KONTEXT:Wochenzeitung
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Kontext zieht um

Schwerkraft? Nein danke

Kontext zieht um: Schwerkraft? Nein danke
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Ein Brandbrief aus der Perspektive eines ungepflegten Schreibtischs oder ein handsigniertes Wahlplakat von FDP-Chef Christian Lindner: Beim Umzug der Kontext-Redaktion wurden erstaunliche Fundstücke zu Tage gefördert.

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Der Willis Tower in Chicago, der schiefe Turm von Pisa oder die Multihalle in Mannheim gelten als Wunder der Statik, es sind Konstruktionen, die die Schwerkraft erfolgreich herausfordern. Beeindruckend findet das aber nur, wer noch nie den Schreibtisch von Kontext-Redakteur Oliver Stenzel zu Gesicht bekommen hat. Keine Papierstapel, sondern Totholztürme trotzen der Erdanziehung hier noch entschiedener, selten wurden die Grenzen des physikalisch Möglichen vergleichbar kühn strapaziert. Kolleginnen und Kollegen, die anfangs auf leichten Sohlen um den Arbeitsplatz herumschlichen, um ja keinen Einsturz zu provozieren, mussten bald anerkennen, dass das verzettelte Gebilde erstaunlich robust war und sogar dann stand hielt, wenn man einmal trotz aller Vorsicht gegen die Tischplatte stieß.

Doch wie zu oft in unseren Zeiten hat der Denkmalschutz tragisch versagt und das eindrucksvolle Gesamtkunstwerk fiel der für Stuttgart typischen Abrisswut zum Opfer: Zum Monatsanfang zog die Kontext-Redaktion in neue Räumlichkeiten um und nach elf Jahren in der Hauptstätter Straße 57 konnten beim Ausmisten der alten Arbeitsplätze ein paar Schätze aus vergessenen Zeiten geborgen werden. Etwa ein Brandbrief aus der Opferperspektive, der sich an Redakteur Minh Schredle richtete: Dessen Schreibtisch strebte zwar nie dem Himmel entgegen, war dafür aber in einem Ausmaß chaotisch, dass eine Intervention geboten erschien. "Lieber Minh, es ist total schlimm für mich, wirklich. Ich sehe immer so fürchterlich aus! In der Schule werde ich gehänselt, weil alle anderen immer so total aufgeräumt sind. In der S-Bahn heute morgen hat sich sogar ein anderer Schreibtisch von mir weggesetzt, weil mein Papier überall abstand", stand eines Tages auf einem Zettelchen, auf dem ein neidischer Arbeitsplatz bekundet: "Ich will so gerne sein wie Annas Schreibtisch" – also bunt, gepflegt, mit Blümchen drauf.

Doch auch diejenigen, die zu Ordnung und Bürobegrünung neigen, machten beim Ausmisten Entdeckungen der dritten Art. Anna Hunger, seit diesem Monat neue Chefredakteurin von Kontext, kramte aus einer Kiste ein Wahlplakat hervor, das den FDP-Chef und Neudenker Christian Lindner in schwarz-weiß zeigt. Es ist mit einer Widmung versehen, von dem Oberliberalen handsigniert – und bis heute konnten wir nicht herausfinden, wer dafür verantwortlich ist. Hunger ist sich sicher, nicht selbst danach gefragt zu haben, und auch sonst will es niemand gewesen sein.

Kurzhaarpflicht in Turkmenistan

Nicht minder rätselhaft bleibt, warum sich bestimmte Buchtitel in die Redaktionsräume verirrt haben. "Grenzerfahrungen" von Wolfgang Schäuble endete ungelesen auf der Straße, "Das Geheimnis des perfekten Tages" aus der Feder von Dieter Nuhr wollte sich auch niemand antun, "Die Praxis der männlichen Triebbefriedigung" von 1966 sorgte hingegen für ein paar Lacher – auch wenn oder gerade weil ein paar Einschätzungen des Autors extrem schlecht gealtert sind.

Die Bergungsarbeiten in der alten Redaktion förderten Jonglierbälle zutage, eine von der gesamten Redaktion mitgetragene Petition, endlich den tropfenden Wasserhahn in der Küche zu ersetzen, und ein Plakat aus den Hochphasen des Protests gegen Stuttgart 21, das Baden-Württembergs damaligen Wirtschafts- und Finanzminister Nils Schmid (SPD) mit der Sprechblase "Aussteigen" zeigt (hier war wohl der Wunsch Vater des Gedankens, denn Schmid sollte stets Befürworter des Milliardengrabs bleiben).

