Ja, es stimmt: Die Gesetze zur Veränderung der Gemeindeordnung und der Verfassung in Baden-Württemberg sind im Verzug. Sie sollten längst im Parlament verabschiedet sein. Ja, es stimmt: Die Abstimmungsquoren bei Bürger- und Volksentscheiden werden nur auf 20 Prozent abgesenkt. Vor allem die Grünen hatten ursprünglich weit niedrigere Hürden im Blick. Aber es stimmt eben auch, dass die Gesetzesvorhaben kurz vor ihrer Verabschiedung stehen, mit unstrittig durchaus weitreichenden Verbesserungen für die Demokratie im Land.
Die Verzögerungen sind der Tatsache geschuldet, dass über die Inhalte im Parlament und zwischen den Regierungsfraktionen lange gestritten wurde. Das Parlament hat viele Mitglieder, deren Wurzeln in der Kommunalpolitik liegen. Die Sorgen vor einer Senkung der Quoren und der Beteiligung der Bürger an der Bauleitplanung sind groß. Auch der grüne Oberbürgermeister Salomon aus Freiburg warnt laut davor. Der Gemeindetag, der den Großteil der Kommunen vertritt, findet die neuen Regelungen bedenklich. Er lehnt die Öffnung der Bauleitplanung rundweg ab.
Es gibt einerseits heftige Kritik, die die geplanten Änderungen für unzureichend hält, und ebenso leidenschaftliche Verfechter der Auffassung, die Änderungen seien zu weitgehend und bedrohten die Handlungsfähigkeit der repräsentativen Demokratie. Der Prozess der Kompromissbildung war langwierig. Vor allem deshalb, weil die Verfassungsänderung zur Erleichterung von Volksabstimmungen von CDU und FDP nur unter der Bedingung mitgetragen wurde, dass ein Gesamtpaket geschnürt wurde. Das Prozedere ist umständlich – und ja, es macht ungeduldig. Aber es handelt sich um einen Entscheidungsprozess im Rahmen der parlamentarischen Demokratie.
Ist die Politik des Gehörtwerdens gescheitert?
Ist aufgrund der Verzögerungen und der schwierigen Kompromisse die Politik des Gehörtwerdens ein leeres Versprechen geblieben, verraten von einem Ministerpräsidenten, dem die Macht wichtiger ist als sein Demokratisierungsversprechen? Der noch dazu eine Staatsrätin bestellt hat, die kein Konzept für "Demokratie von unten" hat und höchstens etwas von Familienpolitik versteht? So in etwa der Tenor eines Artikels des verdienten Berliner Politikprofessors Peter Grottian in der letzten Kontext-Ausgabe.
Seine Argumentation sieht er zudem belegt durch einen Bericht, den der Verein "Mehr Demokratie" kürzlich vorgelegt hat: Das Land sei mit nur noch sechs Bürgerentscheiden im Jahr 2014 auf einem Tiefpunkt der Demokratie in den letzten zwei Jahrzehnten angelangt! Diese niedrige Zahl sei vermutlich darauf zurückzuführen, dass die versprochenen Reformen noch immer nicht umgesetzt seien. Baden-Württemberg ist aber das Land, in dem kommunal und auf Landesebene am konsequentesten und intensivsten von allen Bundesländern eine Politik der Beteiligung der Bürgerschaft umgesetzt wird: Beteiligung an Dialogprozessen, bei der Planung von Großprojekten, Bundesstraßen, Hochwasserschutz, Energietrassen und bei der Entwicklung von Konzepten aller Art der Landesregierung und der Kommunen.
Das Land summt und brummt vor Beteiligung. Es ist gerade diese Form der dialogischen Partizipation, der deliberativen Demokratie nach Habermas, mit der ich als Staatsrätin beauftragt wurde: Ich sollte im Rahmen bestehender Gesetze einen Leitfaden für Bürgerbeteiligung bei Infrastrukturvorhaben entwickeln – dieser Planungsleitfaden liegt vor und wird im Land bei allen Großprojekten der Landesregierung angewandt. Bundesweit stößt er auf reges Interesse.
Mehr Beteiligung in den Kommunen
Die Dialogprozesse auf kommunaler Ebene haben sich ebenfalls drastisch vermehrt und verbessert. Verwaltungen verstehen die Methoden nun besser. Sie haben gelernt, die Vorschläge der Bürgerschaft tatsächlich zu prüfen und ernst zu nehmen, nicht einfach in die Schublade zu legen. 239 kommunale Projekte wurden seit 2012 als Bewerbungen bei den beiden Leuchtturmwettbewerben des "Staatsanzeigers" eingereicht. Sie wurden ausführlich dargestellt und dadurch in allen Amtsstuben bekannt.
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Stuttgarter
am 22.01.2016