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Dokumentensammlung zu Willi Bleicher

Linker Dickschädel

Dokumentensammlung zu Willi Bleicher: Linker Dickschädel
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Der in Bad Cannstatt geborene Willi Bleicher war eine der prägenden Figuren der deutschen Gewerkschaftsbewegung nach dem Krieg. In einem großen Dokumentenband präsentiert der Journalist und Bleicher-Biograf Hermann G. Abmayr nun ein Nachschlagewerk, das neue und unerwartete Einsichten bietet.

Dass der 1. Mai der Feiertag der Arbeiterklasse sein soll, hatte Willi Bleicher schon als Kind verinnerlicht, als es noch kein Feiertag war. "Ich erinnere mich sehr wohl an einen 1. Mai, der auf einen Sonntag fiel", erzählt der 1907 geborene Bleicher 1973 in einem Interview mit dem Journalisten Klaus Ullrich. Er und seine Familie, so Bleicher, "wohnten damals unmittelbar bei der Firma Daimler, da waren sämtliche Arbeiter an diesem 1. Mai mit dabei. Die Kinder waren festlich gekleidet mit Kränzen auf dem Haar und langen Zöpfen und weißen Kleidchen. Der 1. Mai war ein Begriff."

Entsprechend frustriert ist er, als am 1. Mai 1933 die Arbeiter Seit' an Seit' mit den Unternehmern laufen, dass sie rote Fahnen mit aufgenähten Hakenkreuzen aus den Fenstern hängen. Die Nazis – wenige Monate an der Macht – haben den Tag zum Feiertag gemacht, um tags darauf, am 2. Mai, die Gewerkschaften zu zerschlagen.

So wichtig ist Bleicher der Tag, dass er selbst als Häftling im KZ Buchenwald mit seinen Mitgefangenen ab 1939 oder 1940 jedes Jahr 1.-Mai-Feiern organisiert: "Wir haben des 1. Mais gedacht, des Weltfeiertages der Arbeit, und wir haben uns verpflichtet, an der Idee, die diesem Weltfeiertag zugrunde lag, festzuhalten, mag kommen, was da wolle. Und wir haben damals Gedichte erarbeitet; wir hatten den einen oder anderen [Häftling], der in diesen Dingen recht, recht produktiv sein konnte. Wir haben immer dieses 'Brüder, zur Sonne ...' gesummt." Dass so eine Feier im KZ überhaupt möglich ist, liegt daran, dass die Häftlinge sie in einem Raum abhalten, den das SS-Personal aus Angst vor Läusen und Krankheiten lieber meidet: in den Kellerräumen unter der Effektenkammer, wo den Neuankömmlingen nach Abgabe ihrer Habe die Haare geschnitten werden und sie in ein Desinfektionsbad steigen müssen.

Was für eine Bedeutung der Tag für Bleicher auch lange nach Krieg und NS-Terror noch hat, zeigt sich etwa im November 1969 bei einer Vorstandssitzung des DGB Baden-Württemberg. Bleicher ist damals Bezirksleiter der IG Metall in Baden-Württemberg und geht die Kollegen vom DGB scharf an, weil diese nichts Richtiges zum 1. Mai planten: "Man habe ihn bisher 'abgewickelt', aber man habe nichts unternommen, um Wesen und Sinn dieses Feiertages der Arbeit im Bewusstsein der Arbeitnehmerschaft lebendig zu erhalten", gibt das Protokoll der Sitzung Bleichers Kritik wider. "Er sehe kein Stückchen Tradition mehr, auch wenn man am Vorabend noch ein 'Feierchen' in der Liederhalle veranstalte, er sehe kaum noch eine Spur Idealismus." Trotzdem ist Bleicher überzeugt, "dass, wenn man die Funktionäre, die Be­triebsräte und Vertrauensleute mobilisiere, sehr wohl eine eindrucksvolle Kundgebung auf dem Stuttgarter Marktplatz zustande komme".

