Nicht erst seit gestern ist aus der linken Ecke der Vorwurf zu hören, die meisten Christopher Street Days und Pride-Paraden seien zu entpolitisierten Kommerzpartys verkommen, bei denen sich Staat und Kapital gegenseitig auf die Schulter klopfen. Von der guten, alten Tradition – wenig übrig. Was im New York von 1969 als militanter Aufstand gegen Polizeiwillkür und die heteronormative Spießbürgerherrschaft begann, ist beim werbekompatiblen Massenspektakel angekommen, das auch Konservative, Großkonzerne und sogar die Staatsmacht immer häufiger willkommen heißt. In Frankfurt am Main ging das in diesem Jahr so weit, dass die Organisator:innen eine Maßgabe erteilten: "Plakate und Aktionen gegen die Arbeit der Polizei" könnten "nicht toleriert werden".
Da war Stuttgart am vergangenen Wochenende breiter aufgestellt. Zwischen knallbunt eingefärbten Mercedes-Sternen und Reklameparolen à la "Proud like a Bosch" gab es eine beachtliche Anzahl an Bannern und Transparenten, die dagegen hielten. "LGBTQ+ ist keine Marke" etwa. Oder ganz ungepudert: "CDU, Konzerne, Polizei! Verpisst euch, das ist unser Pride!"
Der Hinweis auf sexistisch-autoritäre Strukturprobleme auch unter den Gegenwarts-Cops ist niemals deplatziert, ebenso wie gar nicht oft genug daran erinnert werden kann, dass das Großkapital bislang noch jedem Menschenrecht in den Rücken gefallen ist, wo es nicht mehr für Marketingzwecke taugt. Und trotz alledem: In Zeiten, in denen sich der Faschismus wieder größerer Beliebtheit erfreut und in der europäischen Nachbarschaft LGBTQ-freie Zonen ausgerufen werden, ist der Demonstrationszug in seiner Diversität ein starkes Zeichen. Einmal weil er sichtbar macht, dass es sexuelle Vielfalt wirklich überall gibt. Und weil die Errungenschaften einer sozialen Bewegung, die Akzeptanz und bessere Rechte für unzählige Ausgegrenzte erstritten hat, auch mal unabhängig von Meinungsverschiedenheiten gefeiert werden darf. Neben den 40.000 Teilnehmenden der Parade gab es nach Angaben der Polizei rund 400.000 Schaulustige, die solidarisch am Straßenrand standen.
Ellbogen trifft Unterkiefer
Direkt vor einem Wagen der Fluggesellschaft Eurowings, die ihr Logo in den Farben des Regenbogens präsentiert, läuft die antikapitalistische Gruppierung, hier unter dem Namen "Jugendblock". Im Gegensatz zur 1.-Mai-Demo dieses Jahr können die beteiligten Aktivist:innen sogar Rauchtöpfe anzünden, ohne dass die Staatsmacht das zum Anlass nimmt, einen Verstoß gegen die Versammlungsauflagen mit Pfefferspray und Schlagstöcken zu beantworten. Doch so schön stressfrei sollte es nicht bleiben. Zur Konfrontation kommt es, als der Demozug am Stuttgarter Schlossplatz angelangt ist und 17 Autonome den Wagen des Veranstalters blockieren (zu diesem Zeitpunkt hatte sich der antikapitalistische Block mit seinen etwa 700 Beteiligten bereits aufgelöst).
11 Kommentare verfügbar
Jupp
am 06.08.2023Man liest die Freude, dass Herr Raasch auf's Maul bekommen hat. Und interpretiert seine besonnene Reaktion in der er sich nicht auf das üble Hate-Niveau der extremen Linken hat runterziehen lassen hat, als Erfolg.
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