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Weihnachten

Das Fest der Leere

Weihnachten: Das Fest der Leere
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 Fotos: Joachim E. Röttgers 

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Die Frucht des Bewusstseins ist Trägheit. Was könnte es also Schöneres geben als Weihnachten alleine zu verbringen und nichts zu tun? Als Begleitmusik zu den Festtagspassivitäten gibt es hier notwendig schwachen Trost mit den quirligen Frohnaturen Schopenhauer, Dostojewski und HP Lovecraft.

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Die Straßen sind leer, aber was soll man auch draußen? Ein an zu viel Bewusstsein erkrankter Schwätzer, den sich Fjodor Dostojewski erdachte, widerliche Wahrheiten kundzutun, hat jedenfalls die Vorzüge erkannt, sich selbst auf volle 40 Jahre in einem stinkenden und scheußlichen Kellerloch lebendig zu begraben. "Menschen sind ja nur tätig, weil sie stumpfsinnig und beschränkt sind", darf er aussprechen, und fügt über jene unmittelbaren Tatmenschen, die er für ihre Dummheit bis zur grünen Galle beneidet, hinzu: "Infolge ihrer Beschränktheit nehmen sie die augenscheinlichen und zweitrangigen Ursachen für die primären, und lassen sich auf diese Art und Weise rascher und leichter davon überzeugen, dass sie einen unanfechtbaren Grund für ihre Tätigkeit gefunden haben. Damit geben sie sich zufrieden – und das ist die Hauptsache."

Nach Dostojewski ist es den tätigen Wesen beim allgemeinen Tunnelgraben auch mit den raffiniertesten Werkzeugen bedeutend wichtiger, voranzukommen als irgendwo anzukommen. Übrigens bestätigt nichts die These so eindrucksvoll wie die Großbaustelle namens Stuttgart, wo das fröhliche Stadtumgraben mit den denkbar absurdesten Motiven begründet werden soll. Dagegen fragt unser Schwätzer nicht nach dem Vorwand, sondern der eigentlichen Ursache. Reiht spektakuläre Kausalketten aneinander, folgt ihren Pfaden, bis sie sich allzu sehr ins Unendliche verwölken, hinterfragt und überprüft, bewertet neu und kombiniert. Und das Resultat dieses mühlseligen Kopfzerdenkens? "Schließlich zuckt man mit den Schultern, denn der primäre Grund bleibt unauffindbar." Folglich bleibt nichts Klügeres zu tun übrig als die Hände in den Schoß zu legen, ist doch jede Motivation Selbstbetrug. "Die direkte, legitime, unmittelbare Frucht des Bewusstseins ist Trägheit."

Und überhaupt, was soll das Wollen eigentlich? Einer, der es als die Wurzel allen Übels erkannt hat, war Arthur Schopenhauer, entspringt doch jeder Wunsch aus einem Bedürfnis, also aus Mangel, also aus Leid. Wird dieses ausnahmsweise durch Erfüllung eines Wunsches gelindert, kommen darauf mindestens zehn, die versagt bleiben. "Ferner, das Begehren dauert lange, die Forderungen gehen ins Unendliche; die Erfüllung ist kurz und kärglich gemessen", und tritt einmal Zufriedenheit ein, so ist sie nur scheinbar. "Dauernde, nicht mehr weichende Befriedigung kann kein erlangtes Objekt des Wollens geben: sondern es gleicht immer nur dem Almosen, das dem Bettler zugeworfen, sein Leben heute fristet, um seine Qual auf Morgen zu verlängern."

Das Gruppenkuscheln der Stachelschweine

Der Philosoph, der das Nichts dem Sein entschieden vorzog und nicht nur seiner Zeit, sondern der Zeit an sich voraus war, hat das Social Distancing lange vor Christian Drosten empfohlen: Mit seiner Parabel von den Stachelschweinen, erschienen 1851. Darin rückt eine Gesellschaft von Tieren in Winters Kälte zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen – bis sie sich zu nahe kommen, mit ihren Stacheln piesacken und sie wieder auseinanderweichen. "Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden." Der Wunsch nach Gesellschaft entspringe dabei "aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern" und treibe auch die Menschen zusammen, "aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab." Des Philosophen wohlgemeinter Rat: Wer "viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen."

Den modernen Menschen im Lockdown mag dies nur ein schwacher Trost sein. Jedoch muss jeder Trost, wo er nicht täuschen soll, notwendigerweise schwach sein – ist die Welt doch ein "Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Thier das lebendige Grab tausender anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist." Und diese Welt, empört sich Schopenhauer ("Von der Hoffnung genarrt tanzen wir dem Tod in die Arme"), hat das Konzept des Optimismus hervorgebracht? "Die Absurdität ist schreiend."

