KONTEXT:Wochenzeitung
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"Vorstoß in eine freie, unbelastete Welt"

"Vorstoß in eine freie, unbelastete Welt"
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Die literarische Sommerreise von Kontext macht Station in Stuttgart. Der Architekt Paul Bonatz (1877–1956) erzählt, wie er den Hauptbahnhof geplant hat. Und dass schon damals die Eisenbahner die größten Blockierer waren.

Der Bau des Bahnhofs in Stuttgart ist für meine Entwicklung als Baumeister das wichtigste Kapitel. Frühling 1911 kam ich von einer vierwöchigen Reise aus Sizilien zurück, mit den Freunden Hugo Wach, Fritz Behn und Otto Knaus. Ich hatte Abstand gewonnen und kehrte unbekümmert und Freiheit gewohnt heim und war nicht gerade sehr darauf aus, mich nun Hals über Kopf in die Arbeit zu stürzen. Doch Freund Scholer sagte: "In vier Wochen ist Termin für den Bahnhofswettbewerb, den müssen wir mitmachen." – "Müssen wir? Aus dieser Programmstellung ist nichts Gescheites zu entwickeln!" – "Du musst dich heute Abend an die Pläne setzten."

Abends war oben im Haus bei Scholers in der Ehrenhalde Einladung von Freunden. Ich saß allein unten im Büro, missmutig bei der schlechten Programmstellung, und hörte von ferne fröhliches Lachen. Da kam Dora Scholer, deren helle Freundschaft mich ein Lebensalter lang begleitete, die Treppe herunter: "Wie geht es?" – "Komm, ich will dir zeigen, warum es nicht geht.

Aus lang-lang so nebeneinander kann man keine Baumasse mit Rhythmus machen, das geht nicht und alle Mittelchen helfen dabei nichts, das bleibt eine Missgeburt – man müsste denn – man müsste denn – ja, man müsste die Eingangshalle der Tiefe nach stellen und mit einem Turm das Gleichgewicht suchen – so kann es gehen – ja – so geht es, dann kommt's ins Gleichgewicht. Morgen fangen wir an, kerzengerade aufs Ziel los, jetzt geh ich mit dir hinauf zu den Freunden."

Das große Büro konnte die Arbeit leicht bezwingen. Stadthalle Hannover und Universitätsbibliothek Tübingen waren damals in Arbeit. Trotz Sizilien, wo mir mehr Abklärung hätte zuteil werden müssen, lastete noch viel Romantik auf mir. Aber die Arbeit bekam den ersten Preis. Als Kennwort hatte ich "umbilicus sueviae" genommen – "der Nabel Schwabens". Wir wussten von Delphi, dass dieses als der omphalos, der Nabel der Welt, angesehen wurde.

Nun wollten wir natürlich den Bahnhof bauen, und ich besuchte den Ministerpräsidenten, gleichzeitig Verkehrsminister, Weizsäcker (Karl von Weizsäcker war Ministerpräsident des Königreichs Württemberg von 1906 bis 1918 – Anm. d. Red.). Das war ein Diplomat der alten Schule, glatt rasiert, kultivierter Prälatenkopf, langer schwarzer Gehrock, und er empfing mich mit vollendeten Manieren: "Ich beglückwünsche Sie zu diesem schönen Erfolg ... Wie alt sind Sie?" – "Dreiunddreißig Jahre, Exzellenz, aber ich habe schon ..." - "Für Ihr Alter ein außerordentlicher Erfolg ... unter so vielen Bewerbern ..." – "Aber wie ist es mit der Ausführung, Exzellenz?" Ach, mir fiel die Unterhaltung mit Beemelmanns vor rund zehn Jahren ein, aber Weizsäcker blieb verbindlich: "Nun, darüber wird man später sprechen müssen, es ist heute verfrüht" und so weiter. Und da erfuhr ich, wie das ist, wenn ein guter Diplomat eine halbe Stunde die verbindlichsten Dinge sagte, ohne überhaupt etwas gesagt zu haben.

