KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Azubis und Corona

Sparschwein Ausbildung

Azubis und Corona: Sparschwein Ausbildung
|

Datum:

Es ist kompliziert genug, unter Corona jung zu sein – keine Partys, kein Kino, kein gemeinsames Abhängen. Nun bauen viele Unternehmen auch noch Ausbildungsplätze ab. Die Jungen schauen in die Röhre.

Besonders dramatisch sieht es im Landkreis Göppingen aus. "Im Vergleich zu vor zwei Jahren haben wir in der Industrie jetzt nur noch die Hälfte an Ausbildungsplätzen", sagt Pascal Holz, Jugendsekretär der IG Metall Göppingen-Geislingen. Gab es 2018 rund 290 Ausbildungsplätze in den von der IG Metall betreuten Firmen, sind es in diesem Jahr noch 159. "Und ich fürchte, im nächsten Jahr wird es noch schlimmer", so Holz. Schlägt tatsächlich Corona zu? "Nicht nur", meint der dortige IG Metall-Bevollmächtigte Martin Purschke. "Das geht schon länger. Wir haben Betriebsschließungen und wir haben viele Betriebe, die Personal abbauen." Er hat das kürzlich durchgerechnet und festgestellt, dass in den vergangenen zwei Jahren in seinem Bereich 2.500 Arbeitsplätze abgebaut worden sind. Und er weiß nicht, was sonst noch auf die Beschäftigten zukommt.

Dahinter stünden vor allem die Transformation und unprofitable Geschäftsmodelle. "Und Geschäftsführungen, die nicht dazu zu bewegen sind, Ausbildung im alten Umfang aufrechtzuerhalten. Die sehen immer nur den kurzen Effekt: Jetzt müssen sie die Azubis von vor drei Jahren übernehmen. Also stellen sie jetzt lieber keine oder weniger ein, um zu sparen." Keiner wisse, welche Fachkräfte in vier Jahren gebaucht werden. Was nahezu überall fehle, sei eine vernünftige Zukunftsplanung."

Das sieht Larissa Geiger auch in ihrem Betrieb, Schuler in Göppingen. Die 22-Jährige ist Vorsitzende der Jugend- und Auszubildendenvertretung und findet: "Die hätten schon vor Jahren überlegen müssen, wie es weitergehen soll." Der Pressenbauer stellt in diesem Jahr überhaupt keine Azubis mehr ein. Der Werkzeugbau wurde verkauft, die Maschinenproduktion geschlossen oder verlagert. "In Göppingen haben wir noch Service, Konstruktion und Entwicklung, alles so Computerbereiche", weiß die angehende Elektronikerin. Werden für diese Bereiche künftig keine Fachkräfte benötigt? Geiger: "Tja, das ist die Frage." Dass Schuler auch keine Azubis übernimmt – aktuell lernen oder studieren noch etwa 65 junge Leute –, trifft sie persönlich nicht so hart. "Ich hatte nicht unbedingt vor, zu bleiben. Aber es tut mir Leid um die Kolleginnen und Kollegen, die hier auf eine Zukunft gehofft hatten. Die Jungen sind die Gelackmeierten."

Azubis für die Zukunft

Dass es anders gehen kann, lässt sich bei Heidelberger Druckmaschinen AG in Amstetten sehen. Auch diese Firma ist seit Jahren in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, Druckmaschinen sind schon länger kein Verkaufsschlager mehr. In Amstetten ist man dabei, mit der Gießerei ein zweites Standbein aufzubauen und gießt im Auftrag anderer Unternehmen vor allem Bremsscheiben und Bremssättel für Nutzfahrzeuge. "Wir wollen unabhängiger von Druckmaschinen werden", erklärt der Betriebsratsvorsitzende Peter Hartmann. Und so langsam greife das Konzept auch, ist er überzeugt. Da die wirtschaftliche Lage dennoch schwierig war und ist, wollte der Arbeitgeber im vorigen Jahr Opfer von den Beschäftigten. Hartmann: "Wenn wir etwas geben, muss es eine Gegenleistung geben. Und die ist unter anderem, dass die Ausbildungszahlen erhöht werden." Dieser Ergänzungstarifvertrag von Unternehmen und IG Metall gilt bis 2024 und beinhaltet zudem eine Standortsicherung und schließt betriebsbedingte Kündigungen aus. Statt Kündigungen bekommen ältere MitarbeiterInnen Altersteilzeitverträge angeboten.

