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Augen zu und fromm

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Anfang Juni gibt es wieder einen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart, zum vierten Mal schon nach Kriegsende. Mindestens 100 000 Besucher werden erwartet zu diesem Hochamt des deutschen Protestantismus. "Damit wir klug werden", heißt das Motto. Das reizt unseren gottlosen Gastautor zur Widerrede.

In Zeiten wie diesen tut seelische Stärkung zugegebenermaßen gut. Da ist es so hilfreich für die Gäste wie nützlich für das Ansehen der Institution, wenn fünf Tage lang junge und alte Gläubige in hellen Scharen zuhören und reden, singen und beten. Und feiern: ihren Gott, ihren Glauben, ihre Kirche.

Deren frohe Botschaft von der göttlichen Himmelsmacht, die es im Prinzip gut meint mit ihren Geschöpfen, kritisch zu bedenken – so etwas hat kaum Platz unter den rund zweieinhalbtausend Programmpunkten beim Stuttgarter Großevent. Einerseits ist das nicht weiter verwunderlich; denn Religionen und speziell die des christlichen Abendlands gibt es noch immer vor allem deshalb, weil sie ihren Anhängern überwiegend gute Gefühle verschaffen. Und die bekommt man bekanntlich nicht so sehr durch Zweifel und Einspruch.

Andererseits: Hat man denn nicht auch oder sogar gerade heute hinreichend Anlass, religiösen Beteuerungen und Verlockungen auf den Zahn zu fühlen? Also wenigstens den Versuch einer Klärung zu unternehmen, was denn wohl dran sein mag an der noch immer so populären Vorstellung von einem Wesen, für das der viel versprechende Terminus "lieber Gott" nach wie vor der mit Abstand gebräuchlichste ist?

Man hat. Oder richtiger: man hätte. Stattdessen wird er aber auch diesmal weiträumig umfahren, der heikle Diskurs über das zentralste Thema von Glauben. Plastisch umschreiben ließe es sich so: Ist da jemand? Oder ist, weil der transzendente Adressat fehlt, das Gebet eines Kirchentagsbesuchers doch immer nur Selbstgespräch?

Entgegen den üblichen Reflexen kommt es hier nicht auf finale Beweise an. Die sind, wie sich in zwei Jahrtausenden Geistesgeschichte hinreichend gezeigt hat, nun mal nicht zu haben. Gefragt und verfügbar sind hingegen Argumente. Und dann die Bereitschaft, biblisch gesprochen, auch auf diesem Felde die Spreu zu trennen vom Weizen. 

Das jüngste Erdbeben im fernen Nepal beispielsweise, mit seinen vielen Tausend Toten und vielen Tausend Verletzten, Verstümmelten, Obdach- und Hoffnungslosen, könnte aktueller Grund sein zum öffentlichen Nachdenken über die uralte und doch nie verstummende Theodizeefrage.

Fast täglich erkundet die Wissenschaft Neues über unser Universum, das mittlerweile auf eine Ausdehnung von 100 Milliarden Lichtjahren und etliche Trilliarden Sterne geschätzt wird; und in dem Homo sapiens auf einem stellaren Staubkorn am Rande der Milchstraße nach christlicher Lesart für einen göttlichen Schöpfer des Ganzen ganz persönlich so ungeheuer wichtig sein soll. Eine Vorstellung übrigens, die typisch ist: Wenn überhaupt, wird die Gotteshypothese heute meist noch genauso diskutiert, als hätte es Kopernikus, Darwin, Freud und die Erkenntnisse der modernen Astrophysik oder Biochemie nie gegeben.

Wie passen überhaupt, bei Betrachtung so kühner religiöser Konstrukte, Glaube und Vernunft zusammen? Die Antwort konventioneller Theologie, von Margot Kässmann bis Josef Ratzinger, wonach sich beide großartig vertragen, müsste eigentlich enorme Debattierlust auslösen. Tut sie aber nicht.