Ebenfalls in Vergessenheit geraten war die Zuschrift einer Dame aus Karlsruhe, für die es kaum ein größeres Grauen gibt als Männer mit langen Haaren, und die uns die wahrscheinlich liebevollste Hassbotschaft zukommen ließ, die Kontext seit Gründung erhalten hat. "Für uns Leser ist es nicht schön, wenn Sie immer wieder solche ekelerregenden Langhaardackel uns vorsetzen", schrieb die Leserin, erzürnt ob der "hässlichen Fratzen", die ihr die Medienwelt auftischt. Da lobt sie sich Saparmyrat Ataýewiç Nyýazow, der als Präsident von Turkmenistan dafür sorgte, dass Herrenfrisuren in seinem Land kurz bleiben mussten. Dem Schreiben beigefügt waren 37 sorgsam aus Magazinen ausgeschnittene Bilder von prominenten Menschen mit mindestens schulterlangen Haaren. Ob Udo Lindenberg, Hansi Hinterseer oder Thomas Gottschalk: "Die sollten besser auf die Geisterbahn, um Leute zu erschrecken. Mit gepflegten Grüßen, Ihr Frauen-Club."

Jüngst aus einer Ecke gekramt werden konnte zudem die Urkunde für unseren Patenschuh: Neben Schreibtisch-Hochstapler Oliver Stenzel arbeitete auch der "Ikarus vom Lautertal" an der Überwindung der Schwerkraft – wenn auch auf ganz andere Weise: Der träumerische Tüftler Gustav Mesmer, 1994 verstorben, entwarf verschiedenste Flugmaschinen, die zwar nicht taten, was sie sollten, aber dennoch ungemein faszinierend sind. Weil an seinen Werken wie dem Hubschrauber-Flugfahrrad der Zahn der Zeit nagt und sie restauriert werden müssen, sucht die Mesmer-Stiftung nach finanzieller Unterstützung. Angestoßen von unserer damaligen Chefredakteurin Susanne Stiefel konnten wir im Februar 2019 stolz verkünden, dass Kontext Patin von Mesmers Sprungfederstiefel geworden ist. Seit die entsprechende Urkunde wieder aufgetaucht ist, können wir das sogar beweisen.

Freiheit für Lucky!

Eine Geschichte, die wir unserer Leserschaft bislang verschwiegen haben, sind die Abenteuer von Vierbeiner Lucky. Im März 2018 war der Kater DAS Top-Thema in Stuttgart, denn er "fläzt wie ein Teppichvorleger im gut beheizten Eingangsbereich des Mineralbads" Leuze, sonnt sich dort gerne und begeistert die Herzen, wie die "Stuttgarter Zeitung" damals berichtete – mit Konsequenzen: Die Veröffentlichung rief Pedant:innen auf den Plan, die auf der Hausordnung herumritten. Der zufolge sind Tiere nicht erlaubt und der arme Lucky bekam ein Hausverbot, zur großen Entrüstung einer Stadtgesellschaft, die die Mieze liebgewonnen hatte. Es half alles nichts, der Volkszorn lief ins Leere und Lucky verschwand für fünf Jahre von der Bildfläche.

Dann, als sich die Krisen verdichteten und die Welt ihn am dringendsten brauchte, tauchte er plötzlich wieder auf. "Der Leuze-Kater ist zurück", meldete die "Stuttgarter Zeitung" Anfang dieses Jahres und in den sozialen Netzwerken brach sich ein Freudentaumel Bahn. Mit Blick in unser Archiv muss Kontext kleinlaut einräumen, es bislang versäumt zu haben, dem vielleicht beliebtesten Stuttgarter einen Artikel zu widmen. Aber intern war Lucky immer wieder ein Thema. Als das Leuze-Bad den Kater 2018 aussperren wollte, liebäugelte Redakteur Minh Schredle damit, eine Kundgebung unter dem Motto "Freiheit für Lucky" zu organisieren. Und er bastelte sogar einen Miniatur-Demonstranten, der auf seinem Plakat fordert: "Nieder mit der Badeordnung!"

Bislang unerwähnt blieb in unserer Berichterstattung auch der großartige Filstalbrücken-Lebkuchen, mit dem die Deutsche Bahn die Einweihung der knapp vier Milliarden Euro teuren Neubaustrecke Ulm-Wendlingen feierte (kurz bevor die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wegen Korruptionsverdachts beim Bau der Brücke öffentlich wurden). Oliver Stenzel konnte die gebackene Liebeserklärung an moderne Ingenieurskunst bei der Eröffnungs-Sause am 9. Dezember 2022 in Ulm einsacken – doch bevor sie fotografiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden konnte, hat sie irgendein Gierschlund in sich hineingeschlungen und trotz interner Ermittlungen wurde der Täter oder die Täterin nie dingfest gemacht. Weil es – natürlich! – auch diesmal niemand gewesen sein will.