Ein Ergebnis dieses Tarifvertrages: In diesem Jahr haben 20 Azubis und drei Dual-Studierende angefangen. 2018 waren es 15. Bedirhan Koc freut sich über diese Solidarität. Er ist 20 Jahre alt und wird als Dualer Student bei Heidelberger in fünfeinhalb Jahren zum Wirtschaftsingenieur und Industriemechaniker ausgebildet. "Die Ausbildung ist super. Vom Bewerbungsgespräch an, das nicht so Formalfragen hatte, sondern ein ganz normales Gespräch war, bis jetzt. Unsere Ausbilder sind gut, wir werden ermutigt, selbstständig zu arbeiten, gehen auch mal raus." Zum Beispiel, um den Eisenbahnfreunden Alb-Donau-Kreis zu helfen bei Instandsetzungen. "Da lernt man viel." Als Mitglied der Jugend- und Ausbildungsvertretung nimmt er an Betriebsratssitzungen teil. "Ich finde cool, was da alles besprochen wird und wie man mit dem Arbeitgeber verhandelt und Kompromisse findet". Koc weiß, dass er in zweieinhalb Jahren übernommen wird. "Als Wirtschaftsingenieur hat man eine breite Einsatzpalette." Er fühlt sich wohl hier, die Arbeit macht ihm Spaß.

So organisiert man Fachkräftemangel

Ohne es zu wissen, hat Bedirhan Koc sich ein offenbar verlässliches Unternehmen ausgesucht, andere haben Pech. "WMF hat schon vor Corona schrittweise Ausbildung abgebaut, das waren mal pro Jahr 36, jetzt sind's noch 27; bei Grüner, einem Automobilzulieferer, waren es im letzten Jahr 20, jetzt sind's noch fünf – so zieht sich das durch", berichtet Pascal Holz. Wohin diese Tendenz führt, wisse er. "Ich kenn das noch von der Krise 2008, 2009. Da wurde auch überall die Ausbildung runtergefahren und nach ein paar Jahren wurde dann gejammert: Fachkräftemangel!"

Im Filstal steckt die Industrie schon länger in einer Krise, in vielen Firmen mangelt es auch ohne Corona an Ideen für die Zukunft. Dort zeigt sich die Transformationskrise besonders deutlich, aber landesweit sieht es auch nicht so viel besser aus. "Da haben wir rund 20 Prozent weniger Ausbildungsplätze als im Vorjahr", sagt Christian Herborn von der IG Metall Baden-Württemberg. Da in den großen Unternehmen aktuell die Bewerbungsgespräche für das nächste Jahr laufen, ließe sich bereits jetzt absehen, dass es 2021 noch schlimmer werde. Er verstehe, dass die Transformation schwierig sei. "Aber dass man in vier Jahren 20 Prozent weniger Facharbeiter benötigt, ist doch eher unwahrscheinlich. Aber wo wir hinschauen: Es fehlt an einer guten Personalplanung."

Einen coronabedingten Grund für weniger Azubis gebe es allerdings: "Im ersten Lockdown hat sich gezeigt, wer in die Digitalisierung seiner Ausbildung investiert hat. Da lief's weiter. Wer aber veraltete Anlagen und keine Laptops hat, hatte ein Problem und diese Unternehmen lassen jetzt eher die Finger von Ausbildung, weil sie nicht wissen, wie das mit der Pandemie weitergeht."

Neu: Ausbildungsstart im Februar

Weil in diesem Jahr wegen Corona und wegen der Transformation in der Industrie deutlich weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen wurden, startet das Land einen Modellversuch: ein zeitversetzter Ausbildungsstart am 1. Februar 2021. Damit sollen Unternehmen und auch Ausbildungssuchende ermuntert werden, doch noch Ausbildungsstellen anzubieten beziehungsweise auszusuchen. Beschlossen wurde dies im Ausbildungsbündnis Baden-Württemberg, das sich am vergangenen Montag turnusmäßig getroffen hat. In einer Pressekonferenz erläuterten VertreterInnen aus Wirtschafts- sowie Kultusministerium sowie von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen und der Agentur für Arbeit die aktuelle Situation. Die Bilanz zum 30. September: 14,4 Prozent weniger Ausbildungsverträge im IHK-Bereich und minus 3,8 Prozent im Handwerk. 8.158 unbesetzten Ausbildungsstellen standen 8.671 Nachfragen gegenüber. Die Ausbildungsprämie des Bundes für von Corona betroffene Betriebe wurde im Südwesten 2.000 Mal beantragt, davon wurden 361 Anträge abgelehnt.

Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut kündigte zudem an, Geld in digitalisierte Berufsorientierung zu stecken, die in diesem Jahr wegen Corona weitgehend ausgefallen ist.  (gvl)

Wahrscheinlich komplett wegen Corona sind die Ausbildungsangebote in der Gastronomie eingebrochen. Landesweit erfasst sind die Zahlen für dieses Jahr noch nicht. "Aber allein in Stuttgart haben wir etwa ein Minus von 40 Prozent", erklärt Kimberley Haarstik von der Gewerkschaft NGG. Wenn die Gastronomie mehr oder weniger geschlossen sei und niemand wisse, wie es weitergeht, sinkt die Bereitschaft auszubilden. Und wahrscheinlich sind derzeit viele junge Leute nicht gerade wild auf eine Ausbildung in dieser unsicheren Branche. Die Ausbildungszahlen im Hotel- und Gaststättenbereich sanken allerdings schon vor Corona. So wurden 2019, einem gastronomisch guten Umsatzjahr, 5,6 Prozent weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen.

Haarstik beobachtet aktuell, dass Azubis gerade häufig ausgenutzt werden. "Wir bekommen viele Anrufe von Azubis, die erzählen, dass ihre Arbeitgeber die gestandenen Fachkräfte in Kurzarbeit schicken und die Azubis die verbliebene Arbeit machen lassen bis hin zu Renovierungen. Da halten die Auszubildenden den Laden am Laufen." Auch berichteten gerade eingestellte Azubis, dass ihnen nun in der Probezeit gekündigt worden sei. "Wir überlegen gerade, ob es nicht einen Weg gibt, dass Azubis während eines Lockdowns Vollzeit in die Berufsschule gehen könnten. Dann könnten sie wenigstens etwas lernen."

Wer nicht ausbildet, soll zahlen

Mit Sorge schaut auch der Deutsche Gewerkschaftsbund auf die Entwicklung in der Berufsausbildung. Das eine sei die aktuelle Situation, die in den Branchen sehr unterschiedlich sei. "Aber wenn Ausbildungskapazitäten einmal verschwunden sind, kommen sie so schnell nicht wieder", sagt Jens Liedtke, beim DGB Baden-Württemberg für Ausbildung zuständig. Auch er sieht im nächsten Jahr die noch größeren Probleme, da in diesen Wochen in den größeren Unternehmen die Bewerbungsgespräche mit den Auszubildenden für 2021 laufen, und da zeichne sich nichts Gutes ab. Zudem dürften weder die Transformation noch Corona im kommenden Jahr bewältigt sein. "Da müssen neue Konzepte her", fordert Liedtke.

Die Digitalisierung der Berufsschulen müsse massiv vorangetrieben werden, die öffentliche Hand solle vor allem Klein- und Mittelbetriebe dabei unterstützt, die eigene Berufsausbildung digital aufzustellen und Ausbildungsinhalte neu zu koordinieren. "Zum Beispiel Inhalte, die Präsenz erfordern, nach hinten zu verschieben. Große Unternehmen machen das schon, zum Beispiel Daimler. Von denen können Kleinere lernen, aber das muss koordiniert werden. Da braucht es vernünftige Beratungsstrukturen." Leider sei über die Sommermonate in dieser Hinsicht nichts passiert. "Berufsschulen stehen nicht so im politischen Fokus."

Natürlich seien in allererste Linie die Unternehmen für die Duale Berufsausbildung zuständig, sagt der Ausbildungsfachmann. Doch wenn Firmen sich dem entzögen, um kurzfristig Geld zu sparen, und später Fachkräfte einstellen, die anderswo ausgebildet wurden, "dann müssen wir über eine Ausbildungsumlage reden. Alle zahlen und wer ausbildet, bekommt aus dem Topf Geld, die anderen nicht."


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!