Achim Dittler ist der Sprecher dieser schlauen Köpfe. Am renommierten KIT in Karlsruhe befasst er sich vor allem mit "Gas-Partikel-Systemen". Und er ist verwundert. Darüber, dass Aerosole vergangene Woche plötzlich so prominent in den Zeitungsspalten und Tickermeldungen waren. Ein offener Brief von ForscherInnen der "Gesellschaft für Aerosolforschung" (GAeF) sorgte für Diskussionen. Gerichtet ist das Schreiben an "die politischen Entscheidungsträger der BRD". LeserInnen lernen, die Gefahr befinde sich "DRINNEN", wie die schreienden Buchstaben verraten. Neu ist daran allerdings nichts.
Der Expertenkreis hat die meisten Punkte des breit rezipierten offenen Briefs des GAeF-Vorstands sowie des Aersolforschers Gerhard Scheuch bereits im vergangenen Dezember herausgearbeitet. Luftfilter, korrekt getragene Masken, Abstand halten und draußen von drinnen differenzieren – alles keine Weltneuheit. Eigentlich. "Es ist schon interessant, wie die Presse diesen offenen Brief aufgefasst hat", kommentiert Dittler. Bei Markus Lanz im ZDF etwa habe man gar den Eindruck bekommen können, dass die Tatsache vollkommen neu sei, draußen sei es weniger gefährlich als drinnen. Im Gegensatz dazu erscheint die mehr als vier Monate alte erste Stellungnahme des Expertenkreises "offensichtlich komplett verpufft" zu sein, so der Wissenschaftler.
Zurück zu den Fakten
Für jene, für die es tatsächlich neu war: Aerosole sind Gemische aus Gas und festen oder flüssigen Teilchen. Sie zählen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen derzeit zu den wichtigsten Übertragungswegen für das neuartige Coronavirus. Vergangenen Oktober, als das Beratergremium gegründet wurde, trafen sich die ExpertInnen jeden Freitag via Videocall. Jetzt finden die Digitalkonferenzen nur noch alle zwei Wochen statt – im Moment kämen weniger Anfragen der Ministerien, meint Dittler. Allerdings sei die gegenwärtige Phase der Regierungsbildung wohl auch dafür verantwortlich.
Mit der medialen Kommunikation rund um die Pandemie ist Dittler alles andere als zufrieden. Er kritisiert scharf, dass Meta-Diskussionen die Inhalte verdrängten. Wenn es in Talkshows etwa mehr um Polemik und einen Schlagabtausch an Meinungen gehe, die Vermittlung von Sachinhalten aber zu kurz käme. "Zum Beispiel den Menschen Verhaltensweisen anhand von Eselsbrücken beizubringen", konkretisiert der 51-Jährige. Tatsächlich bleibt manch stiller Beobachtender verwundert zurück: Seit über einem Jahr dominiert die Pandemie die mediale Landschaft. Dennoch scheinen grundlegende Erkenntnisse der Wissenschaft bei vielen Menschen noch nicht ins Bewusstsein vorgedrungen zu sein. Die Maske hängt auf halb acht, Fenster werden nur gekippt (Dittler: "Das ist kein Lüften"), anstatt sie komplett zu öffnen, oder Filtersysteme fungieren als Freifahrtschein dafür, auf andere Schutzmaßnahmen zu verzichten. Dabei betonen WissenschaftlerInnen immer wieder, dass die Maßnahmen nur in der Kombination die beste Schutzwirkung entfalten können.
Nicht jedes Thema ist in 20 Sekunden abgefrühstückt
Wer hat Schuld? Ist es schlechte Kommunikation der Politik? Oder der Wissenschaft? "Die" Medien? Merkel höchstselbst?
Klar ist zumindest: Die WissenschaftlerInnen müssen sich diesen Schuh nicht anziehen. Sie arbeiten hart daran, solide Daten in konkrete und verständliche Empfehlungen umzumünzen. Doch bei der Umsetzung scheint es so, als steckten wir im ersten Level eines Computerspiels fest und kämen nicht weiter, weil die Tastatur nicht angeschlossen ist.
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