KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Verwahrlost

Verwahrlost
|

Datum:

Seit dem Einzug der AfD sei der Ton in den Parlamenten rauer geworden: So lautet eine landauf, landab oft wiederholte Diagnose. Sie ist falsch, weil sie das Übel verharmlost: Der Ton ist notorisch unanständig und torpediert Debatten, die ernsthaft um Lösungen bemüht sind. Die Suche nach Gegenstrategien ist noch nicht erfolgreich.

Mit das Schlimmste sind diese Lachsalven während der Reden von MinisterInnen oder Abgeordneten der anderen vier Fraktionen. Kein Auftritt im baden-württembergischen Landtag ist sicher vor dieser aggressiven Heiterkeit. Niedermachen nicht nur mit Zwischenrufen, sondern mit Exaltiertheiten, dreist, unhöflich, impertinent, damit eine Stimmung entsteht, die eine ernsthafte demokratische Auseinandersetzung erschwert oder sogar verhindert. Niemals könnten AfD-Abgeordnete in in der Familie, beim Bäcker, im Bus oder im Verein überleben mit solchen Manieren, von denen sie meinen, damit ihren Aufgaben als VolksvertreterInnen gerecht zu werden. Wer das klar ausspricht, wer sich zur Wehr setzt oder auch nur wie die grüne Landtagspräsidentin Muhterem Aras und ihre CDU-Stellvertreterin Sabine Kurtz versucht, Ordnung wiederherzustellen, erntet Hohn und Spott. Und läuft Gefahr, mit der immer griffbereiten Meinungsfreiheits-Keule traktiert zu werden.

"Die Tatsache, dass diskriminierende, rassistische und herabwürdigende Äußerungen – entgegen der Argumentation der radikalen Rechten – kein Ausdruck von Meinungsfreiheit sind, muss der Öffentlichkeit stärker als bisher bewusst sein", riet die Bertelsmann-Stiftung schon vor neun (!) Jahren in einer Untersuchung zum Aufstieg rechtspopulistischer Kräfte in Europa. Und weiter: "Je weniger ein diskriminierender Politjargon in der öffentlichen Debatte als legitime Meinungsäußerung angesehen wird, desto schwerer ist es für die radikale Rechte, ihre Ideologie in der Gesellschaft zu verankern." Dass solche Ratschläge eine viel zu geringe Rolle spielten in der Vergangenheit und wie die Zeit darüber hinweggegangen ist, lässt sich in Baden-Württemberg anhand von inzwischen 104 Plenarsitzungen in der 16. Legislaturperiode des Landtags belegen.

Eine ganz normale Woche mit der AfD

Keine Pressemitteilung der AfD-Fraktion ohne Untergriffe: der Vorwurf des "Machtmissbrauchs der neuen Blockparteien", persönliche Angriffe auf die Direktorin des Lindenmuseums oder auf den Vorsitzenden des Landesjugendrings, Kritik an der "völligen Entmachtung des Bundesrats durch die Altparteien", Kritik am Schulterschluss von PolitikerInnen, die sich mit "dem Mob auf der Straße" für die "Seebrücke" engagieren, Kritik an den "selbst bestellten und selbst bezahlten" Wissenschaftlern, die "den menschengemachten Klimawandel zur Religion gemacht" hätten – das ist die Ausbeute von nicht einmal einer Woche, und in anderen Wochen sieht es nicht besser aus. Kein Plenartag ohne Provokationen, ohne Salven von Zwischenrufen, ohne Show-Einlagen am rechten Rand. Vor einer Woche fragt die Abgeordnete Christina Baum, eine bekennende Unterstützerin von Björn Höcke und seinem parteiinternen "Flügel", ob sie Beobachtungsgegenstand des baden-württembergischen Verfassungsschutzes ist. "Fast hätte ich Staatssicherheit gesagt", fügt sie hinzu, und prompt brechen die FraktionskollegInnen in das typische, geradezu verzückte Gelächter aus. "Stimmt ja übrigens", fühlt sich die Zahnärztin angestachelt, "ist ja das Gleiche."

Da steht also eine 63-jährige Thüringerin, die nach eigenen Angaben ab 1981 in der DDR Repressalien ausgesetzt war, weil ihr Bruder in den Westen flüchtete, und kann zwischen Stasi und Verfassungsschutz nicht unterscheiden ("Das muss man mal so sagen"). Und obendrein wundert sie sich, dass Grüne, CDU, SPD und FDP ihr die Mitgliedschaft in jenem parlamentarischen Gremium verwehren, das den Verfassungsschutz des Landes zu kontrollieren hat. Natürlich stellt sie ihre Rede mit den einleitenden Worten "Erneuter Gesetzesbruch durch die sozialistischen Einheitsparteien" via Facebook ins Netz, natürlich gehen die Anzüglichkeiten weiter über die unhaltbaren Zustände in der Republik und den endgültigen Niedergang. "Und später heißt es dann: I C H habe die nicht gewählt", schreibt Baum, "aber das Internet vergisst ja glücklicherweise nichts."

