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Wagenburg Tübingen

"Früher sind wir hier mit Kerzen rumgelaufen"

Wagenburg Tübingen: "Früher sind wir hier mit Kerzen rumgelaufen"
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Datum:

Am Rande Tübingens siedeln Kuntabunt und Bambule: Punks und Alternative, die minimalistisch leben wollen und hier seit gut 30 Jahren in Bau- oder Zirkuswagen wohnen. Das hat seine romantischen Seiten, birgt aber auch Konflikte.

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In der Eisenhutstraße, jenseits des französischen Viertels am südwestlichen Rand von Tübingen, steigt das Gelände leicht an, Grün säumt den Weg und bunte Wagen tauchen auf. Hier beginnt ein Gebiet, auf dem alte und neue Bau- oder Zirkuswagen dicht beisammenstehen. Jeder von ihnen stellt eine eigene Welt dar, hat eigene Farben, oft einen kleinen Garten.

Kuntabunt und Bambule heißen die beiden Wagenburgen Tübingens. Die Menschen, denen die Wagen gehören, verbringen in ihnen nicht den Urlaub, sondern ihr Leben. 1992 entstand mit Kuntabunt die erste der beiden Ansiedlungen. Seither sind viele Jahre vergangen, in denen sich die Szene, die Menschen, die Siedlung wandelten. Ein Ort der Freiheit, des unabhängigen und unkonventionellen Lebens sind die Wagenburgen geblieben.

Peter Weiß ist 56 Jahre alt und war von Anfang an mit dabei. "Ich habe damals noch in einem Wohnheim für Zivis gewohnt", sagt er. "Dort war auch die Urzelle der ersten Tübinger Wagenburg. Es waren etwa zehn Leute, die sich gefragt haben, was sie weiter anfangen sollten im Leben. Dabei war ein Paar aus Norddeutschland. Die hatten schon Wagenburgerfahrung."

Das Phänomen der Wagenburgen als alternativer Lebensform entstand Mitte der 1980er aus der damaligen Hausbesetzerszene heraus. Die politische Ausrichtung spielte unbedingt eine große Rolle. In den Wagenburgen siedelten Punks und Alternative, zu Beginn oft illegal, später teils geduldet. Heute existieren geschätzt 100 Wagenburgen in ganz Deutschland, viele von ihnen in Städten wie Leipzig und Berlin, viele am Rande der Legalität. Auch in Stuttgart-Vaihingen gab es zwischen 1991 und 1996 eine Wagenburg, die sich "Wilder Süden" nannte und in der Nobelstraße siedelte – der Staat wollte das nicht dulden und die Siedlung wurde aufgelöst (Näheres hier).

Am Anfang ist die Wagenburg oft umgezogen

In Tübingen schien hingegen so manches möglich, woran in Stuttgart nicht zu denken war. Aber auch dort war die Zukunft der Wagenburg zunächst sehr fraglich. "Anfangs hatten wir nur einen Wagen", erzählt Peter Weiß: "Wir stellten ihn einfach auf eine Wiese und dachten uns nichts dabei. Dann kam der Bauer."

Der erste Wagen musste zu einem neuen Standort weiterziehen im Tübinger Westen, auf einem heute überbauten Gelände. Erst dort beschloss die Gruppe, eine ganze Wagenburg zu gründen. Als Treffpunkt war ihr Bauwagen in der Stadt längst bekannt. Für die Wiese am Aischbach kam eine Räumungsverfügung, die junge Wagenburg zog auf die Tübinger Festwiese, die sie wiederum verlassen musste, weil dort gefeiert werden sollte. Zur Burg gehörten damals knapp 20 Wagen. "Die Stadt Tübingen wusste mit uns nichts anzufangen. Ein besetztes Haus konnte man räumen, aber wir sind einfach weitergezogen."