Briefe aus dem KZ an die Familie

Wenn im Protokoll schon so scharfe Kritik stehe, "muss man sich wahrscheinlich noch die ganzen Flüche und Schimpfworte dazu denken, für die Bleicher bekannt war", sagt der Journalist Hermann G. Abmayr. Abmayr ist vielleicht einer der besten Kenner von Willi Bleicher, diesem widerspenstigen, enorm streitbaren Linken. Er hat bereits 1992 eine umfangreiche Bleicher-Biografie, Titel "Wir brauchen kein Denkmal", herausgegeben. 2007, zum 100. Geburtstag Bleichers, drehte er über ihn den Dokumentarfilm "Wer nicht kämpft, hat schon verloren".

Und jetzt hat er einen Dokumentenband zu Bleicher veröffentlicht. Die "Texte eines Widerständigen" umfassen neben Gesprächsprotokollen wie dem der DGB-Sitzung unter anderem viele Briefe, besonders aus seiner Zeit im Gefängnis und im KZ während der NS-Diktatur, Reden auf Kundgebungen, Gewerkschaftsveranstaltungen und zwei lange Interviews über sein Leben. Eine fast 500 Seiten lange Sammlung mit vielen erläuternden Kommentaren, und sie ist laut Abmayr "nicht dafür vorgesehen, von Anfang bis Ende gelesen zu werden. Er hat eher den Charakter eines Nachschlagewerks." Ein Nachschlagewerk, das in vielerlei Hinsicht fruchtbar ist: Natürlich für die Lebensgeschichte Bleichers, aber auch für Interessierte an der Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung vom Kriegsende bis in die 1970er, an der Geschichte des Terrorapparats der Nazis, am Umgang mit der NS-Vergangenheit in den ersten Jahrzehnten nach Kriegsende.

Wer sich schon so intensiv mit Bleicher beschäftigt hat wie Abmayr, kennt längst alle Quellen, sollte man denken. Doch in den Band konnte er auch einige Dokumente packen, die selbst für ihn neu waren. So lagen ihm viele der Briefe von 1936 bis 1944 bisher nicht vor, die Bleicher aus verschiedenen Gefängnissen und dem KZ Buchenwald an seine Familie und an seine Freundin Helene Beck schrieb. In dem neuen Band sind sie nun erstmals abgedruckt. "Die Briefe bringen ein ganz neues Bild von Bleicher zum Vorschein, ein persönliches", sagt Abmayr. Denn erst durch sie werde deutlich, "wie sensibel, was für ein Familienmensch er war, was für eine enge Beziehung er zu seiner Mutter hatte".

Was Abmayr bislang auch nicht komplett, sondern nur in Auszügen vorlag, war das Interview, das der SDR-Journalist Klaus Ullrich 1973 mit Bleicher führte. Das Gespräch erstreckte sich über mehrere Tage, die Aufzeichnung auf Spulentonbändern ist rund elfeinhalb Stunden lang. Eine erste Niederschrift davon entstand schon 1973, doch die enthält viele sinnentstellende Widergaben und falsch geschriebene Namen, die nie korrigiert wurden. 2007 fand Abmayr bei den Arbeiten für seinen Bleicher-Film die Tonbänder im Nachlass von Klaus Ullrich und digitalisierte sie. Für die Dokumentensammlung erstellte der Historiker Lothar Letsche ein neues Transkript und bereinigte alle Ungereimtheiten des alten. Trotz einer behutsamen Anpassung an die Schriftsprache liest es sich sehr lebendig, gibt Bleichers teils sehr eigenen Sprachduktus wider. Und weil es rund ein Drittel des Bandes umfasst, fast 150 Seiten, und von der Kindheit bis in die frühe Nachkriegszeit reicht, hat es fast den Charakter einer kleinen Autobiographie. Als Anschluss, für die Nachkriegszeit bis zu den 1970ern, dokumentiert der Band ein 1976 geführtes, auch über 30 Seiten langes Gespräch Bleichers mit den Publizisten Erhard Korn und Erasmus Schöfer.

