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Tödliche Verkehrsunfälle

Der Autoterror muss aufhören

Tödliche Verkehrsunfälle: Der Autoterror muss aufhören
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Verkehrstote dürfen nicht als Normalität hingenommen werden: Nach dem tödlichen Unfall am Stuttgarter Olgaeck fordert die Autorin und Fahrrad-Aktivistin Christine Lehmann Konsequenzen.

Am Freitag, 2. Mai ist in Stuttgart gegen 18 Uhr am Olgaeck der Fahrer eines Mercedes-Geländewagens in eine Gruppe von Fußgänger:innen gefahren, die auf der Verkehrsinsel an der Stadtbahnhaltestelle warteten. Eine 46-jährige Frau starb wenig später im Krankenhaus, sieben Menschen wurden teils sehr schwer verletzt, darunter drei Kinder. Der 42-jährige Fahrer war mit seinem kleinen Sohn vom Charlottenplatz kommend geradeaus bergauf Richtung Degerloch unterwegs, als er die Kontrolle über sein Auto verlor. Ob er zu schnell fuhr oder abgelenkt war, ist Teil der polizeilichen Ermittlungen. Der schwere Wagen verbog das Stahlgeländer am Bordstein und das Geländer an der Treppe zur Haltestelle.

Seitdem stellen wir uns das Grauen vor, das die verletzten Kinder und etliche Umstehende an diesem Abend erlebt haben. Wir trauern mit den Kindern, dem Ehemann und den Eltern der getöteten Frau und wir bangen um die Verletzten. Den Opfern nahestehende Menschen, aber auch viele, die das Geschehen miterleben mussten, sind seit jenem Freitag traumatisiert. Körperlich geschädigt sind die verletzten Kinder, von denen einige noch lange, womöglich ihr Leben lang mit den Folgen des Unfalls zu tun haben werden. Wie sollen sie jemals wieder Vertrauen in unseren Straßenverkehr gewinnen, dem sie täglich ausgesetzt sein werden? Auf den Fotos vom Unfallort sahen wir diesen absurd großen Geländewagen. Eine derartige Verheerung kann man wohl nur mit einem Fahrzeug von drei Tonnen Gewicht anrichten. Wenn ein SUV- oder Geländewagenfahrer Menschen zu Fuß oder auf Fahrrädern anfährt, sterben sie nachweislich häufiger, als wenn sie von einem kleineren Pkw angefahren werden.

Dass jemand mit großer Wucht in uns hineinfährt, die wir uns auf Fußgängerinseln drängen, an Ampeln warten oder auf Fußwegen gehen – damit müssen wir stets rechnen. Fünf Tage nach dem Stuttgarter Vorfall raste in München ein SUV in eine Bahnhaltestelle und verletzte drei Menschen schwer. In Nürtingen tötete ein Autofahrer im vergangenen Juni eine Person und verletzte zwei schwer, die an einer Ampel auf dem Gehweg warteten. Im Oktober tötete in Esslingen ein Autofahrer eine Mutter und ihre beiden Kinder auf dem Gehweg. Wo auch immer wir in einer Stadt stehen, gehen oder radeln, immer sind wir dieser tödlichen Gefahr ausgesetzt, die vom Autoverkehr ausgeht.

Christine Lehmann, Jahrgang 1958, ist Schriftstellerin und war von 2015 bis 2024 für die Grünen im Stuttgarter Gemeinderat. Seit März 2025 ist sie im Vorstand des ADFC Stuttgart. Sie betreibt den Blog "Radfahren in Stuttgart" (red)

Das nenne ich den systematischen Terror des Autoverkehrs gegen alle, die nicht im Auto sitzen. Terrorsperren zeigen uns in Stuttgart, dass Autos als Waffe missbraucht werden können. Sie sollen vor Anschlägen schützen, hinter denen Absicht steckt. Das war am Olgaeck nicht der Fall. Aber Terror geht eben nicht nur von einem absichtlichen Anschlag aus, sondern entsteht auch durch eine systematisch erzeugte Bedrohungslage. Und die haben wir. Wir geben tonnenschweren Autos viel Platz in unseren Städten. Mit mindestens achtfacher Schrittgeschwindigkeit rasen sie teils eng an Fußgänger:innen vorbei. Alle, die nicht in Autos sitzen, sind auf Gedeih und Verderb diesen Geschwindigkeiten ausgeliefert, die bei Kollisionen für sie den Tod bedeuten können, auch dann, wenn sie selber nichts falsch gemacht haben.

Hupkonzert stört Schweigeminuten

Auf unseren Straßen können sich Menschen (meist Männer) auch entscheiden, so schnell zu fahren, dass Menschen in kleineren Autos ums Leben kommen. So geschehen in Ludwigsburg, wo im März ein Raser zwei Frauen in ihrem Auto tötete. Zu viele Autofahrende leiten aus der unangefochtenen Dominanz des Autos auf unseren Straßen ein Recht auf Geschwindigkeit ab. Wer sie hemmt, wird angehupt oder bedrängt. Etliche schüchtern mit ihrem Auto sogar absichtlich Radfahrende ein, hupen, schneiden sie und scheuchen sie auf die Gehwege, wo sie die Fußgänger:innen in Bedrängnis bringen.

