KONTEXT:Wochenzeitung
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Nichts sehen, nichts hören, nichts tun

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Ausländerfeindlichkeit und rechte Gewalt sind der böse Stachel im Fleisch einer demokratischen Gesellschaft. Aber woher kommt das eigentlich? Eine Betrachtung bundesdeutscher Realitäten aus soziologischer Sicht.

Die Aufdeckung der rechtsextremen Serienmorde in den Jahren von 2000 bis 2007 hat mehr als nur ein Entsetzen ausgelöst. Die Morde waren in der Tat entsetzlich, der Umgang der staatlicher Behörden damit allerdings nicht minder. Ganz offenkundig hat etwa ein Landesamt des Verfassungsschutzes Rechtschreibfehler in den Flugblättern der Neonazis korrigiert und die Szene durch Gelder an V-Leute mit aufgebaut. Was aber noch schwerer wiegt – einflussreiche Ermittler tun jetzt viel dafür, die Aufklärung der Morde zu verhindern. Überdies sterben aussagewillige Zeugen kurz vor ihrer Vernehmung, und von Ermittlungseifer ist auch in diesen Fällen oft so gut wie nichts zu spüren. Seitdem das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz 2011 angewiesen wurde, Akten über V-Leute zu vernichten, berichten Mitglieder der inzwischen eingerichteten Untersuchungsausschüsse immer wieder, dass sie wichtige Informationen nicht, wie zu erwarten wäre, von Behörden bekommen, sondern von emsig recherchierenden Journalisten. Offenbar agieren hier ganz ungeniert Gruppen aus den Sicherheitsapparaten vorbei an Parlamenten und Regierung, bestehen innerhalb der Geheimdienste seit Jahren Strategien, Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit massiv zu untergraben.

Bei einem derart flächendeckenden Rechtsbruch stellen sich natürlich Fragen nach den Konsequenzen für eine Gesellschaft, die weder den Anspruch einer demokratischen Rechtsstaatlichkeit aufgeben noch die unheimliche Macht der Geheimdienste oder rechten Terror ertragen will.

Dass zahlreiche wichtige Informationen über die Morde und Vertuschungsversuche überhaupt ans Licht gekommen sind, lässt wenigstens hoffen. Dies ist ebenso ein Verdienst recherchierender Journalisten wie aktiver Gruppen und Einzelpersonen, die dokumentieren, publizieren und demonstrieren. Trotz des Engagements und erfolgreicher Aufdeckungen bleibt jedoch der Skandal des Faktischen, nämlich die Morde und die Versuche, sie zu verschleiern. Es bleibt das böse Gefühl, dass sich der Verfassungsschutz von Rechtsextremisten instrumentalisieren ließ, und es bleibt das unheimliche Sterben von mindestens drei Zeugen, die ankündigten, über die Morde aufklären zu wollen.

Was schützt eigentlich der Verfassungsschutz?

Die Verunsicherung über die Praxis der Geheimdienste wird solange bestehen bleiben, wie nicht aufgedeckt ist, wer genau für die "Geschichte hinter den Geschichten" (Krimiautor Wolfgang Schorlau), die "ordnende Hand im Hintergrund" (Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow) oder eine "noch immer nicht kontrollierte Sicherheitslobby" (der Publizist  Micha Brumlik und der Politikwissenschaftler Hajo Funke) verantwortlich ist und was der Verfassungsschutz eigentlich schützt. Bleibt hier eine lückenlose Aufklärung aus, dann wird das Misstrauen in die etablierte Politik weiter wachsen. Jetzt schon stellen sich die Fragen, warum es Politiker zulassen, dass sich Geheimdienste außerhalb parlamentarischer Kontrollen etablieren können und warum Politiker Teile der Geheimdienste ermächtigen, einen Ausnahmezustand zu institutionalisieren.

