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Boris Palmer hofiert die AfD

"Nicht so lange klatschen"

Boris Palmer hofiert die AfD: "Nicht so lange klatschen"
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 Fotos: Julian Rettig 

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Es war ein Abend, der die Rechten jubeln ließ. Am 5. September trat Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos) zum Streitgespräch gegen Markus Frohnmaier an, den AfD-Spitzenkandidaten bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg. Ein peinliches Desaster.

Markus Frohnmaier (AfD) redet keine zwei Minuten, als er das erste Mal ins Mikrofon lügt: Beim Themenblock Meinungsfreiheit kommt er auf den Fall einer 16-Jährigen Schülerin aus Mecklenburg-Vorpommern zu sprechen, die angeblich wegen eines harmlosen Schlumpf-Videos auf TikTok von der Polizei als Gefährderin angesprochen worden sei – tatsächlich ging es aber um ausländerfeindliche Inhalte in verschiedenen Fällen, die seitens der Behörden zwar nicht als rechtswidrig, aber dennoch als staatsschutzrelevant eingestuft wurden.

Weder Boris Palmer (parteilos) noch Moderator Joachim Knape widersprechen auch nur einer von unzähligen Falschaussagen, die der AfD-Spitzenkandidat für die bevorstehende Landtagswahl in Baden-Württemberg in der Tübinger Hermann-Hepper-Halle verbreitet. Viele Zuhörer:innen halten die Podiumsdiskussion nicht bis zum Ende durch, verlassen fassungslos den Saal, bis sich die Applauslautstärke der verbliebenen Gäste bei Palmer und Frohnmaier ausgleicht. Der Plan des Tübinger Oberbürgermeisters, die AfD durch inhaltliche Argumente zu entzaubern, geht – wie zu erwarten war – nicht auf.

Doch der Reihe nach: Am 19. Juli wollte die AfD mit gerade einmal 35 Leuten durch Tübingens Innenstadt ziehen. Ein überschaubarer Aufmarsch, der vermutlich von Gegenprotesten in den Schatten gestellt worden wäre: Mehr als tausend Menschen meldeten sich zu Protesten an, um die Rechtspopulisten lautstark zu übertönen. Für den Einzelhandel drohten nach Einschätzung des Oberbürgermeisters sechsstellige Umsatzeinbußen im Sommerschlussverkauf, für die Polizei ein Großeinsatz mit unklaren Risiken. Daher zog Palmer die Notbremse – und ließ sich auf einen Deal mit den Rechten ein: Die AfD sagte ihre Kundgebung ab, im Gegenzug versprach Palmer, sich mit ihrem Landeschef Markus Frohnmaier am 5. September zu einem Streitgespräch zu treffen. Die Kosten dafür sollen rund 15.000 Euro betragen, die AfD übernimmt sie.

Die AfD dankt

Die Reichweite für AfD-Inhalte wurde durch dieses Vorgehen drastisch erhöht: Binnen eines Tages waren die 850 Plätze in der Hermann-Hepper-Halle ausgebucht, die (mit Ausnahme von 100 für die AfD reservierten Plätzen) ausschließlich Tübinger Bürger:innen zur Verfügung standen. Alle anderen konnten den Schlagabtausch im Livestream verfolgen – übrigens bereitgestellt von einem Dienstleister, der sich öffentlich als AfD-Sympathisant positioniert. Auch die AfD hat das Ereignis auf mehreren mit ihr assoziierten YouTube-Kanälen übertragen. Aber das bleibt nicht das einzige "Gschmäckle".

Bereits vor dem Streitgespräch freute sich die AfD über ihren erfolgreichen Coup. "Mehr Werbung für die AfD wäre nicht möglich gewesen", frohlockte Frohnmaier im SWR-Interview. Die AfD hatte in Tübingen bei der Bundestagswahl 2025 mit nur 6,51 Prozent den niedrigsten Zweitstimmenanteil aller deutschen Städte – das Streitgespräch verschafft der rechtsextremen Partei nun eine Aufmerksamkeit, die sie vor Ort sonst nie bekommen hätte.

