in New York und der Royal Opera in London den Stab geschwungen.

Der gebürtige Petersburger, Putin-Gegner und Italien-Fan kontert mit "Mamma mia", einer Geste des Trotzes, wie man es in bella Italia halt so macht. Das Orchester lacht lauthals. Anderson stürmt wutentbrannt aus dem Saal. Zwei Tage später wird Agrest fristlos gekündigt. Hausverbot inbegriffen. Die Geste sei obszön gewesen, heißt es in der Intendanz, die ihn ein Jahr zuvor mit einem Dreijahresvertrag ausgestattet hat. In Ballett-Kreisen ist die Verwunderung groß, weil Agrest weltweit Triumphe gefeiert hat.

Zweiter Akt. Die erste Scheidung

Am 17. Januar 2022 trifft man sich vor dem Bühnenschiedsgericht in Frankfurt wieder. Agrest klagt auf Schadensersatz wegen Reputationsverlust, sein Anwalt Christof Weisenburger errechnet 200.000 Euro. Das Staatstheater will keinen Vergleich, sein Rechtsvertreter scheitert mit dem Versuch, die Bedeutung von "Mamma mia" gestisch zu erläutern und wird später ausgetauscht. Noch am gleichen Tag sendet die PR-Abteilung eine Pressemitteilung aus: "Das Stuttgarter Ballett trennt sich von Musikdirektor Mikhail Agrest". Intendant Tamas Detrich, Jahrgang 1959, schiebt nach, die Tänzerinnen hätten geschützt werden müssen, was die "Stuttgarter Zeitung" für so aussagekräftig hält, dass sie es in einem Text drei Mal wiederholt.

Dritter Akt. Koste es, was es wolle

Ende März 2022 befindet das Gericht die Kündigung für unwirksam. Die Vorsitzende Richterin ist sichtlich irritiert und vermag keine Pflichtverletzung des Dirigenten zu erkennen. Das Staatstheater bietet ein Monatsgehalt als Vergleich an, Anwalt Weisenburger ("Unverschämtheit") zieht daraus den Schluss, dass die hochsubventionierte Kulturstätte durch alle Instanzen gehen wird. Koste es, was es wolle.

Vierter Akt. Die Versöhnung

Am 16. September 2022 kommt es anders. Auf Druck des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst ist bei der Intendanz die Erkenntnis gewachsen, dass auch in ihrem Tempel die Dukaten endlich sind. Die Volte kleidet sie in eine Presseerklärung, die den Titel trägt: "Das Stuttgarter Ballett legt Rechtsstreit mit Musikdirektor Mikhail Agrest bei". Intendant Detrich preist den Dirigenten, vor dem die Tänzerinnen zuvor noch geschützt werden mussten, plötzlich als den "Richtigen für diese Aufgabe" und verspricht, ihn "bestmöglich" zu unterstützen. Gehalt wird wieder bezahlt, dirigiert wird auch. Beim "Schwanensee" wird der Star mit Jubelrufen empfangen und mit Standing Ovations verabschiedet. Für seinen Rechtsbeistand ist jetzt alles in Butter, alles bereinigt, alles schön, nachdem auch die Gegenseite versichert hat, sich auf eine "gedeihliche Zusammenarbeit" zu freuen.

Fünfter Akt. Die zweite Scheidung

Die Freude währt bis zum 10. Oktober 2024. Es ist der Tag, an dem die Kompanie anzeigt, den bis zum 31. August 2025 datierten Vertrag mit Agrest nicht zu verlängern. "Moralisch fragwürdig", findet das Verteidiger Weisenburger nach den schönen Absichtserklärungen und klagt gegen die Nichtverlängerung, wohl wissend, dass Justitia keine Moralanstalt ist. Ein Bühnenschiedsgericht vergleicht lieber und fragt, was der Beklagte denn bereit wäre zu zahlen? Dass die Schadenersatzklage von 2022 weiterläuft, sei der Korrektheit halber auch erwähnt und mit dem Hinweis versehen, dass das die Beliebtheit seines Mandanten bei den Granden am Eckensee nicht gesteigert haben dürfte. Dem Publikum ist das egal. Im März 2025 bejubelt es Agrest bei "Anna Karenina" und den Meisterchoreographen John Neumeier, der den Dirigenten umarmt.

Am 12. Mai 2025 herrscht Klarheit: Das Staatstheater bietet zunächst 24.000 Euro an, dann 50.000 für den Abgang. Überraschend schnell, sagt Weisenburger, Hauptsache raus. Für ihn ist das der Schlussstrich. Was der ganze Spaß die Steuergemeinde kostet, vermag auch er nicht zu sagen.

