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Raser im Autoland

Patriarchales Fahren und die Folgen

Raser im Autoland: Patriarchales Fahren und die Folgen
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Nahezu täglich liefern sich junge Männer in Baden-Württemberg illegale Autorennen. Den Hauptgrund dafür sieht Buchautor Boris von Heesen im Festhalten an traditionellen Geschlechterstereotypen.

Am 20. März rammte ein hochgetuntes Fahrzeug auf der Schwieberdinger Straße in Ludwigsburg mit hoher Geschwindigkeit einen Ford, der gerade eine Tankstellenausfahrt verlassen wollte. Zwei unbeteiligte migrantische Frauen starben noch an der Unfallstelle. Die Täter begingen Fahrerflucht, wurden aber kurz darauf gefasst. Sie sitzen in Untersuchungshaft, auf sie wartet nach Paragraf 315 des Strafgesetzbuches ein Prozess wegen fahrlässiger Tötung, vielleicht sogar, nach dem Vorbild des Berliner Verfahrens gegen die sogenannten "Kuꞌdamm-Raser", eine Anklage wegen Mordes.

Normalität in dem von einflussreichen Konzernen wie Porsche, Mercedes-Benz und Bosch geprägten deutschen Südwesten? 390 illegale Rennen zählte die Polizei in Baden-Württemberg im Jahr 2023. Allein Im ersten Halbjahr 2024, das sind die aktuellsten verfügbaren Zahlen, waren es bereits 207, Tendenz also steigend. Wichtigste Ursache für Tote im Straßenverkehr ist überhöhte Geschwindigkeit. Saftige Bußgelder und längere Gefängnisstrafen, wie sie Burkhard Metzger fordert, einst Polizeipräsident in Ludwigsburg und jetzt Präsident der baden-württembergischen Landesverkehrswacht in Asperg, schrecken offenbar zu wenig ab. Auch mit Aufklärungskampagnen und Präventivmaßnahmen seien die Täter kaum zu erreichen, bedauert der Verkehrpsychologe Wolfgang Fastenmaier. Seiner Erfahrung nach handelt es sich fast immer um "junge Männer aus schwierigen Verhältnissen".

Foto: Jens Volle

Tödlicher Unfall am Olgaeck in Stuttgart

Schreckensnachricht am vergangenen Freitagabend: Bei einem Verkehrsunfall wurden acht Menschen verletzt, als ein 42-Jähriger mit seinem Mercedes-Luxusgeländewagen in eine Menschenmenge an der Stadtbahnhaltestelle Olgaeck fuhr. Eine 46-Jährige starb kurz darauf im Krankenhaus. Unter den weiteren Opfern seien drei Kinder, sagt eine Polizeisprecherin auf Nachfrage. Eines davon sei einer der beiden Schwerverletzten, beide seien aber außer Lebensgefahr. Laut "Bild" soll der Fahrer, nachdem er auf die Verkehrsinsel auffuhr, zurückgesetzt und dabei Menschen erneut überrollt haben. Die Polizeisprecherin macht dazu keine Angaben, da noch Zeugenbefragungen laufen, die nicht beeinflusst werden sollen. Der Fahrer wurde festgenommen, kam am nächsten Tag aber wieder auf freien Fuß. Gegen ihn wird nun wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung ermittelt. 

Sieben verkehrpolitische NGOs planen für Freitag, 9. Mai, 17.30 Uhr einen Gedenkmarsch vom Karlsplatz zum Olgaeck. Sie fordern ein Tempolimit von 30 km/h in der Stadt (ks)

In einem neuen Buch, das zufällig fast zeitgleich mit dem Ludwigsburger Raserunfall erschien, wirft der Wirtschaftswissenschaftler Boris von Heesen einen geschlechterspezifischen Blick auf das Thema. Eine wichtige Perspektive, denn Frauen sind an den gefährlichen Wettkämpfen im Verkehr so gut wie nie beteiligt. Der Sachbuchautor, der bei einem Jugendhilfeträger und nebenbei auch in einer Männerberatungsstelle arbeitet, ist durch seine exakten Berechnungen über die gesellschaftlichen Kosten des Patriarchats bekannt geworden. "Was Männer kosten" lautete der eingängige Buchtitel. In seinem jüngsten Werk nimmt sich der Darmstädter Ökonom nun den "Mann am Steuer" vor. Er meint damit jenen (nicht die Mehrheit bildenden) Teil des männlichen Geschlechts, der mit überdimensionierten Fahrzeugen, aggressivem Verhalten und unangemessener Lautstärke die deutschen Straßen beherrscht. Zudem beschreibt von Heesen, wie männliche Netzwerke in Unternehmen, Wissenschaft, Politik und Lobby-Verbänden eine "zukunftsfähige Mobilität" verhindern.

Populäre Sachbücher behaupteten einst, weibliche Fahrerinnen könnten schlecht einparken, in Männerkreisen kursiert teils bis heute der sexistische Spruch "Frau am Steuer, Ungeheuer". Mit seiner Replik "Mann am Steuer" spielt der Verfasser auf solche Klischees an. Ihn beschäftigt die Frage, warum manche, wenn auch nicht alle Männer ihr(e) Auto(s) so abgöttisch lieben – und sich im Verkehr entsprechend verhalten: "Fest eingeschlossen in ihre letzten maskulinen Schutzräume gestikulieren sie wild und aggressiv, beleidigen und nötigen andere Menschen, die ihnen auf asphaltierten Wegen in die Quere kommen." Durch dieses risikoreiche Verhalten, so der Autor, gefährden die Fahrer "andere und auch sich selbst". Verantwortlich dafür sei die nach wie vor wirkmächtige patriarchale Erzählung, dass "erst ein großes, lautes und mit Status aufgeladenes Fahrzeug einen richtigen Mann macht".

