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10 Jahre Zentrum Gasparitsch

Raus aus der Vereinzelung

10 Jahre Zentrum Gasparitsch: Raus aus der Vereinzelung
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 Fotos: Jens Volle und Kevin Brodbeck 

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Datum:

Die Macher:innen des Stadtteilzentrums Gasparitsch feiern zehnjähriges Jubiläum. Über die Jahre haben sie im Stuttgarter Osten einen Ort geschaffen, an dem Menschen frei von Konsumzwang zusammenkommen und etwas gestalten können.

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Langsam füllt sich der Raum, nach und nach setzen sich Gäste an die aufgestellten Tische. In einer Runde spricht eine Männergruppe um die 30 darüber, wie der beste Fitnessplan aussieht. An einem anderen Tisch stecken ältere Herrschaften ihre Köpfe zusammen. Der Kneipenabend im Gasparitsch ist immer gut besucht, erzählt Annemarie Zinser, seit 2016 Ehrenamtliche im Stadtteilzentrum. Sie und eine Freundin haben gekocht, wer Hunger hat, kann Linsensuppe mit Fladenbrot essen. Für den Durst gibt es an der Bar Limo, Wasser, Tee oder Bier. Preis: 2,50 Euro. Ein Abend hier soll niemanden in finanzielle Nöte bringen – ganz im Gegenteil zu einer Kneipennacht in den Bars in Stuttgarts Innenstadt. Und wer gar kein Geld hat, auch kein Problem: Gezahlt wird das, was der Geldbeutel hergibt. "Man kann auch einfach nur herkommen, sich hinsetzen, lesen oder nette Gespräche führen", sagt Zinser. "Das war von Anfang an unsere Grundidee: einen Ort schaffen, der frei von Konsumzwang ist", ergänzt Peter Lang, einer der Gründer des Gasparitsch. Dieses Wochenende feiern er, Annemarie Zinser und die anderen Aktiven das zehnjährige Bestehen des Stadtteilzentrums.

Konsumfreies Zusammensein

Ein paar Stunden vorher. Die Kneipe ist noch nicht geöffnet, Peter Lang und Annemarie Zinser sitzen mit Barbara Herzer und Maximilian Kiefer im Gasparitsch auf alten Sofas. "Wir haben irgendwann gemerkt, dass es in Stuttgart keine Freiräume gibt, an denen sich Gruppen einfach treffen können, ohne dafür Geld ausgeben zu müssen", erinnert sich Peter. So entstand die Idee, einen solchen Ort einfach selbst zu schaffen.

Barbara Herzer organisierte zu der Zeit bereits ein Nachbarschaftsfrühstück im Villa-Berg-Park. Damals hat jede:r etwas mitgebracht, sodass am Ende immer mehr als genug da war. "Wenn man so will, war das der Anfang von allem", sagt sie lachend. Und Maximilian Kiefer ergänzt: "Da hat sich auch schon der Grundgedanke gezeigt: Wenn jeder ein bisschen was gibt, dann entsteht daraus etwas richtig Cooles und für alle ist gesorgt." Die Idee fand damals Anklang, es kamen Engagierte zusammen, gründeten gemeinsam einen Trägerverein "für soziale und kulturelle Eigeninitiative". Mit dem Namen wurde auch der Fokus klarer: "Der Ort soll von den Menschen leben, die den Raum in Anspruch nehmen", erklärt Peter Lang. Dann kam die Suche nach geeigneten Räumen auf dem rauen Stuttgarter Wohnungsmarkt.

Zwei Jahre hat die Gruppe gesucht, dann fand sie in der Rotenbergstraße 125 einen geeigneten Standort, um all die vielen Ideen umzusetzen.

Oft haben sich die Angebote des Gasparitsch verselbstständigt. Barbara Zinser hat beispielsweise eine Bastelgruppe eröffnet, zu der nach und nach immer mehr Menschen kamen. "Irgendwann haben die Teilnehmer:innen gesagt, wir hätten Lust zusammen zu kochen – und so wurde daraus eine neue Kochgruppe." Heute sei es richtig schwer einen freien Termin im Kalender zu finden, zwischen Kultur- und Musikveranstaltungen, Spieleabenden und Nachbarschaftsfrühstück.