Eine zweite Konsequenz betrifft das Verhältnis zur sogenannten migrantischen Community, also jenen Gruppen und Familien, die seit über 60 Jahren in Deutschland leben und jetzt verstärkt zum Objekt von Fremdenhass werden. Während Angehörige der Ermordeten sofort auf mögliche rechtsextremistische Täter hinwiesen und auch staatsanwaltschaftliche Ermittlungen in diese Richtung liefen, setzte sich aber jener institutionalisierte Rassismus durch, der genau das verhindern wollte und will. Ermittlungsergebnisse wurden nicht weitergegeben, Zeugen nicht gehört und sogar zum Schweigen aufgefordert. Eine Frage, die sich heute viele stellen, ist, warum die Hinweise der Opferangehörigen so wenig gehört wurden, auch und gerade innerhalb der Zivilgesellschaft. Warum konnte sich eine Ermittlungslinie durchsetzen, die auf der Verdrängung und Leugnung rechtsextremer Gewalt basierte? Es steht die Frage im Raum, woher die Distanz zur migrantischen Community kommt, und sie geht einher mit dem dumpfen Gefühl, selbst irgendwie an der Verdunkelung beteiligt zu sein.

Über 100 Menschen von Rechtextremen ermordet

Rechtsextremismus, das hat Außenminister Frank Walter Steinmeier gerade wieder betont, schadet dem Ansehen Deutschlands in der Welt. Dies war besonders 2006 angesichts der bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft und der damit verbundenen wirtschaftlichen Gewinne von Bedeutung. Hier wurde offenbar politisch entschieden, dass es besser sei, wenn sich Deutschland weltoffen präsentiere. Nachdem eine Fallanalyse im Jahr 2006 festgestellt hatte, dass den Serienmorden "Hass-Kriminalität", also Rechtsextremismus zugrunde liegen könnte, wurde in Baden-Württemberg eine zweite "operative Fallanalyse" angefertigt, in der sich eine Selbstdarstellung deutscher Zustände für die Weltöffentlichkeit findet: "Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist." Ist die "Tötung von Menschen in unserem Kulturraum" tatsächlich mit einem "hohen Tabu belegt"? Dazu ein paar Fakten: Jede Woche sterben in Deutschland zwei Kinder an den Folgen häuslicher, meist elterlicher Gewalt. Alle 49 Minuten stirbt hierzulande ein Mensch durch Selbstmord. In den ersten zehn Jahren nach dem Zusammenbruch der DDR wurden über einhundert Menschen in Deutschland von Rechtsextremen ermordet. Die Tötung von Menschen ist in unserem Kulturraum tatsächlich mit einem hohen Tabu belegt, allerdings mit dem Tabu des Schweigens. Die Selbstbeschreibung einer friedlichen, offenen Gesellschaft klingt zwar gut, sie spiegelt aber vor allem ein beharrliches Verdrängen der wirklichen Zustände wider.

Eine weitere Konsequenz aus den Serienmorden wäre, endlich wahrzunehmen, dass rechtsextreme Gewalt besonders in der DDR einen guten Nährboden hatte. Schon in den 70er-Jahren gab es aus den Reihen der evangelischen Kirche in der DDR erfolglose Versuche, rechte Gewalt zu thematisieren. Umfragen aus dem Jahr 1990 zeigen, dass die Ausländerfeindlichkeit Jugendlicher aus den neuen Bundesländern dort schon lange höher ist als in den alten Bundesländern. Und selbst die jüngsten Zahlen, die der Bundestag in diesem Monat bekanntgab, weisen darauf hin. So gab es im Jahr 2014 insgesamt 162 Übergriffe auf Asylbewerberheime, 34 davon in Berlin, 60 in den neuen Bundesländern, 68 in den alten. Rechnet man diese Zahlen auf die Einwohnerzahl um, ohne Berlin zu berücksichtigen, dann zeigt sich, dass die Zahl  der Übergriffe auf Asylbewerberheime in den neuen Bundesländern knapp fünf Mal so hoch sind wie in den alten. Hohe Arbeitslosigkeit und schlechte Berufsaussichten sind hier nur eine Erklärung. Jener Sozialcharakter, dem rechtsextreme Gewalt zugrunde liegt, hat zwar in der wilhelminischen Abrichtung zum deutschen Untertanen seinen Ursprung, er konnte sich aber im autoritären sozialistischen Versuch der DDR offenbar gut verpilzen. "Fidschis klatschen" war schon zu DDR-Zeiten eine beliebte Wochenendbeschäftigung Jugendlicher. Den Behörden war der Rassismus ihrer Jugendlichen bekannt. Er wurde aber, in guter deutscher Tradition, verschwiegen oder als "Rowdytum" verharmlost.

