Der Brief ging an alle, "die wir ausliefern". An wen, war man versucht zu fragen? Aber so war's nicht gemeint, wenngleich die Lage danach war, Schlimmes zu vermuten. Das Schreiben war an 75 Verlage gerichtet, als Absender zeichnete der Geschäftsführer der "Sozialistischen Verlagsauslieferung" (Sova), Helmut Richter, der seine Kundschaft mit der unfrohen Botschaft überraschte: "Ihr Lieben", meldete er am 15. November, "leider haben wir gestern Insolvenz anmelden müssen." Er bedauere diese Entwicklung sehr, aber der "heftige Umsatzrückgang" in 2022 habe diesen Schritt notwendig gemacht.
Die "Lieben" teilten das Bedauern auf ihre Weise. Claudia Gehrke vom Tübinger Konkursbuch klagt in der Kontext-Rundfrage über "furchtbaren Stress". Sie kennt Richter seit mehr als 40 Jahren, ihre Mutter hat ihm Eis und Gebäck ins Büro mitgebracht. Ihr Homeoffice hat sie derzeit auf La Palma. Klaus Bittermann vom Berliner Tiamat spricht von einer "sehr prekären" Lage, die vergleichbar wäre mit einem Menschen, der keinen Lohn mehr bekäme. Glenn Jäger vom Kölner Papyrossa sagt, der Schaden sei "noch nicht abzusehen", sie arbeiteten aber unverdrossen mit Hochdruck am Frühjahrsprogramm. Und alle sind sich einig darüber, dass der Abgang der Sova für die meisten von ihnen existenzbedrohend ist. Das liegt an ihrer Funktion.
Gegründet 1971, war die Sova ein Herzstück des linken Buchhandels, Sammelstelle, Zwischenhändler und Kassier für 4.000 Buchläden. Sauber gestapelt lagen deren Bücher auf Paletten in Frankfurter Hallen, versandfertig gemacht für Unternehmungen, die entweder Niedlich hießen, wie ihr legendärer Stuttgarter Inhaber, oder "Jos Fritz" (Freiburg), "Jakob Fetzer" (Reutlingen), "Roter Stern" (Marburg), "Schwarze Risse" (Berlin), "Sputnik" (Potsdam), oder einfach "Karl-Marx" (Frankfurt). Letzteren sollen angeblich Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit aus der Taufe gehoben haben. Was die Läden an die Verlage zu zahlen hatten, überwiesen sie an die Sova, die ihrerseits zwölf Prozent behielt. Und alle waren zufrieden.
Der erste Bestseller: die Mao-Bibel
Schon damals als führender Kopf dabei: Helmut Richter, 81, roter Pullunder, filterlose Roth-Händle, studierter Volkswirt. Er war bereit, die Revolution vorzubereiten, hatte aber stets vermieden, darüber zu reden, wie das gehen sollte. Buchhaltung erschien ihm bedeutsamer. Damit war auch jene Zeit überwunden, in der ein Jungrevoluzzer wie der Student der Philosophie und Geschichte, Ulrich Raulff, die "Kirchenväter des Sozialismus und Marxismus" in der Schubkarre durch Marburg fuhr, um das hungrige Publikum zu versorgen. Im Gegensatz zu Richter hat sich Raulff beruflich verändert, zunächst als Redakteur im FAZ-Feuilleton, dann als Leiter des Deutschen Literaturarchivs Marbach und zuletzt als Präsident des Stuttgarter Instituts für Auslandsbeziehungen. Ihr Gespräch im Deutschlandradio über den linken Buchhandel lohnt sich nachzuhören.
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Aha.
am 01.12.2022