In der Generaldirektion der württembergischen Bahnen war ein ehrgeiziger junger Baurat Mayer, der die Vorentwürfe gemacht hatte und den Bahnhof gerne selbst gebaut hätte. Ich wäre an die Aufgabe vielleicht nie gekommen, wenn sich nicht folgende Geschichte begeben hätte:

Die Stuttgarter Verwaltung schickte die Entwürfe einem berühmten Eisenbahngeheimrat nach Berlin, er möge über die Grundrissfrage ein Gutachten abgeben. Dies Gutachten kam mit sechs Forderungen, es wurde auch mir zugeschickt, und ich wurde zu einer Sitzung unter Präsident Stieler eingeladen, in welcher diese Fragen besprochen werden sollten. Ich fand, dass der Berliner recht hatte, und zeichnete in kleinem Maßstab einen neuen Grundriss auf, der sich etwa deckt mit dem heute ausgeführten. Diese Skizzen behielt ich in der Brusttasche und lauschte fast eine Stunde lang den Ausführungen Mayers, der alles besser wusste als der Berliner. Er hat mir später bei der Ausführung viel zu schaffen gemacht, ich war mit einem Satz noch nicht zu Ende, als er es schon besser wusste. Er erklärte, dies ginge nicht und sei Unsinn. Ich lauschte noch eine weitere Stunde der Debatte. Ich war ja nur als Gast eingeladen, und der Präsident wollte gerade die Sitzung aufheben, da fiel ihm noch ein, mich zu fragen: "Und was ist Ihre Meinung, Herr Professor?"

Es war mir sehr schwergefallen, so lange still zu sein, aber nun wurde ich belohnt. Ich sagte: "Fünf der Forderungen sind ausgezeichnet, sie ergeben einen guten Plan, die sechste ist ein Irrtum, sie ist nicht vereinbar mit den anderen", – dann zog ich meine bescheidenen Skizzen aus der Tasche. "Sehen Sie: Er fordert eine Haupteingangshalle, eine Vorortverkehrseingangshalle, dazwischen eine Ausgangshalle – natürlich müssen diese dann alle quer zur Front liegen –, alle anderen Dinge gehen hierbei spielend. Sein Irrtum ist nur, dass er Gepäckannahme und Gepäckausgabe symmetrisch zur Haupthalle beiderseits legen will, das geht offensichtlich nicht – und die Vereinigung von Gepäckannahme und -ausgabe zwischen Haupthalle und Ausgangshalle ist von klarem Vorteil." Alle machten lange Hälse, kamen nah heran, sogar Herr Mayer war still, und wir wurden aufgefordert, diesen Gedanken in einem Vorentwurf großen Maßstabes auszuarbeiten.

Mit dieser Grundrissumstellung kam der Turm an die heutige Stelle, gleichzeitig entstand die Arkade der Hauptfront – aber die Architektur wurde noch romantischer, es gab große Modelle und dann, Gott sei Dank, eine Pause und Abstand. [...]

Von der Notwendigkeit, härter und einfacher zu werden, war ich wohl überzeugt, aber wie dies den Beamten der Eisenbahndirektion klarmachen, die in den Konventionen, sagen wir Stil Hotel Marquardt, ergraut waren? Der Chef des Hochbaus war Oberbaudirektor Neuffer, der mich wie einen Sohn liebte. Schon zehn Jahre vorher hatte ich mit ihm zusammen die Wallstraßenbrücke in Ulm bearbeitet. Diesen betrübte ich nun am tiefsten. Als ich ihm die letzte Änderung des Turms vorlegte, das Weglassen des Tambours und das geradlinige Hinaufführen, da seufzte der liebe Mann tief auf: "'s wird immer wüschter, aber's paßt zum andre, meinetwege, machet Sie's." Meinen tröstlichen Zuspruch lehnte er ab.

