Vertraut mit der gesamten relevanten Literatur zum Thema, hat Niess nun seine eigene Gesamtdarstellung zu den Ereignissen in den Jahren 1918 und 1919 geschrieben. Neu ist vor allem das leidenschaftliche Plädoyer für eine positivere Erinnerung, für ein Einfügen der Revolution in den demokratischen Gedenkkanon der Bundesrepublik, die sein Buch von früheren Arbeiten abheben. Und abgesehen davon versteht es Niess, so spannend und lebendig zu schreiben wie wenige seiner Historikerkollegen.
Niess will "auch mit manchen Legenden aufräumen, die über die Revolution noch immer im Umlauf sind". Etwa, "es sei in den Revolutionsmonaten vor allem um die Abwehr des Bolschewismus gegangen". Eine Deutung, die nicht nur in der Weimarer Republik, sondern auch in der Hochphase des Kalten Krieges hoch im Kurs stand und noch heute durch manche Geschichtsbücher spukt. Tatsächlich hatte die Gefahr einer bolschewistischen Diktatur wie in Russland nie bestanden. Die deutschen Arbeiter- und Soldatenräte, die sich zu Beginn der Revolution überall gebildet hatten, waren zwar in ihrer Selbstbezeichnung als "Räte" (russisch: Sowjets) dem russischen Vorbild gefolgt, ansonsten hatten sie kaum Gemeinsamkeiten mit jenen Revolutionskadern. Denn größtenteils wollten sie eine parlamentarische Demokratie, wollten sich der Revolutionsregierung, dem Rat der Volksbeauftragten, in den Dienst stellen, um den Weg dorthin und zu einer Demokratisierung von Heer und Verwaltung zu erreichen. Dieses demokratische Potenzial erkennt nur leider der Rat der Volksbeauftragten nicht.
Das Problem war die Angst vor dem Bolschewismus
Das Problem war indes weniger die reale Gefahr als vielmehr die diffuse Bolschewismus-Angst, die in jenen Monaten auch innerhalb der SPD-Spitze das politische Denken bestimmte. Früh dient der Bolschewismus "als bewusst eingesetztes Schreckgespenst, das seine Wirkung in sozialdemokratischen, liberalen und konservativen Kreisen zuverlässig entfaltet", schreibt Niess. "Aufbegehren, Streiks, Demonstrationen – vielfach wird alles, was von 'unten' kommt und unkontrollierbar werden könnte, mit dem Etikett 'bolschewistisch' versehen."
Auch wegen dieser diffusen Angst agiert die SPD im Rat der Volksbeauftragten viel zögerlicher, als sie könnte, scheut Reformen noch vor den Wahlen zur Nationalversammlung und arbeitet mit den alten Gewalten in Heer und Verwaltung viel enger zusammen, als es nötig wäre. So kommt es etwa zu jener berüchtigten Kooperation zwischen Ebert und Generalquartiermeister Wilhelm Groener, dem Chef der Obersten Heeresleitung (OHL). Groener sichert Ebert die Loyalität der OHL und die geordnete Rückführung des Heeres von Front zu, unter der Bedingung, dass die Regierung den Bolschewismus bekämpfe. Ebert akzeptiert die OHL als Partner der Regierung, was sich bald rächt. Denn der OHL geht es vor allem darum, möglichst viel von der Macht des Offizierskorps vom Kaiserreich in die Republik hinüberzuretten und alles Linke zu bekämpfen.
Wenn von einem "Verrat" der Sozialdemokraten an der Revolution gesprochen wird, geht es meist um die Deutung, dass Ebert mit Groener damals ein Bündnis zur Niederschlagung der Revolution geschlossen habe. Für Niess gehört auch diese Verrats-These ins Reich der Legenden, eine Position, die aber ohnehin schon lange Forschungskonsens ist. Der geht eher in die Richtung, dass die SPD auf die "Bürde der Macht", wie es die Historikerin Susanne Miller einmal formulierte, nicht im Geringsten vorbereitet war und es daher auch nicht verstand, die Regierungsgewalt aktiv und gestalterisch zu nutzen. Ein Eindruck, der sich auch beim Lesen von Niess' Buch wiederholt aufdrängt, wobei gelegentlich erstaunt, wie empathisch er Ebert verteidigt, etwa in Hinblick auf sein Verhalten gegenüber der OHL: "Ein Politiker mit der Erfahrung Eberts, vermute ich, hat sich auf eine solche Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit diesem Partner sicher nicht aufgrund von politischer Naivität eingelassen." Ein wenig viel Spekulation.
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Peter Meisel
am 11.11.2017