Trotz unverhohlener Freude vom rechten Rand ließ sich Boris Palmer nicht von seinem Weg abbringen, auch wenn er vorab gegenüber dem SWR einräumte, dass "eine solche Diskussion als Bühne für die AfD oder als Beitrag zu ihrer Normalisierung verstanden werden könnte". Seine Entscheidung, am Streitgespräch festzuhalten, begründete er bei einer vorher einberufenen Pressekonferenz plakativ mit: "Man muss mit den Leuten schwätzen." Das gelte in einer Demokratie auch, "wenn eine Partei vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft, aber nicht verboten ist". Der Weg der Nichtbeachtung sei "empirisch gescheitert", zudem wolle er Menschen nicht pauschal als Rassist oder Nazi abstempeln. Sein Ziel sei es, dass die AfD nach dem Duell sage: "Hätten wir besser nicht gemacht." Angesichts der Jubelrufe vom rechten Rand ist er am eigenen Anspruch krachend gescheitert, denn die faschistisch durchsetzte Partei bedankt sich nun für die Unterstützung im Wahlkampf.

Selbstinszenierung trifft Straßenprotest

"Ich bin gerade über die schönste Radbrücke Deutschlands ins Rathaus gekommen", klopft sich Palmer zu Beginn seiner Pressekonferenz vor dem Streitgespräch selbst auf die Schulter und stimmt eine nicht zum eigentlichen Thema passende und völlig kontextlose Lobeshymne auf einzelne Rekorde an, die Tübingen mit ihm als Oberbürgermeister erreicht habe. Dazu passt die Selbstüberschätzung, problemlos hinzukriegen, woran Profi-Journalist:innen seit Jahren scheitern: zu Lügen und Halbwahrheiten neigende AfD-Funktionäre durch Inhalte und rationale Argumente bloßzustellen. Ein vor dem Event auf Facebook von ihm geteiltes Foto symbolisiert, wie Palmer sich selbst zu sehen scheint: Das KI-generierte Bild zeigt ihn als römischen Gladiator, der anders als sein Gegner nicht einmal ein Schild zur Verteidigung benötigt.

Doch nicht alle in der Stadt sind so überzeugt von Palmers Fertigkeiten wie er selbst. Zwei Stunden bevor drinnen diskutiert wird, formiert sich vor der Halle breiter Widerstand von rund 2.000 Demonstrant:innen. Das Bündnis "Gemeinsam & Solidarisch gegen Rechts" organisiert ein "Protestfest" mit Redebeiträgen, Musik und einem klaren Motto: keine Bühne für Faschisten. Neben beinahe allen Parteien schlossen sich von Diakonischem Werk über Gewerkschaften bis zu lokalen Kulturträgern vielfältige Organisationen dem Protest an. Mai Schäffer, Sprecherin des Bündnisses, erklärt: "Schwankende Köpfe, AfD-Wähler:innen, die ihre Angst vor dem sozialen Abstieg in die Arme der AfD treibt, mit denen muss gesprochen, die müssen über die Lügen der AfD informiert und denen muss zugehört werden. Ideologisch überzeugte Nazis und AfD-Funktionäre, die müssen wir bekämpfen. Denen bieten wir kein Podium, gegen deren Veranstaltungen braucht es breiten Protest von überall."

Während der Kundgebung hört sich Palmer von der ersten Reihe aus rechts neben der Demobühne stehend einzelne Beiträge an – zumindest zeigt er Gesicht und damit Stärke, während er ausgebuht wird. Teilweise klatscht er bei einzelnen Redebeiträgen wie vom Jugendgemeinderat mit. Während des Redebeitrags der Reutlinger Bundestagsabgeordneten Anne Zerr (Die Linke) lächelt er nur mild. Im Vorfeld hatte Palmer angeboten, einen Redebeitrag zum Protest gegen seine Veranstaltung beizusteuern. Das wurde abgelehnt, zum Ärger Palmers, der anschließend kritisierte, dass die linksextreme Antifa reden durfte, der Oberbürgermeister aber nicht. "Wollen die eigentlich nur Redner, die selbst vom Verfassungsschutz beobachtet werden?", monierte er schon während der Pressekonferenz.