Der Traum, an einem Baggersee zu siedeln, erfüllte sich nicht. Schließlich wurde die Wagenburg des Stadtgebiets verwiesen. "Die Polizei eskortiere uns hinaus, alle Zufahrtswege wurden zugemacht. Wir sind dann um Tübingen herumgefahren. Beim Tierheim haben wir dann einfach gewendet und sind wieder in Richtung Stadt gezogen, obwohl man uns gedroht hatte, die Wagen zu beschlagnahmen. Auf einer Verbindungsstraße zwischen Tierheim und Stadt sind wir stehen geblieben, wenige Meter vor dem Ortsschild. Und dort standen wir dann eine Woche lang auf der Straße", erinnert sich Weiß.

Die Lastwagenleute werden weniger

Ein Jahr nach Gründung der Wagenburg im Frühjahr 1991 rang sich der Gemeinderat Tübingens im November die Entscheidung ab, das "Wohnprojekt Wagenburg" zu legalisieren und ihm ein Gelände zur Verfügung zu stellen. Seit 33 Jahren nun firmiert die Wagenburg Kuntabunt als eingetragener Verein mit einem Pachtvertrag der Stadt Tübingen. Die Wagenburg Bambule gründete sich 1994, wollte ursprünglich an anderem Platz siedeln, wurde mehrfach von der Stadt geräumt und schließt heute unmittelbar an Kuntabunt an.

Peter Weiß lebte zunächst in der älteren Wagenburg, zog dann in die Bambule. Heute hat er erwachsene Kinder, die ebenfalls in der Wagenburg leben. Er ist Schreiner, hat sich in der Bambule neben seinem ersten Wagen einen großen, gut ausgestatteten Zirkuswagen gebaut. Er ist stolz auf sein selbstgebautes Schmuckstück. "Aber im Grunde", sagt er, "halte ich mich doch lieber in meinem alten Wagen auf." Und der passt ganz ins Bild. Einmal, sagt Peter Weiß, habe er sich eine Dusche gebaut. "Mit Durchlauferhitzer und Pumpe. Ich wollte eine Dusche haben wie andere Leute auch, aber ich habe dann gemerkt, dass der Komfort gar kein so großer Vorteil ist. Wenn ich es mir schön machen will, dann mache ich es schön, und wenn mir weniger reicht, dann lasse ich es einfach."

Drei Generationen leben heute in den Tübinger Wagenburgen. Manche Eltern verließen die Wagenburg und die Kinder kehrten zurück. In der Tübinger Wagenburg leben Lehrer, Sozialpädagogen, Therapeuten, Handwerker, Baumpfleger, ein Diplom-Ingenieur, eine Forstwirtschaftlerin, Rentner, insgesamt rund fünfzig Personen. Neben den Bauwagenbesitzern trifft man auch die sogenannte Lasterszene auf dem Gelände – Menschen, die im ausgebauten Lkw leben. Tom Rau beispielsweise mit seinem MAN 1415f, einem Laster, in dem einst Tauben transportiert wurden, ein rares Modell. Die "Lastwagenleute" sind mobil, mal zu Gast, dann wieder unterwegs, und sie sind weniger geworden. Steigende Benzinpreise, Maut, auch die Vorbehalte fossilen Kraftstoffen gegenüber haben die Szene verkleinert.

Erschlossen ist das Gelände bis heute nicht

"Früher", sagt Jenny Pfeiffer, "war ich auch so unterwegs." Jahrelang, erzählt sie, sei sie mit ihrem damaligen Partner in Spanien umhergezogen. Dann wurde sie Mutter und suchte nach einem Ort, an dem sie bleiben konnte. "In Spanien haben wir gehört, dass es in der Tübinger Wagenburg viele Kinder gebe." Seit 23 Jahren nun lebt sie in der Wagenburg Bambule, ist mittlerweile Großmutter. Sie ist Jugend- und Heimerzieherin, arbeitet in Schichten, muss deshalb mitunter an ihrer Arbeitsstelle übernachten. "Für mich", sagt sie, "ist das ein Riesenunterschied. Wenn ich in einem festen Gebäude schlafe, verliere ich die Nähe zur Umgebung, die ich hier habe. Man setzt sich hier auf ganz andere Weise mit dem Wetter auseinander, ob es nun regnet, ob es schneit."