Dabei hat die rechtsextreme Untertanenmentalität ihre gesamtdeutsche Geschichte. Sie gründet auf einem Gesellschaftsideal, das "Zucht und Ordnung" hoch hält, das durch Strenge und Strafen zur Anpassung zwingt, das entwürdigt und verängstigt. Die "Zitterepidemien" unter Schulkindern der 20er-Jahre sind einer der vielen Belege dafür. Der zugerichtete Untertan sucht sein Heil in Gruppen, die ihn stark machen, weil er dort, psychologisch gesprochen, seine Erniedrigung abspalten und auf andere – damals Juden, Kommunisten und Homosexuelle, heute vorwiegend Ausländer und Homosexuelle – projizieren, und so verdrängen kann. Dieser Mechanismus hat an Aktualität nichts verloren. Rechtsextreme Ideologien sind auch Ausdruck erfahrener Erniedrigung und Gewalt. Um die Einsicht in diese Erfahrungen und damit eine Verunsicherung des eigene Selbstbilds abzuwehren, wird Gewalt gegen andere ausgeübt. Dabei symbolisiert das Objekt des Hasses das eigene Verlangen. Die Lebensverhältnisse der ermordeten Migranten etwa stehen für jene bürgerliche Sicherheit und gelungenes Ankommen im "Wirtschaftswunderland", nach dem sich die verunsicherten Rechtsextremisten sehnen. Der Hass auf die Fürsorge, die Asylanten angeblich zuteil wird, spiegelt die eigene Sehnsucht nach Fürsorge. Die Mitläufer und Träger der rechtsextremen Ideologien begründen ihre Fremdenfeindlichkeit immer wieder mit Sätzen wie: "Uns hat ja nach der Wende auch niemand geholfen und gefragt, wie es uns ging."

Vergebliches Warten auf blühende Landschaften

Pegida und andere Gruppen bereiten Ausländerfeindlichkeit und rechtsextremem Terror nicht nur den Boden, sondern entfesseln ihn sogar. Das zeigt der Anstieg rechtsextremer Gewalt seit Oktober letzten Jahres. Darüber hinaus sind diese Phänomene auch eine nachgeholte autoritäre Rebellion gegen wiederholt enttäuschte Illusionen. Illusionen nicht zuletzt über das vergebliche Warten auf die "blühenden Landschaften" des Wirtschaftswunderlands, das Bundeskanzler Helmut Kohl versprochen hatte. In dem Jahr, als der NSU in den Untergrund abtauchte und das Morden organisierte, glaubten nur noch 14 Prozent der Ostdeutschen, ihre wirtschaftliche Situation werde sich verbessern. 1994 war es noch die Hälfte gewesen.

Die "blinden Flecken" der Gesellschaft, die seit der Aufdeckung der rassistischen Morde sichtbar werden, zeigen sich also nicht nur darin, dass, offenbar geduldet oder gefördert von Politikern, eine struktiv rechtsextreme und verfassungsfeindliche "Macht hinter der Macht" entstehen konnte. Sie betreffen auch das Selbstbild der bundesdeutschen Gesellschaft, die sowohl eigene alltägliche Gewaltverhältnisse verdrängt, als auch die Stigmatisierung bestimmter kultureller Milieus betreibt – auf Kosten der Rechtsstaatlichkeit und auf Kosten von Menschenleben.