Ein Rhetorik-Prof blamiert sich

Beim Streitgespräch ist die Halle anfangs doch nur zu etwa 60 Prozent gefüllt – da hatte der eine oder die andere Protestler:in sich wohl ein Ticket gesichert, ohne dem Event wirklich beiwohnen zu wollen. Den Auftakt macht der Tübinger Rhetorikprofessor Joachim Knape, welcher als Moderator engagiert wurde. Der Königsweg der Kommunikation, doziert er, sei immer der des miteinander Redens. Palmers Motivation für die Veranstaltung, sagt der Moderator, bestehe darin, den städtischen Frieden zu wahren: Der Oberbürgermeister habe "Weimarer Verhältnisse durch Straßenaufmärsche" verhindern wollen – womit wohl die ausgefallene 35-Mann-Demo der AfD gemeint sein muss. Des Professoren ausuferndes Eingangsstatement mit Bezügen zu Jürgen Habermas und Hans Blumenberg läuft auf eine fragwürdige Kernthese hinaus: Die Nazis hätten die Machtergreifung damals nur geschafft, weil vorher nicht oft genug und auf Augenhöhe mit ihnen diskutiert wurde.

Für die Debatte hat Knape seine "Debattierclub-Klingel" mitgebracht, mit der er auf Einhaltung der Redezeiten pocht oder Tumult im Publikum zu beruhigen sucht. Nicht nur dabei wirkt er wie ein völlig überforderter Lehrer im Referendariat, dessen im Studium theoretisch erlernte Kommunikationstaktiken in der Realität nicht ansatzweise funktionieren.

Tumulte zum Gesprächsbeginn

Bei der eigentliche Debatte darf Frohnmaier anfangen, wird aber direkt durch lautstarke "Nazis raus"-Rufe unterbrochen. Einzelne Kleingruppen skandieren "Altera"-Rufe, andere singen die Internationale oder liefern sich erbitterte Schrei-Debatten mit AfD-Sympathisant:innen. Knape klingelt und bittet um Ruhe. Rund fünf Minuten später hat sich die Stimmung im Saal weiter aufgeheizt, fast alle stehen.

Die Polizei beginnt damit, Störer:innen aus der Halle zu entfernen. Zeitweise wirkt das wie ein AfD-Wunschkonzert: Deren Anhänger:innen gestikulieren wild, zeigen auf Protestierende, die dann hörig von Security und Polizei entfernt werden. Nach circa 20 Minuten der Unterbrechung ergreift Palmer erstmals das Wort, droht eine Verlegung des Gesprächs in ein Nebengebäude unter Ausschluss von Zuschauer:innen an und lässt verlauten, als Inhaber des Hausrechts habe er die Polizei angewiesen, die Störer:innen zu entfernen. Darauf erhält er tosenden Applaus, insbesondere aus den für die AfD reservierten Reihen.

Nachdem es im Saal etwas stiller wurde, Knape mehrfach seine Klingel läutet und viel geräumt wurde, geht das Streitgespräch nach rund 40 Minuten weiter. Und zwar damit, dass Frohnmaier sein Eingangsstatement wiederholen darf, welches er bereits zu Beginn dazu genutzt hatte, sich freundlichst beim Oberbürgermeister zu bedanken: "Sie gehen den ersten Schritt in die richtige Richtung, das ist wirklich ein Applaus wert."

Durchdacht inszenierte AfD-Show

Zu jedem Themenkomplex der Debatte sollten jeweils auch drei zufällig ausgeloste Personen aus dem Publikum sprechen, welche vor dem Event ihren Redewunsch auf einem Zettel kundtun und zur zufälligen Auslosung in eine Urne schmeißen konnten. So kamen auch Michael Blos und Martin Hess zu Wort. Beide sitzen für die AfD im Bundestag und letzterer konnte rund zwei bis drei Minuten seinen kruden Lügengeschichten über Asylbewerber:innen freien Lauf lassen. Knape kommentierte dazu gegenüber Kontext, dass es "dann doof gelaufen" wäre, sollten "wirklich zwei Bundestagsabgeordnete" gesprochen haben. Die Publikumsfragen wurden dann unerwartet gestrichen, nachdem Knape überaus unbeholfen ein Stimmungsbild per Handzeichen im Publikum einholte, wer diese überhaupt hören wolle.