Das Leben in den Wagenburgen besitzt seine romantischen Seiten, aber es ist auch rau und nicht frei von Konflikten. Bei der politischen Grundüberzeugung stimmen alle überein, lebenspraktisch vielleicht nicht immer, denn schließlich lebt der Punk, der bis in die Nacht hinein feiern möchte, Wagen an Wagen mit Menschen, die Kinder aufziehen oder frühmorgens zur Arbeit gehen. In einigen Fällen mussten die Wagenburgen Mediatoren bestellen, um zwischenmenschliche Wogen zu glätten. Und einer, der sich in seinem Wagen ein bequemes Leben machte, indem er seinen stetig laufenden Traktor als Stromquelle neben ihn stellte, musste gehen. Aber das ist lange her. Erschlossen ist das Gelände bis heute nicht. Der Strom kommt aus Solarzellen, zu Beginn sehr teure Anschaffungen. "Früher sind wir hier mit Kerzen rumgelaufen!", sagt Jenny Pfeiffer.

In den Tübinger Wagenburgen wird Gemeinschaft großgeschrieben. Einmal in der Woche trifft sich ein Plenum, in dem Fragen der Organisation besprochen werden. Eine Kehrwoche gibt es nicht, aber dass sich Bewohner an den Kulturtagen beteiligen, zu denen Kuntabunt und Bambule in jedem Sommer einladen, das wird schon erwartet. Das Trinkwasser kommt aus einem Hydranten in einer nahen Tübinger Straße, wird in einem Tank gespeichert, geduscht wird gemeinhin mit Regenwasser. Ob Smartphones geduldet werden sollten – das war einmal die Frage, die schließlich bejaht wurde. Mittlerweile gibt es einen Router, der sich in einem Vogelhäuschen versteckt.

Nicht alles ist rosig

2023 stellte der SWR die Wagenburgen in einer Sendung vor – als ein "naturnahes, ressourcenschonendes und reduziertes Lebensmodell". Das hatte Folgen, Peter Weiß erinnert sich: "Plötzlich gab es viele Leute, die hier wohnen wollten und die wir erst einmal darüber aufklären mussten, dass es so rosig doch nicht ist." Die vielen Leute, von denen er spricht, waren häufig über 50 und auf der Suche nach einem Ort, an dem sie in einer harmonischen Gemeinschaft leben konnten. "Sie taten mir richtig leid", sagt Peter Weiß.

"Gerade dadurch, dass die Umstände manchmal ein bisschen widriger sind, fühle ich mich als Bewohnerin der Wagenburg", berichtet Jenny Pfeiffer. "Luxus ist bei uns einfach nicht vorhanden. Wir führen ein so minimalistisches Leben, da hat man nicht den Platz, um sich mit vielen Dingen zu umgeben. Du gewinnst an Freiheit, weil du weißt, du kannst auch mit wenig klarkommen. Ich sehe mich auch als einen Gemeinschaftsmenschen und glaube, dass ich mich durch die Auseinandersetzungen in der Gruppe weiterentwickelt habe." Und Peter Weiß sagt: "Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen, in einer Großfamilie. Dann habe ich im Ziviwohnheim gelebt. Irgendwann hatte ich für zwei Monate eine Wohnung in der Stadt mit 70 Quadratmetern. Ich habe mich dort eher einsam und unwohl gefühlt. Seither wohne ich in den Wagen."

Die sind heute nicht mehr so, wie sie zu Anfang waren. Die langen Partys, die Nächte am Lagerfeuer gibt es nur noch selten. Die Wagenburgmenschen sind im Alltag angekommen, leben auf kleinem Raum mit geringen Ressourcen, auf sich gestellt, mit Hühnern, Kühen, Katzen, Hunden am Rande der Tübinger Zivilisation. Die bislang älteste Bewohnerin war fast 90 Jahre alt und starb vor zwei Jahren. Viele sind längst weit über 50 und möchten dort auch alt werden. "Ein bisschen spießig sind wir schon geworden", sagt Peter Weiß und lacht. "Vor 30 Jahren waren wir wilder."

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