Stimmt. Hunderte Auftritte oder besser: Tausende, denn die AfD hat es mittlerweile in alle 16 deutschen Landtage und in den Bundestag geschafft, stehen im Netz. JedeR könnte und müsste sich einen Eindruck verschaffen vom planmäßig herbeigeführten Verfall demokratischer Sitten. Heinrich Fiechtner oder Wolfgang Gedeon, als Mitglieder der Fraktion vor dreieinhalb Jahren gestartet, dürfen als inzwischen fraktionslose Abgeordnete gemäß der Geschäftsordnung des Landtags zu jedem Tagesordnungspunkt zwei Minuten lang ans Mikrofon. Der Stuttgarter Arzt Fiechnter, mittlerweile aus der Partei ausgetreten, pflegt einen durchaus entspannten Umgang mit früheren KollegInnen. Den beiden Präsidentinnen des Landtags verweigert er beharrlich die korrekte Anrede. Er beginnt mit "Frau Präsident, geehrte Damen, geehrte Herren, sonstige A bis Z". Viele Male ist er auf die richtige Anrede "Frau Präsidentin" hingewiesen worden. Vergeblich. Aras und Kurtz haben vor der Flegelei, die Ausdruck der Verwahrlosung im Miteinander ist, kapituliert. Und das "sonstige A bis Z" sorgt in den AfD-Reihen immer wieder für aufgeräumte Heiterkeit.

Stolz auf die Leistung, herumzupöbeln

Jedes Video, jedes Protokoll zeugt von spektakulären Attacken der völkischen Volksvertreter. Auch der Bundestag ist davor nicht gefeit, im Gegenteil. "Ich bedaure, dass sie uns nicht verrät, welche Herrschafts- und Zersetzungsstrategien sie damals bei der FDJ gelernt hat", sagt der Görlitzer Abgeordnete Tino Chrupalla über die Kanzlerin – in der Bundestagsdebatte zu 30 Jahre Mauerfall. Und weiter: "Wie haben Sie es eigentlich geschafft, Frau Merkel, dass heute wieder ein antifaschistischer beziehungsweise ein antideutscher Trennwall unser Land zerteilt? Diese Entwicklung fällt in Ihre Amtszeit. Dafür sind Sie verantwortlich." Ganz in diesem Geiste rückt Bernd Gögel, der nur angeblich gemäßigte Fraktionschef im Stuttgarter Landtag, gleich zu Beginn seiner Haushaltsrede die Debattenbeiträge von Andreas Schwarz (Grüne) und Wolfgang Reinhart (CDU) in die Nähe "des letzten Verlesens eines Fünfjahresplans der DDR-Volkskammer". Und Baden-Württemberg sieht der 64-Jährige in einem "ökosozialistischen Transformationsprozess".

Solche Absurditäten sind aber längst das kleinere Problem. Ohne überzeugende Antwort ist bisher die Frage geblieben: Was tun? Trotz vieler Anstrengungen derer, wie FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke sagt, aus dem demokratischen Verfassungsbogen. Das erste Mal in seiner 70-jährigen Geschichte wählte der Bundestag in der vergangenen Woche einen Ausschussvorsitzenden ab. Stephan Brandner, dem AfD-Abgeordneten aus Thüringen, wurde der Vorsitz im Rechtsausschuss entzogen. Der gelernte Industriekaufmann und Jurist, ebenfalls ein Freund von Björn Höcke, ist alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Wegen der überdurchschnittlich vielen Ordnungsrufe, die er in seiner Zeit als Landtagsabgeordneter in Thüringen kassierte, empfindet er Stolz und Genugtuung. Er lobt sich als "Pöbler im Parlament", die Kanzlerin hingegen ist für ihn eine "Fuchtel", die er für 35 Jahre in den Knast schicken will.

Jetzt ist er das prestigeträchtige Amt los, nachdem er Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Udo Lindenberg mit dem Hashtag "Judaslohn" diffamierte. Auf die Journalistenfrage, ob die ins Auge gefasste Nachbesetzung eine "integre Persönlichkeit" sein werde, folgt das gewohnte Prozedere der ostentativen Empörung, ganz als wäre derartiges Nachhaken ohne jede Daseinsberechtigung. Was für eine "dumme Frage", meint Fraktionschefin Alice Weidel und packt ihr giftigstes Koloraturlachen aus. Und für Alexander Gauland, den Ko-Vorsitzende der Bundespartei, ist die Abwahl Brandners ohnehin ein "Tabubruch". Der bestand allerdings eher darin, dass der Pöbler im Parlament angesichts seiner Vorgeschichte überhaupt für diesen Vorsitz antrat und gewählt wurde.

Wer verdreht hier was? 

