Früher schließen, strenger regulieren, mehr verbieten, schneller testen, anders beschaffen und impfen: Nichts, was zur Bekämpfung der Pandemie unternommen wurde, ist sicher vor dem Club der BesserwisserInnen. Mit hurtiger Kritik und massiven Zweifeln werden im Nachhinein Maßnahmen überzogen, die zum Zeitpunkt, an dem sie ergriffen wurden, kaum anders zu treffen gewesen wären. Zum Beispiel weil sie Betroffenen unzumutbar, überhaupt nicht umsetzbar gewesen oder von Gerichten gekippt worden wären. Weil die Akzeptanz in der Bevölkerung genauso gefehlt hätte wie zu Beginn das Verständnis für Maskentragen. Oder weil die Politik nach dem Mehrheitsprinzip entscheiden muss auf der Basis von sich entwickelnden Ratschlägen aus der Wissenschaft, über die dortselbst mitnichten Einigkeit besteht.
In den ersten Märztagen herrschte in Stuttgart jedenfalls noch Normalität. In Vaihingen wurden Bäume gefällt, im Treffpunkt Rotebühlplatz befassten sich Experten mit dem Thema Vermeidung von Verpackungsmüll, die Polizei bereitete sich auf vermehrte Kontrollen von Diesel-Fahrzeugen vor. Allerdings waren gerade die ersten vier Infektionen bekannt geworden, und Stefan Ehehalt stellte sich den Medien. "Unser Ziel ist es, die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus zu verlangsamen und die Dynamik einzugrenzen", sagte der Leiter des städtischen Gesundheitsamts damals. Zehn Monate später sagt er noch immer dasselbe.
Viele Großstädte in ganz Europa mussten auf bis dahin weitgehend unbekannte, zum Teil sehr unterschiedliche Entwicklungen und auf regionale Herausforderungen reagieren. Alle mussten Weichen stellen, die EntscheiderInnen in Politik und Behörden holten sich virologische, epidemiologische und mathematische Kompetenz an den Tisch, Begriffe wie Reproduktionszahl oder R-Faktor, Inzidenz, Lockdown und Herdenimmunität eroberten ihren Platz im Alltagsvokabular. Einen Eindruck von der Reaktionsschnelligkeit gibt die Abordnung von Personal. Auf einer der ersten Pressekonferenzen im Stuttgarter Rathaus wird mitgeteilt, dass zwecks Pandemiebekämpfung Beschäftigte aus dem Jugendamt, dem Schulverwaltungsamt, dem Haupt‐ und Personalamt, der Branddirektion, der Abfallwirtschaft, der Stadtbibliothek, dem Bürgerservice Leben im Alter, dem Amt für Umweltschutz, dem Stadtmessungsamt, dem Tiefbauamt, dem Bezirksamt Bad Cannstatt, dem Amt für öffentliche Ordnung sowie dem Garten‐, Friedhofs‐ und Forstamt bereits zusammengezogen worden waren. Der gängige Vorwurf, natürlich hätten die Verantwortlich wieder mal nicht zügig genug gehandelt, geht an solchen Realitäten vorbei.
Positiver Trend in Stuttgart
Allerorten sind Krisenstäbe gebildet und tun unverdrossen das, wozu sie da sind. Der für die Landeshautstadt traf schon im April eine weitreichende und öffentlich bis heute weitgehend unbeachtet gebliebene wichtige Entscheidung, als er Schutzunterkünfte anmietete – mit den Worten von Ehehalt "ein Gelingensfaktor". Die Landeshauptstadt wird in den folgenden Monaten nie ein Hotspot mit mehr als 200 oder gar mehr als 300 Neuinfizierten auf 100.000 EinwohnerInnen in einer Woche – anders als etliche vergleichbare Metropolen in der Bundesrepublik. Und das trotz der Zehntausenden Beschäftigten, die auch während der Pandemie Tag für Tag ein- und auspendeln und ein besonderes Risiko für die Ausbreitung von Covid-19 darstellen.
Aktuell unterschreitet Stuttgart den Schlüsselwert von 100. "Flatten the curve", dieser Appell aus dem Frühjahr, die Neuansteckungen zurückzudrängen, scheint gelungen. Einen stabilen Fortschritt will daraus noch niemand ablesen, einen positiven Trend allerdings schon. Und nach der Zahl der Toten – 175 Menschen sind in den vergangenen zehn Monaten an und mit Corona gestorben – belegt die Landeshauptstadt einen positiven Spitzenplatz unter vergleichbaren Kommunen, deutlich vor München, Dresden, Potsdam, Chemnitz, Essen oder Nürnberg.
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Jürgen Schmid
am 08.01.2021