Bleicher lernte erstmal Bäcker

In dem Gespräch mit Ullrich korrigiert Bleicher auch einige Mythen, die über ihn nach dem Krieg im Umlauf waren: Etwa, dass er nach der Schule in den 1920ern Schlosserlehrling bei Daimler gewesen sei und dort auch der Metaller-Gewerkschaft, dem Deutschen Metallarbeiterverband (DMV) beigetreten und bald Jugendleiter gewesen sei. Oder dass er bei der Selbstbefreiung des KZ Buchenwald im April 1945 dabei gewesen sei. Beides Legenden. Bleicher macht ab 1922 eine dreijährige Bäckerlehre, tritt als erstes in die Gewerkschaft der Nahrungs- und Genussmittelarbeiter ein. Erst 1927, als er kein Bäcker mehr sein will, bekommt er einen Stelle im Versand bei Daimler-Benz und tritt in die DMV ein, verliert den Job aber ein Jahr später wieder. Was sich allerdings im Lebenslauf eines IGM-Bezirksleiters natürlich nicht so gut macht.

Auch die Buchenwald-Geschichte ist erfunden: Bleicher befand sich mit vielen Mitgefangenen aus dem KZ zu diesem Zeitpunkt auf einem der berüchtigten Todesmärsche – und gehörte zu den wenigen Überlebenden.

Zu Lebzeiten tritt Bleicher solchen Legenden aber nie vehement entgegen, lässt sie gewähren. Was in gewisser Weise auch zu so manchen Widersprüchlichkeiten passt, die er in sich vereinte.

"Bleicher war eine Figur mit Ecken und Kanten, ein schwäbischer Dickkopf, der viele Blessuren erlitt, aber immer wieder aufgestanden ist. Und der bei allen Fehlern aber immer authentisch blieb", sagt Abmayr. Bleicher war etwa schonungslos gegenüber dem eigenen frühen politischen Engagement. Die politische Arbeit der KPD, der er ab 1924 angehörte, bezeichnet er in Bezug auf die Zeit vor 1933 als Blödsinn. Er war dann ab 1929 Mitglied der abgespaltenen KPD/O (Kommunistische Partei Deutschlands/Opposition), die KPD verfolgte aber weiter die Linie, die "sozialfaschistische" SPD entschiedener zu bekämpfen als die Nazis, zu einer Einheitsfront der Arbeiterparteien gegen Hitler kam es nie.

Die Einheit der Gewerkschaft war ihm heilig

Für Bleicher war diese Spaltung der Arbeiterbewegung ein großes Trauma, er sah in ihr die Ursache, dass Hitler und seine Nationalsozialisten siegen konnten. Dass sich die Arbeiterschaft, vor allem die Gewerkschaften, nie mehr spalten lassen sollten, war daher für ihn auch eine zentrale Schlussfolgerung aus seinen eigenen Erfahrungen. Die gewerkschaftliche Einheit war ihm heilig, der "demokratische Zentralismus" – dafür kämpfte er als Funktionär der IG Metall, deren Bezirksleiter für Baden-Württemberg er von 1959 bis 1972 war. Und er war auch dabei unerbittlich, wie etwa der Ausschluss der "Plakat-Gruppe"-Mitglieder Willi Hoss und Hermann Mühleisen aus der IG Metall 1972 zeigt – sie hatten mit einer eigenen Liste bei Daimler für die Betriebsratswahlen kandidiert. Im Brief an Hoss schreibt Bleicher, dieser habe seinen "Ausschluss geradezu provoziert": "Anstelle der Einsicht über dein fehlerhaftes, undemokratisches, gewerkschaftsschädigendes Verhalten entnehmen wir deinem Brief ein Beharren auf deiner bisherigen Position, die zwangsläufig weg von der IG Metall führt", heißt es darin.