Ein heimliches Grinsen zaubert immer wieder eine handgefertigte Skizze von Hartmut Mehdorn ins Gesicht. Der Bahnchef hatte sie für Josef-Otto Freudenreich gezeichnet, um ihm klar zu machen, wie er sich den Schienenverkehr in Deutschland vorstellt. Immer im Kreis rum, der eine ICE links, der andere rechts, und das im Halbstundentakt. Diese Trouvaille hat der Kontext-Gründervater bei jedem Umzug dabei, als Beleg für deutsche Ingenieurskunst, in der Mehdorn einst ausgebildet wurde. Leider konnte die Idee nicht mehr verwirklicht werden, weil der ehemalige Daimler-Manager bald zum Flughafen Berlin Brandenburg wechselte. Für immer bleiben wird aber sein Merksatz in dem Gespräch, dass Stuttgart 21 quasi unbemerkt an den Stuttgartern vorbeiziehen werde – "es sei denn, Sie stecken den Kopf in den Gully". Darauf trinkt er sicher heute noch ein Gläschen Roten in seinem südfranzösischen Häuschen.

An dieser Stelle kontern wir mit den legendären Kontext-Pralinen: 2018 haben wir die mit unserem Logo bestückten Leckerheiten in einer Auflage von zehn Exemplaren bestellt, aus Neid, weil unsere Anwaltskanzlei auch welche hatte. Eine Praline blieb als Erinnerungsstück unangetastet in ihrer Plastikschachtel. Aber heute ist sie in ihrer Desintegration so weit vorangeschritten, dass sich Joachim E. Röttgers, unser Knipser vom Dienst, weigert, das gute Stück zu dokumentieren ("Das fotografiere ich nicht!").

Wir sind die Brigade der sozialistischen Arbeit

Mit Freuden abgelichtet hat Röttgers dafür einen halbantiquierten Wimpel aus der DDR, der sich zum Kampf um den Titel "Brigade der sozialistischen Arbeit" bekennt. Unsere Redakteurin Gesa von Leesen hat ihn in den 90er-Jahren von damaligen Kolleg:innen in Chemnitz, vormals Karl-Marx-Stadt, geschenkt bekommen und sie weiß auch, wie eine Faust geballt werden muss, um das gute Stück angemessen in Szene zu setzen. Angestellt wurde von Leesen während der Corona-Pandemie, entsprechend hat sie bei Kontext vergleichsweise wenige Büro- und viele Home-Office-Erlebnisse gesammelt. Dafür ist sie umso entschlossener, die neuen Räumlichkeiten mitzugestalten und leitet den Planungsstab "Straße der Besten": Nun, wo wir über einen Flur verfügen, der lang genug dafür ist, debattieren wir eifrig, welche vorbildlichen Köpfe dort zu sehen sein sollten.

Wir sind gespannt, wann unsere Volontärin Franziska Mayr dort einen Platz ergattert. Seit März ist sie bei uns und hatte dementsprechend Null und Nada zu packen. Laptop auf den Schreibtisch – fertig. Größtes Plus: der eigene Schreibtisch! In der Hauptstätter Straße musste die Kollegin einen Monat lang ständig nach einem urlaubsbedingt freien Arbeitsplatz suchen. Das ist nun vorbei. Allgemein ist ein riesiger Pluspunkt der neuen Räume: viel mehr Platz! Als unsere feste Freie Sabine Weissinger am gestrigen Dienstag die Räume betrat, entfuhr ihr spontan: "Hier steigt das Revival meiner Inlineskates."

Doch als die letzten Kisten gepackt waren, überkam einige aus der Redaktion eine gewisse Sentimentalität. Es gab viele schöne Erlebnisse in der Hauptstätter Straße und wir durften über die Jahre haufenweise spannende Gäste begrüßen. Oder gemeinsam aufregende Wahlabende erleben, die wie bei der Stuttgarter OB-Wahl mit einem Bierumtrunk endeten, wie sich unser Fotograf Jens Volle erinnert. Doch nach elf Jahren an Ort und Stelle war es an der Zeit, sich nach einer neuen Bleibe umzuschauen – auch weil die Lärmbelästigung durch die angrenzende Stadtautobahn nicht besser wurde, und zudem hat ein eifriger Hobby-DJ in der Nachbarschaft seine Leidenschaft für Techno am Mittag entdeckt.

Die neue Redaktion ist deutlich ruhiger und, no offense, auch viel hübscher. Es gibt sogar eine Dachterrasse, die wir mit benutzen dürfen! Nachdem wir in den vergangenen Wochen um Spenden gebeten haben, um die finanzielle Zusatzbelastung durch den Umzug zu stemmen, wollen wir uns herzlich bei allen bedanken, die uns dabei unterstützt haben. Ohne unsere engagierte Leserschaft wäre Kontext nicht denkbar. Und ein ganz besonderer Dank geht auch an Sibylle Wais, die unsere Verwaltung leitet, die neuen Räume gefunden und den reibungslosen Umzug super gemanagt hat. Ohne sie würde vieles bei uns nicht laufen, und vor allem würden wir immer noch bei jedem Fensteröffnen das eigene Wort nicht mehr verstehen und eine Extraportion Feinstaub von der Hauptstätter Straße inhalieren.


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