Die Straßen sind leer, aber was soll man auch draußen? Ein an zu viel Bewusstsein erkrankter Schwätzer, den sich Fjodor Dostojewski erdachte, widerliche Wahrheiten kundzutun, hat jedenfalls die Vorzüge erkannt, sich selbst auf volle 40 Jahre in einem stinkenden und scheußlichen Kellerloch lebendig zu begraben. "Menschen sind ja nur tätig, weil sie stumpfsinnig und beschränkt sind", darf er aussprechen, und fügt über jene unmittelbaren Tatmenschen, die er für ihre Dummheit bis zur grünen Galle beneidet, hinzu: "Infolge ihrer Beschränktheit nehmen sie die augenscheinlichen und zweitrangigen Ursachen für die primären, und lassen sich auf diese Art und Weise rascher und leichter davon überzeugen, dass sie einen unanfechtbaren Grund für ihre Tätigkeit gefunden haben. Damit geben sie sich zufrieden – und das ist die Hauptsache."
Nach Dostojewski ist es den tätigen Wesen beim allgemeinen Tunnelgraben auch mit den raffiniertesten Werkzeugen bedeutend wichtiger, voranzukommen als irgendwo anzukommen. Übrigens bestätigt nichts die These so eindrucksvoll wie die Großbaustelle namens Stuttgart, wo das fröhliche Stadtumgraben mit den denkbar absurdesten Motiven begründet werden soll. Dagegen fragt unser Schwätzer nicht nach dem Vorwand, sondern der eigentlichen Ursache. Reiht spektakuläre Kausalketten aneinander, folgt ihren Pfaden, bis sie sich allzu sehr ins Unendliche verwölken, hinterfragt und überprüft, bewertet neu und kombiniert. Und das Resultat dieses mühlseligen Kopfzerdenkens? "Schließlich zuckt man mit den Schultern, denn der primäre Grund bleibt unauffindbar." Folglich bleibt nichts Klügeres zu tun übrig als die Hände in den Schoß zu legen, ist doch jede Motivation Selbstbetrug. "Die direkte, legitime, unmittelbare Frucht des Bewusstseins ist Trägheit."
Und überhaupt, was soll das Wollen eigentlich? Einer, der es als die Wurzel allen Übels erkannt hat, war Arthur Schopenhauer, entspringt doch jeder Wunsch aus einem Bedürfnis, also aus Mangel, also aus Leid. Wird dieses ausnahmsweise durch Erfüllung eines Wunsches gelindert, kommen darauf mindestens zehn, die versagt bleiben. "Ferner, das Begehren dauert lange, die Forderungen gehen ins Unendliche; die Erfüllung ist kurz und kärglich gemessen", und tritt einmal Zufriedenheit ein, so ist sie nur scheinbar. "Dauernde, nicht mehr weichende Befriedigung kann kein erlangtes Objekt des Wollens geben: sondern es gleicht immer nur dem Almosen, das dem Bettler zugeworfen, sein Leben heute fristet, um seine Qual auf Morgen zu verlängern."
Das Gruppenkuscheln der Stachelschweine
Der Philosoph, der das Nichts dem Sein entschieden vorzog und nicht nur seiner Zeit, sondern der Zeit an sich voraus war, hat das Social Distancing lange vor Christian Drosten empfohlen: Mit seiner Parabel von den Stachelschweinen, erschienen 1851. Darin rückt eine Gesellschaft von Tieren in Winters Kälte zusammen, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen – bis sie sich zu nahe kommen, mit ihren Stacheln piesacken und sie wieder auseinanderweichen. "Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden." Der Wunsch nach Gesellschaft entspringe dabei "aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern" und treibe auch die Menschen zusammen, "aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab." Des Philosophen wohlgemeinter Rat: Wer "viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen."
Den modernen Menschen im Lockdown mag dies nur ein schwacher Trost sein. Jedoch muss jeder Trost, wo er nicht täuschen soll, notwendigerweise schwach sein – ist die Welt doch ein "Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen, welche nur dadurch bestehen, daß eines das andere verzehrt, wo daher jedes reißende Thier das lebendige Grab tausender anderer und seine Selbsterhaltung eine Kette von Martertoden ist." Und diese Welt, empört sich Schopenhauer ("Von der Hoffnung genarrt tanzen wir dem Tod in die Arme"), hat das Konzept des Optimismus hervorgebracht? "Die Absurdität ist schreiend."
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