Im Gegensatz zur Gewerkschaftseinheit ist eine Einheitspartei der Arbeiterklasse für Bleicher offenbar weniger entscheidend. Er selbst ist nach dem Krieg zunächst wieder KPD-Mitglied, tritt 1950 aus, wird 1953 SPD-Mitglied, doch so manches Zitat zeugt davon, dass er im Herzen Kommunist blieb – auch wenn er sich "eher anarchistisch, unberechenbar" verhielt, wie Abmayr schreibt, und weder von kommunistischen noch von sozialdemokratischen Parteihistorikern vereinnahmt werden konnte.

Idealisiert und instrumentalisiert wurde er dennoch von beiden Seiten. Vor allem in den 1970er und 80ern wurde er immer wieder bei Gewerkschaftsveranstaltungen zitiert, besonders die Lehrlinge und Jungarbeiter wurden durch ihn geprägt. Sein Ruf hatte wohl nicht nur damit zu tun, dass er wiederholt in Arbeitskämpfen große Erfolge für die Gewerkschaften erringen konnte, sondern auch, dass er ein enormes rhetorisches Talent hatte, vielleicht einer der markantesten politischen Redner der jungen Bundesrepublik war.

Da Rhetorik nie allein Text, sondern auch dessen Präsentation ausmacht, lässt sich dies in den von Abmayr dokumentierten Reden vielleicht nicht zur Gänze nachvollziehen. Aber immer wieder doch erahnen. Etwa bei einer Rede vor Metallern im Oktober 1971 in Heilbronn. Es ist Arbeitskampf, die Metallunternehmer, angeführt von Hanns-Martin Schleyer, legen ein aus seiner Sicht dürftiges Angebot vor, und Bleicher schimpft: "Es gab keine Tarifbewegung bisher, an deren Beginn nicht das Bangemachen der Unternehmer gestanden hätte. Unsere Lohn- und Gehaltsforderungen – so minimal sie zuweilen waren – gefährdeten angeblich den Export und damit die Arbeitsplätze, waren schuld an der Preisentwicklung. Und dennoch: Diese Wirtschaft wuchs und wuchs von Lohnbewegung zu Lohnbewegung, und die Millionäre wurden nicht weniger."

Oder als er 1978 bei einer Rede in Esterwegen, wo eines der Emslandlager der Nazis stand, warnt: "Liebe Freunde, der Faschismus ist nicht tot. Sie marschieren wieder, besudeln die Wände mit Hakenkreuzen, halten ihre Kongresse ab, und die Justiz ist wieder auf dem rechten Auge blind, wie eh und je, und um so hellsehender auf dem linken."

Wenn es gegen rechts geht, kritisiert Bleicher damals besonders oft die CSU und deren damaligen Chef Franz-Josef Strauß. Die Zeiten ändern sich, könnte man denken. Er kritisiert Strauß in einem Interview 1979 etwa deswegen, weil dieser im Herbst 1979 eine Kampagne begonnen hat, in der er unter anderem behauptete, die Nazis seien "in erster Linie Sozialisten" gewesen. Da fällt einem dann Alice Weidel ein – vielleicht ändern sich die Zeiten doch nicht so sehr.


Willi Bleicher: Texte eines Widerständigen. Briefe aus dem KZ, Reden und Interviews, herausgegeben von Hermann G. Abmayr, Schmetterling Verlag, 480 Seiten, 24,80 Euro. Erscheint am 8. Mai und kann hier vorbestellt werden.

Buchpräsentation mit Hermann G. Abmayr am 8. Mai um 19 Uhr im Willi-Bleicher-Haus/Gewerkschaftshaus, Willi-Bleicher-Straße 20, Stuttgart-Mitte, im Rahmen der Finissage der Ausstellung "Ich wusste, was ich tat" zum frühen Widerstand gegen den Nationalsozialismus.

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