Wo aber sonderbare Hilfskonstruktionen zur besseren Weltbewältigung logisch zusammenbrechen müssten, hält sie der Glaube zusammen. Das gilt für die Religion wie für den Kapitalismus, deren symbiotisches Zusammenspiel zu keinem Zeitpunkt profitabler ist als zum konsumtiven Höhepunkt des Jahres. Beliebt ist das Weihnachtsfest, weil es Familien zusammenbringt, aber das auch nur, weil sie der Arbeitsmarkt vorher auseinandergerissen hat und ihnen im Alltag die Zeit füreinander nimmt. Mit Geschenken besticht die kulturelle Hegemonie kleine und ein paar größere Kinder, keine weiteren Fragen zu stellen.

Das Gesamtprodukt Weihnachten, der vielleicht brillanteste Marketingcoup in der Menschheitsgeschichte, wird dabei als ein besinnliches vermarktet, und dass das noch immer behauptet wird, obwohl keiner daran glaubt, umreißt die zugrunde liegende Bereitschaft zur Verblendung. Gerade gäbe es Gelegenheit, sich bis zur Hysterie zu besinnen – wer aber hat Lust darauf? Tatsächlich gibt es keine Zeit im Jahr, die weniger besinnlich ausfällt, entspricht es doch dem guten Brauch, Straßen und Häuser mit kostspieligem Glitzerklimbim zu überfrachten, und sich gegenseitig, sofern leistbar, in sinnlosen Luxusprodukten zu ertränken, während im Radio ein paar Krokodilstränen für die Armen vergossen werden – an deren Leid sich, wie die Erfahrung zeigt, auch im Folgejahr nichts geändert haben wird.

Wer nicht heuchelt, stimmt kein Hallelujah an

Schlechterdings ist es, und zu Weihnachten ganz besonders, mit den systemischen Voraussetzungen der modernen Lebensführung in hohem Maße inkompatibel, überhaupt einmal zur Besinnung zu kommen. Gesamtgesellschaftlich fehlen dafür die vorgesehenen Zeitfenster. Entschleunigung und Stillstand sind nicht finanzierbar, wie jene teuren Monate im Frühjahr zeigten, als gewaltige Kosten entstanden sind, obwohl und gerade weil in der produktiven Industrie nichts passiert ist. Der unmittelbare Tatmensch aber ist froh, wenn er sein altes Leben zurückbekommt und endlich wieder einer Tätigkeit nachgehen kann. All seine Überlegungen beziehen sich auf einen laufenden Prozess, dessen konstituierende Bedingungen stillschweigend als naturgegebene und damit unabänderliche Voraussetzungen dazugedacht werden. Gearbeitet wird zum Beispiel, damit Essen auf den Tisch kommt, so einfach ist das.

Doch neben diesem Grund, der augenscheinlich als der primäre durchgeht, dient der moderne Arbeitsalltag nicht allein der sozialen Reproduktion auf individueller Ebene. Er folgt der verselbstständigten Dynamik einer Wirtschaftsordnung, deren Wachstsumszwang eine permanente Expansion notwendig macht, um unter steigendem Ressourcenbedarf immer mehr Waren für die Müllkippe zu produzieren und der Menschheit en passant ihre Lebensgrundlagen zu entziehen. Doch sogar im Angesicht einer eskalierenden Klimakrise mit potenziell letalen Folgen für die gesamte Spezies gelten Positionen im etablierten Debattenraum als weitgehend indiskutabel, die mit der ideologischen Wahnvorstellung brechen, wonach endloses Wachstum möglich sei – das, wenn man auf Schopenhauer hört, noch nicht einmal geeignet wäre, die Menschen glücklich zu machen, selbst wenn alle mehr vom Mehr abbekämen.

Was für eine wunderbare Ironie: Das Festhalten an einem außer Kontrolle geratenen Hirngespinst, von dem die Grundlagen der gesellschaftlichen Reproduktion abhängen, gefährdet nun die Voraussetzungen zur Reproduktion insgesamt. Aber um diese fürchterliche Ahnung zu verdrängen, beschleunigt die Mehrheitsgesellschaft den Kreislauf, der die Misere hervorbringt. Schopenhauer wusste stets, dass das Menschenleben zuletzt keinen anderen Stoff darbietet, "als den zu Tragödien und Komödien, – da wird, wer nicht heuchelt, schwerlich disponirt seyn, Hallelujahs anzustimmen." Mit einiger Distanz betrachet offenbart der Vorgang durchaus ein gewisses Belustigungspotenzial. Oder wie HP Lovecraft zu sagen wusste: "Die Welt ist in der Tat komisch. Aber der Witz geht auf Kosten der Menschheit."


Literaturtipp für die leeren Tage: Fjodor Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch.


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