Zwischenspiel. Die mediale Rezeption

Die "Stuttgarter Zeitungsnachrichten" (StZN) stehen treu an der Seite der Fürsten. Ballett und Agrest brechen den "Versuch einer Versöhnung" ab, schreiben sie am 16. Mai und suggerieren, dass hier zwei Parteien aus einer Paartherapie geklettert sind, in die sie sich gleichberechtigt begeben haben. Leider ohne Erfolg. Die "künstlerischen Einzelinteressen" seien letztlich "unvereinbar" gewesen, stellt das fusionierte Monopolblatt fest und hat noch eine Frage: "Schlechte Werbung für das Ballett?" In der Tat, das können die StZN besser. Hier ist eine gute PR-Abteilung für Detrich & Co. zuhause, hier will niemand wissen, welche Rolle der 2018 abgetretene Anderson heute noch spielt, hier sind "Totschweiger und Lobmaschinen" am Werk, kritisierte der Stuttgarter Kulturjournalist Rupert Koppold bereits 2021 in Kontext.

In der FAZ lässt Tanzexpertin Wiebke Hüster, berühmt geworden durch die Hundekotattacke des Hannoveraner Ballettchefs Marco Goecke, keinen Zweifel daran, wen sie für die Täter hält. Zitat: "Die sinnlose, aber für die Staatskasse teure Trennung von Mikhail Agrest ist der letzte Schritt des Ballettdirektors Detrich auf dem konsequenten Weg, seinem Vorgänger Reid Anderson und dessen Abneigung gegen Agrest zu willfahren".

In der "Jungen Welt" betont Gisela Sonnenburg, Herausgeberin des kritischen "Ballett-Journals", Intendant Detrich verbinde "so etwas wie Kadavergehorsam" mit Anderson. Mit Agrest verliere Stuttgart hohe Qualität an die "Genugtuung eines alten weißen Mannes", andererseits sei der Widerständige auch ein "wandelndes Symbol" dafür, dass die Macht von Intendanten, die wie Fürsten auf Zeit agierten, "nicht endlos ist". Sonnenburg war die erste, die über den 13. Oktober 2021 im Opernhaus geschrieben hat.

Für Kontext ist Anderson ein "Schattenintendant". Aus gutem Grund: Er sitzt auf dem größten Kapital des Balletts – auf dem Cranko-Vermächtnis. Onegin, Romeo und Julia, Der Widerspenstigen Zähmung – alles Cranko-Inszenierungen, die weltweit getanzt und bezahlt werden. Mit Millionen Dollars und Euros für die Rechte. Nur in Stuttgart nicht. Hier sind sie Gebühren-befreit – und Anderson hat die Lizenz zum Brüllen. Erst recht, seitdem er Alleinerbe ist. Im vergangenen Jahr ist sein Partner Dieter Gräfe, der frühere Privatsekretär von Cranko, gestorben, der bis dahin der Begünstigte war.

Zusammen haben sie 2020 noch die John-Cranko-Stiftung gegründet, in die einmal alle Tantiemen fließen sollten, zu Nutz und Frommen der Elevinnen und Eleven der John-Cranko-Schule. Wie viel es ist, sagt einem niemand, weil die Stifter beschlossen hätten, keine Summen bekannt zu geben, heißt es in der Stuttgarter Kompanie. Auch das Regierungspräsidium als Aufsichtsbehörde bleibt extrem wortkarg, nennt die Namen des Vorstands, den Tag der Rechtsfähigkeit, und das war's.

Vielleicht ist Reid Anderson also noch viel mehr als ein "Schattenintendant". Womöglich der Herr über Leben und Tod im Stuttgarter Ballett, jener Institution von weltweitem Ruhm, das Ministerpräsident Winfried Kretschmann einem Miraculum gleichkommt. Stuttgart ohne Cranko? Unvorstellbar! Das ist wie Stuttgart ohne Mercedes und Porsche.

Epilog. Das Comeback

Wie es sich gehört, hätten wir gerne gewusst, was das Staatstheater zu all' dem sagt. Aber leider, leider muss die Öffentlichkeitsabteilung um Verständnis bitten, dass sie sich nicht öffentlich zu Arbeitsverhältnissen und Personalangelegenheiten äußern kann. Es handle sich hier nun mal um "personenbezogene Daten".

Mamma mia. Auch Kontext ist für Datenschutz. Und außerdem ist Hoffnung in Sicht. Gisela Sonnenburg, die couragierte Journalistin ("Gegenwind macht nur stärker"), kündigt an, Mikhail Agrest werde man bald wieder im Stuttgarter Opernhaus sehen. Am 31. Juli dirigiere er noch einmal "Romeo und Julia", danach übernehme er eine neue Rolle an dieser noblen Spielstätte. Sie habe ihn als Rezensent für ihr "Ballett-Journal" gewinnen können.

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2 Kommentare verfügbar

  • A. Reinhardt
    vor 7 Stunden
    Antworten
    Lieber Herr Freudenreich,

    Mikhail. Agrest. Ist. Kein. Stardirigent. Sie haben mit ihrer fortwährenden Berichterstattung geholfen, ihn dazu zu machen, Glückwunsch an ihn und seinen Anwalt.

    Agrest ist ein ganz normaler Ballettdirigent, wie es sehr viele in deutschen Staatstheatern gibt. Die…
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