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Landtagsfrisuren

Kein Haarschnitt ist auch keine Lösung

Landtagsfrisuren: Kein Haarschnitt ist auch keine Lösung
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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JedeR hat normalerweise EineN, der Ministerpräsident seinen Giovanni, der Innenminister Pauline. Manche pfuschen den Friseuren gerade eigenmächtig ins Handwerk, andere verhängen die Spiegel daheim, um sich vorm eigenen Anblick zu schützen. Im Südwest-Landtag gibt es von allem etwas.

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„Ein guter Friseur ersetzt den Therapeuten“, soll einer der Sinnsprüche von Udo Walz gewesen sein, dem kürzlich von uns gegangenen Berliner Meister mit Messer und Schere. So gesehen ist es erst recht an der Zeit, dass die Salons in Bälde wieder öffnen dürfen.

Britische PrimatenforscherInnen haben herausgefunden, warum menschliches Haar überhaupt wächst: Schon in Urzeiten war die Frisur ein evolutionäres Statussymbol. Denn nur wer helfende Hände um sich hatte, konnte sich den wachsenden Pelz leisten. Schon die Venus von Willendorf legte Wert auf ihr Aussehen. Strittig unter Fachleuten ist bis heute, ob den Kopf der kleinen Frau eine extravagante Frisur ziert oder eine seltsame Bedeckung, die verschleiern soll, dass sie gar keine trägt.

Dreißig Jahrtausende später wird mitten in der Pandemie im baden-württembergischen Parlament der zufällige und doch belastbare Beweis geführt, wie kein Haarschnitt Unterschiede nivelliert. Irgendwie sind alle auf ihre Weise unattraktiv. Weil die Farbe rauswächst, weil im Nacken und/oder an den Ohren sich kräuselt, was dort gar nicht hingehört, weil offenbar wird, wie erfolgreich Kurzhaar schüttere Stellen kaschiert, weil nur Glatzköpfe wie der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann gefeit sind vor Veränderungen ihres Typs. Je länger, desto schmuddeliger in der Wahrnehmung übrigens, auch das haben die Londoner Fell- und PelzexpertInnen herausgefunden: Lange Zotteln wurden seit jeher verstanden als Zeichen von Verwirrtheit oder niedrigem Stand.

Nicht von ungefähr und nicht nur in Sevilla haben Barbiere eine besondere Bedeutung. Nach Soldaten, Marketenderinnen und Prostituierten gehört die Profession zu den ältesten Berufen der Welt. Im Alten Testament wird Samson von Delilah seiner Haare und damit seiner Kraft beraubt, Eroberer skalpieren Eroberte, der kleingeratene Ludwig XIV. versuchte sich mit höheren und höchsten Perücken mehr Strahlkraft anzueignen. Zur Zeit kurvt Mona Lisa mit einer faconierten Kurzhaar-Frisur wie der der TV-Moderatorin Dunja Hayali durchs Netz und legt die Vermutung nahe, dass die Bild-Geschichte vom madonnenhaften Aussehen neu geschrieben werde müsste, hätte Leonardo ihr einen pfiffigen Pony verpasst.

Tatsächlich en vogue waren kurze Haare für Frauen nach der französischen Revolution. Moderne Pariserinnen wollten ihren Kopf zwar nicht auf der Guillotine verlieren, aber doch irgendwie so aussehen wie auf dem Weg dahin. „A la victime" war der letzte Schrei, kleine Fallbeile waren gefragt als Ohrringe. Dem mochten die Herren der Schöpfung in nichts nachstehen, wenn sie sich die Nacken ausrasierten und die Locken über der Stirne auffallend lang wachsen ließen – mit einer entsprechenden Kopfbewegung wurde der Moment der Enthauptung effektvoll nachgespielt.

Über Geschmack ließ sich eben schon damals nicht streiten. Eine Erkenntnis, die nicht zuletzt im Nachkriegsdeutschland mit Lockenwickler und Dauerwelle um sich griff. Deren Erfinder kam übrigens aus Todtnau im Schwarzwald. Wer keine Naturlocken hatte, musste samstags für samstags unter die Haube, dann eroberten Miniplis die Salons und die Fußballplätze. Unvergessen die Zeiten des Vokuhila, als Tante Käthe, von KennerInnen Rudi Völler genannt, sich freiwillig in einen Pudel verwandelte.

Minister Strobl schlägt den Bogen in Zeiten wie diesen ebenfalls, drängt auf Öffnung und das erste Rendezvous mit Coiffeurin Pauline. Denn es sei eben nicht mehr so wie vor 50 Jahren, als acht bis zehn Leute stundenlang nebeneinander gesessen, bestimmte gelbe Zeitungen gelesen oder über Kommunalpolitik gesprochen hätten. Oder, siehe Udo Walz, noch über ganz andere Dinge.

Geändert haben sich auch die Namen der Läden. Sie heißen heute „Haarstudio“ oder „Klassik für Haare“. Lange Zeit war ein besonders beliebter Name „Salon Vienna“, weil die Donaumetropole schon im 19. Jahrhundert Heimstatt vieler Schau- und Preiswettkämpfe der Friseurzunft, später sogar von Europa- und Weltmeisterschaften war. Inzwischen schlagen Kreativteams sogar bei der Namensgebung der Salons zu: Haarmonie, Haarakiri, GmbHaar, Haarlekin oder Haarspalterei.

Ausgerechnet Kretschmanns Giovanni dell'Aquila ist der Beleg dafür, wie von Vorteil es ist, wenn der Meister selber Hand anlegt. Denn Bürste ist in diesem Fall nicht Bürste, sondern Flattop. Vor allem in Berlin, war Udo Walz sicher, gebe es jene KollegInnen, die solche Schnitte formvollendet hinbekämen. Und einen in der Stuttgarter Eierstraße, der jetzt schon weiß, wer als einer der Ersten unter die Schere kommt. Schon allein, damit er dem älteren Herren, der überall im Land Wahlwerbung macht, wieder ähnlicher sieht.


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