Gegen politische Einsamkeit

Aber das Gasparitsch ist nicht einfach nur ein Platz für Kochabende und Häkelgruppen. An den Wänden hängen politische Plakate, im vorderen der zwei großen Räume ist eine Bibliothek mit links-progressiven Zeitungen, Büchern und Magazinen, dort treffen sich linke Gruppen. "Aber alleine dadurch, dass dieser Ort für alle offen ist und man hier sein darf, auch ohne Geld, ist er bereits ein politischer Raum."

Im Gasparitsch geht es um das gemeinschaftliche Erleben von Solidarität. "Wir sehen ja, dass alle Probleme nur noch individuell betrachtet werden. Dieser Lebensstil: Jeder kann alles schaffen, du bist deines eigenes Glückes Schmied und so weiter – der geht vollkommen daran vorbei, worum es eigentlich geht", findet Max Kiefer. In allen Lebensbereichen habe sich eine neoliberale Ideologie durchgesetzt und damit auch ein Phänomen, dass nicht selten zur Krankheit werde: Vereinzelung. "Die Antwort lautet immer, dass man selbst schuld ist an seinen Problemen: Du findest keine Wohnung, tja, dein Problem", sagt Peter Lang. Mit ihrer Arbeit im Gasparitsch will die Gruppe das Gegenteil zeigen: "Viele Probleme sind nicht individuell, sondern strukturell. Und viele Menschen sehnen sich nach genau dieser Vergemeinschaftung von Problemen – und auch von Lösungen."

Im Verein arbeiten etwa 15 Personen jeden Tag ehrenamtlich für das Gasparitsch, das sich finanziert durch Spenden und Mitgliedsbeiträge. Mit ihrer Arbeit kämpfen die Ehrenamtlichen nicht nur gegen Vereinzelung, sondern auch gegen eines ihrer Nebenprodukte: die Einsamkeit. "Viele Menschen, die hierherkommen, haben ähnliche Sorgen oder Probleme und wollen damit nicht allein sein, selbst wenn es nur was Banales ist, wie nicht allein essen zu müssen." Laut einer Umfrage von 2023 fühlen sich in Stuttgart rund 58.000 Menschen ab 16 Jahren einsam – und damit jede:r Zehnte. Besonders arme und armutsgefährdete Menschen sind von Einsamkeit betroffen. Und die ist nicht nur ein flüchtiges Gefühl, sondern hat ernsthafte gesundheitliche Folgen.

In ihrer zehnjährigen Arbeit gab es einige Highlights, ist sich die Gruppe einig. "Besonders die Stadtteilfeste und 1.-Mai-Feiern sind immer toll", sagt Annemarie Zinser. Beim letzten 1.-Mai-Fest standen Tische draußen vor dem Gasparitsch, alle voll belegt. Gegen später hätten die Ehrenamtlichen anfangen müssen aufzuräumen. "Da saß noch eine Gruppe, denen haben wir gesagt: 'Wir müssen jetzt zumachen, aus Respekt vor der Nachbarschaft.' Da hat einer geantwortet: 'Wir sind die Nachbarschaft.'"

Geht's den Kindern gut, geht's der Nachbarschaft gut

Corona sei dann eine "krasse Herausforderung" gewesen. "Wie soll ein Raum, der von Gemeinschaft lebt, ohne Menschen überleben?", erinnert sich Peter Lang an die damalige Ausnahmesituation. Das Gasparitsch-Frühstück gab es damals "to go" und die Kneipe wurde kurzerhand über Video-Anrufe organisiert. In der Zeit gründeten die Aktiven auch eine Gruppe für Nachbarschaftshilfe. "Das war Wahnsinn. Da haben sich mehr Leute angemeldet, um zu helfen, als Nachfrage da war." Aber diese Zeit hat auch Spuren hinterlassen. Erst seit Kurzem sei man mit dem Angebot und den Besuchen wieder auf Vor-Corona-Niveau.