Dass der AfD nach den demokratischen Spielregeln die Leitung von Ausschüssen zusteht, ist unstrittig – ebenso wie die Unfähigkeit der AfD, halbwegs geeignetes Personal für solche Ämter aufzubieten. So werden parlamentarische Spielregeln zu Waffen im Kleinkrieg der Volksvertretung: Wenn die "Altparteien" personelle Zumutungen zurückweisen, stimmen die Rechtsextremen ihre Opfergesänge an: Darüber, wie schlecht die Etablierten die "einzige wirkliche Opposition" (AfD-Sprech) behandeln. Das ist falsch, sorgt aber in der eigenen digitalen Blase für demokratieverächtliche Kommentare und einschlägigen Applaus. Andreas Stoch, SPD-Fraktionschef im Stuttgarter Landtag, wollte eine Initiative starten, die von Fall zu Fall gemeinsames Schweigen vorsah, anstatt mit Zwischenrufen auf Provokationen zu reagieren. Stille, meinte der Sozialdemokrat, könne dröhnender und wirksamer sein "als tausend Worte". Die Idee verlief im Sande, wie all die Rügen, Appelle und Mahnungen, selbst oder gerade die, inzwischen gerichtlich bestätigten, Rauswürfe aus dem Plenarsaal.

Einmal verzeichnete der FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke einen viralen Erfolg, als er der rechten Truppe die Leviten las ("Der neueste Schwank in der Reihe: Die AfD inszeniert sich selbst als Opfer."). Das war schon vor zwei Jahren, als es im Landtag genau um diese demokratischen Spielregeln ging – in einer von der AfD selbst beantragten Debatte. Jörg Meuthen, deren früherer Fraktionschef, der fälschlicherweise immer wieder als gemäßigt bezeichnet wird, drehte Winfried Kretschmann das Wort im Mund herum, um ihm "unbegründete Arroganz" und "parteipolitische Agitation" vorwerfen zu können. Der grüne Ministerpräsident hatte laut darüber nachgedacht, dass etwa 60 Prozent der AfD-Wählerschaft in Umfragen angeben, dass sie die Partei wählen, weil sie von anderen enttäuscht seien – deshalb, fügte Kretschmann hinzu, ließen sie sich womöglich zurückholen. "Wahrscheinlich" gebe es aber "einen Bodensatz", der nicht erreichbar sei. Und was macht Meuthen daraus? "Kretschmann behauptet damit, dass, wer die AfD wegen ihres durch und durch rechtsstaatlichen und demokratischen Programms wähle, Bodensatz sei." Von allen war nie die Rede, sondern nur von einigen. Aber der Professor (miss-)braucht die Steilvorlage für seinen reichlich weit gehenden Kommentar: "Wer so redet, ist alles Mögliche, aber gewiss kein Demokrat."

Grünen-Chef Robert Habeck hat am vergangenen Wochenende einen Diskussionsfaden wieder aufgenommen, der schon länger geknüpft wird als denkbare Gegenstrategie: Weil sich die Parteispitze und so viele ParlamentarierInnen nicht von Höckes "Flügel" distanzieren, sei "die gesamte AfD ein Fall für den Verfassungsschutz" , sagte er auf dem Bundesparteitag der Grünen am vergangenen Wochenende in Bielefeld. Der baden-württembergische Landesverband der AfD wird aktuell nach Auskunft des Innenministeriums „an Hand öffentlich zugänglicher Quellen“ nicht aus den Augen gelassen. Die gesetzlichen Hürden für die offizielle Beobachtung seien aber „relativ hoch“, sagt ein Sprecher, weil eine Organisation Bestrebungen zeigen müsse, „die gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtet sind“. Das sei noch nicht erreicht. Eine Aussage, die angesichts der Entwicklung auch dazu führen könnte, über diese Hürden nachzudenken. Denn auch die Verachtung des Systems gefährdet dasselbe.

 

Ein Fall, in dem eine gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtete Haltung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde, ist der von Marcel Grauf, Mitarbeiter der baden-württembergischen AfD-Landtagsabgeordneten Christina Baum und Heiner Merz. In seinen von Kontext auszugsweise veröffentlichten Facebook-Chats phantasierte er von einem neuen Holocaust oder wünschte sich einen "Bürgerkrieg mit Millionen Toten".  Nun klagt Grauf wegen dieser Veröffentlichung erneut gegen Kontext. Die ihn vertretende Rechtsanwaltskanzlei Höcker hat den Streitwert auf 260 000 Euro beziffert. Dagegen werden wir kämpfen und wünschen uns, dass Sie eine Mitstreiterin, ein Mitstreiter werden.

Spenden Sie unter dem Betreff "Aufrecht gegen rechts" auf das Konto:
KONTEXT:Verein für ganzheitlichen Journalismus e.V.
GLS Bank
IBAN: DE80 4306 0967 7011 8506 00
BIC: GENODEM1GLS

KONTEXT e.V. ist gemeinnützig. Sie erhalten automatisch Anfang Februar die Spendenbescheinigung für das Vorjahr. Bitte geben Sie dazu bei Ihrer Überweisung Ihre Postadresse an.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


8 Kommentare verfügbar

  • Steiner
    am 27.11.2019
    Antworten
    hr/christiane irrt mit ihren verkrampften Hinweisen und dem Zitat: "Die AfD wird es--so fürchte ich--noch ewig geben. Sicher auch bald in Regierungskoalitionen."

    Wer sich mit eine Partei ins Koalitionsbett legt, die einen rüden Haufen von Rechtsextremen beherbergt und mutmaßlich ein politisch…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!