Die Bibel, das Buch der Bücher und angeblich geoffenbarte Basis des Christentums: Müsste sie sich nicht auch einmal auf einem Kirchentag kritische Reflexion gefallen lassen wegen der immer neuen und ziemlich unbequemen Erkenntnisse von Archäologen, Historikern und Philologen hinsichtlich des dringenden Verdachts, in erschreckend weiten Teilen vorrangig eine Sammlung üppiger, interessengeleiteter Fantasien von ganz und gar irdischen Urhebern zu sein? Dass sie irgendwie doch Gottes Wort bleiben soll und es sie nur richtig zu verstehen gilt – wofür dann wiederum die theologischen Experten zuständig sind –, ist keine wirklich befriedigende Auskunft.

Wäre es nicht reizvoll oder sogar geboten, in der Schleyerhalle vor ein paar Tausend Leuten einen Dialog zu inszenieren zwischen sagen wir: Joachim Gauck, dem Expfarrer, und Richard Dawkins, dem bekanntesten Häretiker unserer Zeit? Für dergleichen bräuchte es allerdings die Courage, den Kirchentag keineswegs nur, aber auch zum Ort fundamentaler Kontroverse zu machen. Den Akzent also nicht so dominant auf Gemeinschaft zu legen, auf christliche Praxis und auf Ermutigung zu glaubendem Vertrauen.

Bei Suchworten wie Wissenschaft, Vernunft, Universum, Bibelkritik stellt die digitale Programmdurchsicht fest: "Leider kein Treffer." Nicht, dass die behandelten Themen, sie reichen von Arbeit und Armut bis zur Lebendigen Kirche mit Kindern, irrelevant wären. Und doch gibt es da eine riesige Leerstelle: Kritische Selbstbefragung im Blick auf die Glutkerne des Glaubens bleibt verpönt.

Vor fast dreihundert Jahren erblühte in Europa die Aufklärung. Philosophen, kritische Theologen und andere Gelehrte beugten sich über die christliche Religion und begannen sie zu sezieren. Was sie wollten? Klug werden. Sich also nicht mehr zufriedengeben mit den Beteuerungen von Päpsten, Priestern, gottergebenen Professoren und ehrfurchtgebietenden Schriften. Sondern, dank neuer Freiheiten, aus neuen Erkenntnissen und Theorien neue, vernunftgemäße Perspektiven gewinnen.

Zwar wurden keineswegs alle Aufklärer Atheisten. Nicht wenige, darunter Rousseau, Descartes und sogar Voltaire, hielten an theistischen Vorstellungen fest. Ihnen allen gemeinsam war aber die Überzeugung, dass auch bei der Sache mit Gott nicht anbetendes Kapitulieren geboten sei, sondern mutiges, munteres Denken und Forschen. Ein leuchtendes, unvergängliches Beispiel für diese Geisteshaltung gab Immanuel Kant – auch er ließ nie vom Glauben ab –, als ausgerechnet am Allerheiligentag 1755 zunächst ein Erdbeben, dann ein Großbrand und schließlich ein Tsunami Lissabon heimsuchten und mehrere Zehntausend Menschenleben kosteten. Der Philosoph, der seine Definition von Aufklärung als Hervorgehen des Menschen aus selbst verschuldeter Unmündigkeit leidenschaftlich ernst nahm, blieb dem Chor der vielen Zeitgenossen fern, die die das ganze christliche Europa schwer erschütternde Tragödie prompt als göttliches Wirken deuteten, als Strafaktion für Unmoral und Glaubensabfall. Kant hingegen, im fernen Königsberg, verschaffte sich so viel empirisches Material, wie er nur konnte, und entwickelte nach dessen Analyse eine These: Beben und Flutwelle durch Explosion von mit heißen Gasen gefüllten Höhlen unterm Meeresboden. Falsch – und dennoch der bewunderungswürdige erste Versuch eines systematischen Ansatzes zur Seismologie, wo andere willkürlich, aber traditionalistisch übernatürliche Mächte am Werke sahen.