Es ist Palmer abzunehmen, dass er Frohnmaier wirklich inhaltlich stellen will, was er streckenweise auch mit gut durchdachten Statements versucht. Insgesamt gelingt ihm das jedoch kaum. Sobald er kurzzeitig die Oberhand im Gespräch gewinnt, steigt ihm das sofort zu Kopf. "Nicht so lange klatschen, das geht von meiner Redezeit ab", sagt er nach seinem ordentlichen Eingangsstatement. Palmer konfrontiert Frohnmaier dabei unter anderem mit zutiefst menschenfeindlichen Zitaten von AfD-Funktionären. Der Rechtsextrem holt zum Gegenangriff aus: Er bekomme auch bei Zitaten von Palmer Bauchschmerzen, beispielsweise wenn der gegen schwarze Menschen hetze.

Von einem AfD-Funktionär so in die Enge getrieben zu werden, nagt sichtlich an Palmers Ego, der – als einzige Person auf der Bühne – ungehalten wird und kurzzeitig schreit, nachdem er persönlich diskreditiert wurde. "Ich bin Mathematiker, von Statistik verstehe ich mehr als Sie", unterbricht er Frohnmaier, welcher sich durch Palmers temperamentvolle Aussetzer auch auf einer Meta-Ebene mit seinem kalkuliert höflich und gesittetem Gesprächsstil als Sieger der Debatte inszenieren kann – von den menschenverachtenden Inhalten einmal abgesehen.

Trauerspiel

Die Veranstaltung hat in keinem Fall dazu beigetragen, dass sich die Tübinger Bürger:innen ausgewogen informieren können und sachlich austauschen, wie Knape das Ziel der Debatte immer wieder gebetsmühlenartig propagiert. Statt Palmers erklärtem Ziel, einen Rechtsextremisten zu entzaubern, blieben hauptsächlich krudes Geschwätz, schwache Argumente und jede Menge AfD-Propaganda. Verdeutlicht wird Palmers argumentative Niederlage durch die Reaktion auf sein abschließendes Statement. Hier will er Frohnmaier mit seinem eigenen Zitat, dass nach der Machtergreifung der "Parteienfilz" "aufgeräumt" und "ausgemistet" werden müsse, stellen. Statt Buh-Rufen gibt es dafür tosenden Beifall aus den AfD-Reihen. "Genau richtig so", ruft ein älterer Herr aus der zweiten Reihe.

"Zum Abschluss nochmal, vielen Dank an Sie", richtet sich Frohnmaier abschließend an Palmer, "denn das macht Demokraten aus." Auch diese Aussage wird einfach so hingenommen, von Palmer am Ende gar durch einen fast versöhnlich anmutenden Handschlag mit dem Rechtsradikalen belohnt – genau das Bild eines Gesprächs auf Augenhöhe, welches sich die AfD erträumt hat.

Moderator Knape will auch noch ein Schlusswort sprechen, was mit vielfachen Zwischenrufen wie "Bitte nicht" oder einfach "Nein" kommentiert wird. Davon offensichtlich überrascht, stammelt er kurz herum, bevor er sich für das "faire Gespräch" bedankt und ausführt: "Damit ist der Rationalität in der Politik heute eine Bresche geschlagen worden." Dafür erhält er Applaus aus den AfD-Reihen.

Palmer äußert sich im Anschluss selbstbewusst auf Facebook. Vorab habe es geheißen, so eine Debatte mit der AfD könne man nur verlieren. Aus der medialen Rezeption des Geschehens, die in der inhaltlichen Bewertung teils weit auseinander geht, leitet er ab: "Einen klaren Sieger gab es nicht." Wenn aber einer mit Palmers Selbstbewusstsein sich nach der Debatte nicht als klaren Gewinner wahrnimmt, war es wohl eher kein Unentschieden.

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2 Kommentare verfügbar

  • Helga Stöhr-Strauch
    vor 4 Stunden
    Antworten
    Hervorragend zusammengefasst. Respekt, lieber Elias Raatz! Und die Bauchschmerzen, die das Ganze sicher verursacht hat, kann man sehr gut mit Heilerde lindern.
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