Das spürt an dem Tag auch Mani Bhouhabila. Seit 15 Jahren lebt er im Stuttgarter Osten, fünf Gehminuten vom Gasparitsch entfernt. Seit einiger Zeit bietet der Lehrer dort Nachhilfe an. Normalerweise sei immer eine Handvoll Kinder da – doch heute kommt niemand. "Gerade hier im Osten gibt es viele ärmere Familien, die können sich Nachhilfe nicht leisten oder ihren Kindern selbst helfen", sagt der Deutsch- und Sportlehrer. "Wenn es den Kindern und Familien gut geht, dann geht es der Nachbarschaft gut", findet Bhouhabila. Bei einer Zigarette bespricht er kurz darauf mit Barbara Herzer, wie sie zukünftig wieder mehr Kinder erreichen.

Gruppe G: Gasparitsch steht für Gemeinschaft

"Für uns war klar, als wir den Standort im Osten bekommen hatten, dass wir damit auch an Hans Gasparitsch erinnern wollen", erzählt Annemarie Zinser. Geboren am 30. März 1918 in Stuttgart Ost, ist Hans Gasparitsch eine wichtige Figur im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Stuttgart gewesen. Als Kind aus dem Arbeitermilieu gründete er nach der Machtübernahme Hitlers eine Widerstandsgruppe, getarnt als Wandergruppe. Die "Gruppe G", kurz für Gemeinschaft, verteilte Flugblätter, bot Schulungen für andere Widerstandskämpfer:innen an und schmiedete ein Netzwerk mit weiteren Gegnern des Faschismus.

1935 malte Hans Gasparitsch die Parolen "Hitler = Krieg" und "Rot Front" auf die Sockel zweier Statuen im Stuttgarter Schlossgarten. Eigentlich wäre er dabei unentdeckt geblieben. Doch der damals 17-Jährige kehrte zurück an den Tatort und wurde wegen Farbflecken auf der Kleidung von der Gestapo überführt. Gasparitsch kam erst für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis, dann für zehn, die er in verschiedenen Konzentrationslagern verbrachte. Zuletzt war er im berüchtigten KZ Buchenwald interniert.

"Wir sehen uns da auch in der Tradition von Gasparitsch, den Kampf für eine bessere Welt fortzuführen", sagt Zinser. Immer wieder klären die ehrenamtlichen Aktivist:innen auch über ihren Namensgeber auf und organisieren Vorträge. Dabei haben sie in der Vergangenheit auch mit Menschen gesprochen, die Hans Gasparitsch noch kannten. "Die haben uns gesagt, dass unser Raum Hans Gasparitsch sehr entsprochen hätte", – ein Riesenkompliment, findet die Gruppe. Gerade legt sie ein Buch von Gasparitisch neu auf. "Ich glaube, es ist dieser Fokus auf das Menschliche, der uns und Gasparitsch vereint", sagt Peter Lang. Darum arbeiten die Ehrenamtlichen aktuell daran, Hans Gasparitsch im Stadtteil sichtbar zu machen, zum Beispiel mit einer Plakette oder in einem Straßennamen.

Kneipenabend: gute Gespräche mit den Nachbarn

Die Kneipe ist mittlerweile voll. Es wird Suppe gegessen, getrunken, Fetzen lebhafter Gespräche wehen vorbei. Hartmuth kommt genau deshalb so gerne ins Gasparitsch. "Ich könnte auch in die immer gleiche Kneipe gehen – aber warum, wenn ich hier immer neue Menschen kennenlernen kann?" Den Engagierten Peter, Annemarie, Max und Barbara geht es vor allem darum zu zeigen, dass gemeinsam ein anderes, ein besseres Leben für alle möglich ist. "Hans Gasparitsch hat mal in etwa gesagt, 'Ich bin ein Mensch, ich will ein Mensch sein und dafür müssen sich Dinge ändern'."

Genauso sieht es Roman. Er besucht die Kneipe regelmäßig, wohnt nur ein paar Minuten entfernt: "Hier kann ich frei sein", sagt er.

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3 Kommentare verfügbar

  • Peter Nowak
    vor 2 Wochen
    Antworten
    Ich war auch schon vor 2020 mehrmals im Gasparitsch und freue mich zu lesen, dass es nach 10 Jahren mehr denn je angenommen wird.

    Doch eine Frage bleibt: Wo ist die Brücke von einer guten Nachbarschaft im Kapitalismus zu einer nichtkapitalistischen Gesellschaft? Das war ja das Ziel der…
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