Tiefes Misstrauen gegenüber Geheimdiensten gab es in Deutschland übrigens schon einmal. Allerdings richtete es sich nicht auf den Verfassungsschutz, sondern auf den Staatssicherheitsdienst der DDR, die Stasi. Dieser Geheimdienst galt als einer der mächtigsten – und wurde wirkungslos, als die Bevölkerung ihre Angst verloren hatte. Ein bitterer Treppenwitz nur, dass auf diese Entmachtung auch der braune Terror folgte. Freiheit von Bevormundung und Überwachung geht eben nicht selbstverständlich einher mit Freiheit zu Mündigkeit und gleichberechtigtem Miteinander. Letztere kann nur erlernt, erstritten und durchgesetzt werden. Bedingungen für diesen Prozess könnten viel stärker unterstützt werden. Eine davon ist politische Bildung, an der aber zunehmend gespart wird.

Denn die Ursachen des Problems sind gesellschaftliche Verhältnisse, die Ausländerfeindlichkeit und Rassismus samt ihrer Ideologien hervorbringen oder zulassen. Dem kann man vor allem auf zwei Ebenen begegnen. Die erste betrifft die materiellen Lebensverhältnisse. Es ist inzwischen beinahe eine Alltagsweisheit, dass Rechtsextremismus besonders dann gut gedeiht, wenn Menschen verunsichert und enttäuscht sind. Europaweit gilt der Rechtsextremismus als Begleiterscheinung neoliberaler, strenger Sparpolitik. Dabei geht es nicht nur um prekäre Arbeitsverhältnisse, schlechte Löhne, fehlende Arbeitsplätze und zu hohe Mieten, sondern auch um enttäuschte Erwartungen. Dagegen ließe sich durch politische Maßnahmen etwas unternehmen.

Die andere Ebene betrifft eine politische Bildung, die nicht oberlehrerhaft daherkommt, sondern sich als wechselseitiger Prozess zwischen Gleichberechtigten begreift. Der Weg zum Rechtsextremismus wird auch dadurch geebnet, dass die Leute mit ihren Anliegen von der institutionalisierten Politik nicht gehört werden. Stattdessen werden sie mit Hinweisen auf eine "Alternativlosigkeit" der gegebenen Verhältnisse oder auf "Marktzwänge" zur Anpassung aufgefordert. Als eine Option, sich dennoch Gehör zu verschaffen, erscheint Gewalt. Das trifft etwa auf die Jugendrevolten in den französischen Banlieus, London und Stockholm sowie zumindest auf Teile der deutschen Rechtsextremen zu. Die, die heute Anfang 20 sind, haben die Erfahrung gemacht, dass sie während ihrer gesamten Bildungs- und Ausbildungslaufbahn immer wieder zum Mitreden aufgefordert wurden.

Und sie haben die Erfahrung gemacht, dass sich dieses Mitreden nicht wirklich niedergeschlagen hat. Aufforderungen zur Mitsprache, wie sie gegenwärtig etwa durch "Bürgerdialoge" und "Beteiligungsverfahren" propagiert werden, produzieren ebenfalls oft Enttäuschungen, weil keine Einbindung in Entscheidungen stattfindet – oder sich Politiker schlicht darüber hinwegsetzen.

 

Unsere Autorin Annette Ohme-Reinicke ist Soziologin und Lehrbeauftragte am Philosphischen Institut der Universität Stuttgart. Im Rahmen der "Internationalen Wochen gegen den Rassismus" hält Ohme-Reinicke einen Vortrag über zivilgesellschaftliches Handeln gegen rechtsextreme Gewalt: Der Vortrag "Blinde Flecken der Zivilgesellschaft" findet am 21. April um 19 im Stuttgarter Ratshaus, Mittlerer Sitzungssaal, statt. Der Eintritt ist frei.


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5 Kommentare verfügbar

  • Klaus
    am 16.11.2015
    Antworten
    Das ist mir dazu vor Augen gekommen heute:

    http://www.sueddeutsche.de/digital/blogeintrag-zu-terroropfern-sind-arabische-leben-weniger-wert-1.2739151

    Alle Leben sind gleich wertvoll. Unmeßbar wertvoll in Geld.
    Keines ist auszuschließen.
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