Wir Heutigen müssen die Aufklärung nicht heiligsprechen. Sie hat Unfug hervorgebracht und groteske Selbstüberschätzung, bodenloses Spekulieren, menschenferne Konzepte, abwegige Prognosen, Vergötzung des Rationalen. Und doch hinterließ sie den Nachgeborenen ein Bewusstsein vom Rang des Strebens nach Wahrheit.

Konsequent liebevoll gehen wir Heutigen mit diesem Erbe nicht um. Viel zu oft malträtieren wir es. Unsere gegenwärtige Welt ist zwar voller Laboratorien, zugleich aber voller Ignoranz, Vorurteile und der speziell im Westen grassierenden "Anything goes"-Ideologie, die nahezu jeder beliebigen Idee einen Freifahrtschein ausstellt, unter Berufung auf Toleranz und eine Vielfalt, die doch oft genug nichts ist als Einfalt. Abgründiges Misstrauen und Unverständnis gegenüber Wissenschaft und nüchterner Vernunft sind keineswegs beschränkt auf Esoteriker, sondern überall anzutreffen, auch in akademischen Kreisen. Der intellektuelle Aberwitz von Astrologie und Homöopathie, abenteuerliche Ammenmärchen von mysteriösen Energien und Strahlungen sind Beispiele für einen finsteren, von keinerlei Aufklärungsdrang zeugenden Hang zum Aberglauben. Der aber nicht befürchten muss, als solcher bezeichnet und geächtet zu werden.

Zurück zum Kirchentag. Natürlich haben sich dessen Veranstalter etwas gedacht bei ihrem schönen Motto "... damit wir klug werden". Klingt gut. Schmeckt nach Denkarbeit, nach beherztem Prüfen, nach Aufhellung von bislang im Dunkeln Gebliebenem. Stammt aber aus dem zwölften Vers von Psalm 90 des Alten Testaments, und der geht in der Luther'schen Übersetzung so: "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden." 

Hier also fangen die Missverständnisse schon an, und zweifellos sind sie gewollt. Denn diese Losung meint ja offenkundig eine sehr spezielle Form von Klugheit: eine, die viel mit unterwürfiger Demut zu tun hat und die an die Einsicht des Menschen in seine Endlichkeit die verwegene These seines Angewiesenseins auf jenen Allmächtigen koppeln will. Ohne ihn, so sollen wir begreifen, gibt es weder Lebenssinn noch rettende Erlösung. Von kecker Neugier und selbstbewusstem Interesse, herauszufinden, wie es sich denn wohl tatsächlich verhält mit dieser Welt und bei der Sache mit Gott, weiß dieser eher angstvoll gebückte Mensch wenig. Sein unausgesprochenes Motto heißt: "Augen zu und fromm."

 

Peter Henkel hat nach langen Jahren als Korrespondent der "Frankfurter Rundschau" in Stuttgart mehrere religionskritische Bücher geschrieben, darunter den Briefdialog mit Norbert Blüm "Streit über Gott" sowie "Irrtum unser! oder Wie Glaube verstockt macht".

Info:
Unter dem Motto "Damit wir klüger werden" wollen die Humanisten Baden-Württemberg in einer Aktionswoche vor dem Kirchentag einen Beitrag zur Aufklärung im 21. Jahrhundert leisten. Am 18. Mai etwa spricht der Comic-Zeichner Ralf König über "Gottes Werk und Königs Beitrag". Das ganze Programm <link http: gbs-stuttgart.de aufklaerung _blank>finden Sie hier.


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4 Kommentare verfügbar

  • Ulrich Frank
    am 14.05.2015
    Antworten
    Wohl zu Recht weist Peter Henkel darauf hin daß das griffig verkürzte Motto der Veranstaltung: "... damit wir klug werden" zunächst einmal vor allem "gut klingen" soll - durchaus im Sinne von appellierender Werbung und Public Relations. Und dies schon auch mit der abrundenden Vorwegnahme von Seiten…
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