Als mein Freund Hugo Wach einmal zu Besuch kam, sagte er: "Das hast du gut gemacht, aber viel mehr als den Bau bewundere ich, dass du es fertig gebracht hast, die Eisenbahner zur Zustimmung zu bringen."

Präsident Stieler hatte Vertrauen, aber ich merkte ihm immer an, wenn einer seiner alten Kollegen aus dem Reich bei ihm gewesen war und gesagt hatte: Was macht ihr denn da? Bei der nächsten Bausitzung konnte er seine Verdrießlichkeit nicht verbergen. Als aber der taube Fritz Stahl, der Kritiker des "Berliner Tagblatts", Verfasser guter Bücher über Paris und Rom, den Bahnhofsneubau entdeckt hatte, "endlich die Konventionen durchbrochen und Vorstoß in eine freie unbelastete Welt ...", da glänzte unser Präsident, und von da an war das Spiel gewonnen.

Später wurde viel darüber disputiert, ob ein Bahnhof einen monumentalen Rang überhaupt haben dürfe. Die Weißenhöfler prägten 1927 das Wort: "Dieser Bau erstickt seine Funktion in wilhelminischem Bombast." Ein Bahnhof sei eine primitiv technische Angelegenheit. Heute würde man einen Bahnhof auch viel einfacher bauen. Aber damals waren alle Beteiligten sich darüber einig, dass dieser Bau, der mehr bedeutet als früher ein Stadttor, mehr als alle Tore einer Stadt zusammen, der wirklich der Nabel des Landes und im Stadtorganismus ein wichtiges Glied ist, wohl einen höheren Rang und Ausdruck verdiene. [...]

Wir haben zunächst viel geplant, aber wenig gebaut. Der wesentliche Inhalt bis 1922 war die Fertigstellung der ersten Bahnhofhälfte, die sehr langsam vor sich ging. Die Nachkriegsarmut gab auch hier viele Schwierigkeiten. Der Stahl für die Bahnsteighallen wurde als Reparationsleistung beschlagnahmt; deshalb mussten wir so viel in Holz ausführen.

Erst im Oktober 1922 wurde der Verkehr aus dem alten Bahnhof neben Hotel Marquardt in den neuen umgelegt. Vier Stunden in der Nacht fuhr kein Zug ein und aus. Welche planvolle Arbeit darin steckte, die sich weit außerhalb des eigentlichen Bahnhofs im Talkessel bis zum Rosensteinhügel erstreckte – in fieberhafter Nachtarbeit neue Weichen einbauen – das kann ein Laie nie ermessen. Die Fernzüge Paris–Wien liefen planmäßig ein und aus. Mit äußerst komplizieren Kunstbauten der Ingenieure längs der Anlagen waren die Überwerfungen manchmal in drei Stockwerken übereinander so gelöst, dass keine Schienenkreuzung mehr blieb.

Es war für Stuttgart ein großer Tag. Am Vortag war eine würdige Feier in der Schalterhalle. Verkehrsminister war damals der General Gröner, Chef des Eisenbahnwesens im Krieg. Statt der bisherigen vier Geleise hatte die neue Bahnhofshälfte acht, der fertige Bahnhof später sechzehn. Und die City Stuttgarts gewann 400 Meter – die auch heute noch nicht voll ausgebaut sind.

 

Paul Bonatz zählt zu den berühmtesten Architekten Stuttgarts. Neben den Hauptbahnhof, der zwischen 1914 und 1928 entstand, hat er auch die Unibibliothek Tübingen, das Opernhaus in Ankara und das Kunstgebäude am Stuttgarter Schlossplatz gebaut. Der Aufsatz entstammt seinen Erinnerungen "Leben und Bauen", die 1950 im Engelhornverlag erschienen sind. In dem von Irene Ferchl herausgegebenen Buch "Geschichten aus Stuttgart" (Verlag Klöpfer & Meyer) steht er als gekürzte Fassung. Peter Dübbers, Enkel von Paul Bonatz und S-21-Gegner, hat den Text nochmals durchgesehen und weitere Illustrationen zur Verfügung gestellt.


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