Boliden für "richtige Männer"

Den Schwerpunkt des Buches bilden aber nicht psychologische Erklärungsversuche, von Heesens Spezialgebiet sind vielmehr ökonomische Argumente. Er listet im Detail auf, welche volkswirtschaftlichen Kosten die männliche Leidenschaft für das Auto verursacht, und legt dabei großen Wert auf gesicherte Daten auf der Basis seriös nachgewiesener Statistiken. So sind nach den Zahlen des Flensburger Kraftfahrtbundesamtes vier von fünf Pkw in der motorstärksten und umweltschädlichsten Leistungsklasse ab 2.000 Kubikmeter auf männliche Halter zugelassen, meist handelt es sich um steuerbegünstigte Dienstwagen.

Bei Verkehrsunfällen steigt die Beteiligung von Männern mit der Dramatik der Folgen überproportional an. Gibt es schwerverletzte Opfer, sind Männer zu 65 Prozent hauptverantwortlich, bei Getöteten wie in Ludwigsburg wächst ihr Anteil unter den Verursachern auf über 78 Prozent. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommen die Autoversicherer in ihrer Statistik der Sachschäden. Als Hauptursache für schwere Unfälle gelten die Faktoren Alkohol am Steuer und Raserei. 91 Prozent der Fahrzeuglenker, die mit über 50 Stundenkilometern innerhalb geschlossener Ortschaften erwischt werden, sind Männer. Auch bei den "Punkten in Flensburg" mit der drastischen Sanktion "Entzug der Fahrerlaubnis" liegen sie einsam an der Spitze, 92 Prozent der eingezogenen Führerscheine gehören Männern. Das ökonomische Fazit des Autors: Die durch schädliches männliches Verhalten im Straßenverkehr verursachten Mehrkosten summieren sich auf rund 13 Milliarden Euro pro Jahr.

"Patriarchales Fahren", wie es von Heesen überspitzt nennt, sei eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer – für Fußgänger, Radfahrer, aber auch für andere Pkw-Lenker. In einem eigenen Kapitel prangert er die "absurden Auswüchse" des Kults um das Auto an, berichtet von "Parallelwelten" mit tiefergelegten und hochgetunten Fahrzeugen, von Rasern, Posern und illegalen Rennen. "Choreografiert" werde das "Spektakel" von der männerdominierten Automobilindustrie: "Wie eine Spinne im Netz, die alle Fäden kontrolliert, verbindet sie geschickt Politik, Behörden und Verbände und setzt so in Vorder- und Hinterzimmern ihre Interessen durch."

Maskuline Fahrzeuglobby

Der ADAC, wichtigster Gegner des in allen europäischen Nachbarländern selbstverständlichen Tempolimits auf Autobahnen, hat in Deutschland mehr Mitglieder als die katholische Kirche. Das Bundesverkehrsministerium wurde noch nie von einer Frau geleitet, meist führte es ein autofixierter CSU-Mann, der sich wenig für Bahnkunden oder Radfahrende interessierte. Seit Jahrzehnten regiert in Deutschland eine mächtige, maskulin geprägte Fahrzeuglobby mit. Vorsitzende des einflussreichen Branchenverbands der deutschen Automobilindustrie VDA ist derzeit allerdings eine Frau, Hildegard Müller. Einen Kulturwandel hat die frühere CDU-Politikerin und Vertraute Angela Merkels aber nicht ausgelöst. Ihre Überanpassung an männliche Denkmuster hat die traditionellen Strukturen eher verfestigt – und mit der einseitigen Orientierung an teuren Luxusfahrzeugen zur derzeitigen Krise der deutschen Automobilindustrie beigetragen.

Im Schlusskapitel versucht von Heesen, Alternativen aufzuzeigen. In einem "Labor der Lösungen" plädiert er zum Beispiel für mehr Verkehrserziehung "vom Bobbycar zum Rollator". Er entwirft die Zukunftsperspektive einer "mobilen Befreiung zu Fuß und auf zwei Rädern", fordert den Abschied vom üblichen Dreiklang "mein Haus, mein Auto, meine Garage". Seine Empfehlungen sind vorrangig aus einer städtischen Perspektive gedacht; für die Bewohner von Regionen, in denen nur zweimal am Tag ein Bus kommt, klingt es eher utopisch. Die Mobilitätswende und der Abschied von der "maskulinen Autonormativität" – den Begriff haben die Wissenschaftlerinnen Urmina Goel und Ulrike Mausolf entwickelt – seien "feministisch", bekennt von Heesen. Doch es bleibt etwas einfach, wenn auch vielleicht verkaufsträchtig, sämtliche Hindernisse einer nachhaltigeren Verkehrspolitik pauschal dem ganz überwiegend männlichen Geschlecht der Akteure anzulasten.


Boris von Heesen: Mann am Steuer. Wie das Patriarchat die Verkehrswende blockiert. Erschienen im Heyne Verlag, München 2025. 288 Seiten, 18 Euro.

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8 Kommentare verfügbar

  • Frank Stephan
    vor 4 Tagen
    Antworten
    Es geht um Kubikzentimeter, nicht -meter. Genau wie bei den sprichwörtlich kleinen Geschlechtsorganen der Raser.
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