Ein Mensch zu Fuß hat in unserer Stadt kaum einen Quadratmeter Raum, wo er nicht mit Fahrzeugen rechnen muss, Autos, E-Scooter, Fahrräder – sogar in Fußgängerzonen.

Wer nicht fährt, sondern geht, hat immer das Nachsehen. Bezeichnenderweise war nach dem Unfall am Olgaeck der Überweg über die Stadtbahnhaltestelle vier Tage lang gesperrt. Fußgänger:innen sollten, als verstünde es sich von selbst, den weiten Umweg über drei Ampelanlagen nehmen. Keine der jeweils zweispurigen Fahrbahnen für Autos wurde beschnitten, um den Fußgänger:innen Raum zu geben.

Das darf so nicht bleiben, das können wir nicht mehr still hinnehmen, das Sterben auf unsern Straßen muss aufhören, sagten sich sieben Organisationen – ADFC, VCD, Fuß e.V., Kidical Mass, Zweirat, Naturfreunde-Radgruppe und Kesselbambule – und meldeten für Freitag, 9. Mai einen Trauermarsch zum Olgaeck an. In Deutschland werden Demonstrationen weder verboten noch genehmigt, sie finden statt. Die Polizei meldete jedoch Bedenken an wegen der Route über den Charlottenplatz und die Charlottenstraße hinauf, sie schlug einen Weg auf von weniger Autos befahrenen Straßen vor. Doch selbstverständlich zog der Gedenkmarsch am Freitagabend über die Straße, die der Mercedes gefahren war, zum Olgaeck.

Dort hielten 300 Menschen inne und schwiegen: acht Minuten lang, für jedes Opfer eine. Währenddessen toste der Autoverkehr teils hupend um sie herum, die Stadtbahn fuhr auf Tuchfühlung hinter den Stehenden vorbei. Deutlicher kann man kaum spüren, wer mit Lärm, Masse und latenter Aggressivität unsere Stadt beherrscht.

Olgaeck: 38 Unfälle seit 2022

Allein seit 2022 gab es, wie der SWR berichtet, 38 Verkehrsunfälle mit zwei Todesopfern und vielen teils schwer Verletzten am Olgaeck. Über diese Kreuzung führt ein von der Stadt empfohlener Schulweg, und Eltern fürchten jeden Tag um ihre Kinder. Muss das wirklich so sein? Könnten die Stadtgesellschaft und ihre politischen Vertretungen sich nicht endlich einmal ernsthaft fragen, welche Geschwindigkeiten wir dem Autoverkehr zugestehen wollen, wie gefährlich er sein darf und wie viele Menschen, darunter Kinder, wir ihm noch opfern wollen?

Aktuell gilt am Olgaeck noch Tempo 40 (übrigens allein aus Luftreinhaltungsgründen eingeführt). Bevor man Kreuzungen umbaut, ist die einfachste und schnellste Abhilfe Tempo 30 überall dort, wo viele Menschen zu Fuß direkt an Fahrbahnen unterwegs sind. Städte wie Brüssel oder neuerdings Bologna zeigen, dass sich bei Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit die Zahl der Schwerverletzten deutlich verringert und die der Verkehrstoten mindestens halbiert. Damit schützt man übrigens auch die Autofahrenden vor sich selbst, nämlich vor den verheerenden Folgen eines kleinen Fahrfehlers.

Denn nicht nur die acht Familien der Opfer werden ihres Lebens nicht mehr froh, sondern auch der Fahrer dieses Autos, dem ein Eisengeländer nicht standhielt. Er hat im Beisein seines Kindes zwar nicht absichtlich, aber unabweisbar eigenhändig andere getötet und verletzt. Damit lebt es sich nicht gut. Und es gibt etliche, die mit Entsetzen zuerst an ihn dachten, weil sie als Autofahrende genau wissen, wie schnell ihnen so etwas auch passieren kann.

Autos sind tödliche Waffen. Und tatsächlich verbreiten sie Angst und Schrecken. Es wird Zeit, dass wir Städte sicher und entspannend machen für alle Menschen, die sich nicht in Autos bewegen. Absolute Sicherheit gibt es nicht, aber das heißt nicht, das man die generelle Gefahr durch den Autoverkehr ignoriert. Wenn Tempo 30 uns besser schützt, brauchen wir Tempo 30. Und wenn für den Radverkehr auf den Fahrbahnen so wenig Platz ist, dass er über Gehwege abgewickelt wird, dann muss der Autoverkehr jetzt Platz hergeben. Menschen zu Fuß dürfen keine Angst haben müssen, weder um sich noch um ihre Kinder.

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5 Kommentare verfügbar

  • P. Dawgg
    vor 3 Stunden
    Antworten
    Schade um die mit so viel Schaum vor dem Mund vergebene Chance, berechtigten Anliegen nochmal Nachdruck zu verleihen. Ganz nebenbei werden die Opfer gezielten Terrors auch noch verhöhnt. So sehr ich Frau Lehmann inhaltlich zustimme, so daneben finde ich vieles in diesem Kommentar. Viele…
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