KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Das andere Kandel

Das andere Kandel
|

 Fotos: Jens Volle 

|

Datum:

Kandel war eine unbeachtete Gemeinde in der Pfalz. Bis dort ein junger Geflüchteter das Mädchen Mia umbrachte. Seitdem ist der Ort bundesweit bekannt – für einen schrecklichen Mord, aber mehr noch für das rechtsradikale "Frauenbündnis Kandel", das dort regelmäßig aufläuft. Auch am vergangenen Freitag, dem Jahrestag des Mordes. Meist verengt sich die mediale Aufmerksamkeit auf diese Umtriebe – zu Unrecht.

Fragt man Kandler nach schönen Stellen in ihrem Ort, empfehlen viele von ihnen den Blick durch die kleine Gasse auf die Sankt Georgskirche.

Unterhalb der Kirche ist die Volkshochschule in einem kleinen, hübschen Fachwerkhäuschen untergebracht. Verträumt steht es da mit seinen grünen Fensterläden.

In diesem Haus wohnt Marlies Küppers mit ihrer Familie. Seit 34 Jahren ist sie Kandlerin und liebt den Ort, weil er klein ist und übersichtlich und trotzdem alles da ist, was man zum Leben braucht. Seit einigen Monaten hängt an ihrer Tür, wie an so vielen anderen Türen und Fenstern der achteinhalbtausend Einwohner-Stadt, das Plakat von "Wir sind Kandel": der Organisation, die sich gegen die rechten Demonstranten stellt, die den Ort in Beschlag nehmen. "Man muss sich wehren", sagt sie. "Es ist toll, wie alle gegen die Rechten zusammenstehen, von der CDU bis zur Linken. Eigentlich sind wir alle Antifa."

Ihr Mann war sich anfangs nicht so sicher mit der öffentlich sichtbaren Meinungsäußerung an der Tür: Was, wenn einer einen Farbbeutel an das frisch gestrichene Haus wirft?

Der Schwanenweiher mit einem weißen und einem schwarzen Schwan, Enten, Kunstwerken und vielen Sitzbänken ist ein beliebter Treffpunkt in Kandel. Im Herbst und Winter vor allem bei Hundespaziergängern, im Sommer wird hier gegrillt bis in die Nacht. Manchmal verstecken sich hinter dem Schilf auch Jugendliche von den Schulen gegenüber, um heimlich zu rauchen.

Die Gruppe Mädchen kommt gerade vom Sportunterricht und sitzt ratschend und lachend am Seeufer. Ihre erste Frage an uns: "Ihr seid aber keine Rechtsradikalen, oder?"

Hinter den Schulen links geht es durch kleine Sträßchen mit alten, bewachsenen Mauern. Es ist ganz leise, nur ein paar Vögel sind zu hören. Dann: Ein Warnsignal in der Ferne, eine Schranke rattert, ein Zug fährt vorbei.

Friseur Sulayman Mohsem, 20, hat seinen Friseurladen vor einem Jahr aufgemacht und sagt: "Es ist wirklich wunderbar hier. Nicht so laut, nicht so stressig." Im Hintergrund schneidet ein Mann mit einem Rasiermesser exakte Kanten in einen Bart. Eine Frau mit Kinderwagen kommt herein, eine ältere Dame wartet. An Samstagen, an denen die Rechten aufmarschieren, macht Mohsem immer um 13 Uhr zu, damit nichts passiert, sagt er. Dabei ist der Samstag sein umsatzstärkster Tag.

Jeden ersten Samstag im Monat ist Demo-Tag für die Rechten. Die Leute aus Kandel verlassen dann ihren Ort, machen Ausflüge aufs Land und die Geschäfte schließen früher oder öffnen erst gar nicht. Auch die Vernissage von Benjamin Burkhard, 32, fiel auf einen der Demo-Samstage.

Burkhard ist Maler und zeigt momentan im Kandler Rathaus eine Ausstellung seiner großformatigen Bilder. Mehrere Wochen arbeitet er an einem, trägt Farbschicht um Farbschicht auf, damit Tiefe entsteht. Er möchte für die nächste Gemeinderatswahl für die SPD kandidieren, Kultureinrichtungen sind sein Thema. Gerade mit den rechten Demos sei für ihn die Frage aufgekommen: "Was muss man tun, damit das Umfeld stabil bleibt?" Die Antwort darauf in der Kultur zu suchen, das würde ihm Spaß machen.

Burkhard hat schon viele Auszeichnungen gewonnen, ist international unterwegs mit seiner Kunst. Aber Kandel erdet ihn, sagt er, hält ihn am Boden. Wenn er aus dem Ausland zurückkommt, aus LA oder Innsbruck, aus der Welt der großen Kunst wieder im kleinen Kandel landet, und jemand etwas sagt wie "Ist das nur 3D oder ist das schon Kunst?", dann fühlt er sich wieder zuhause.

Natali Pavlovic, 39, gibt in Kandel Musikunterricht. Sie kommt aus Frankreich, aus dem Elsass, das nur zehn Minuten entfernt ist. Die Ruhe schätzt sie an Kandel, sagt sie, die lieben Menschen. Sie habe dort noch nie Rassismus erlebt. "In Kandel gibt es viele Flüchtlinge, weil die Kandler gute Leute sind und sie akzeptiert haben. Diese rechten Demos sollten nicht hier passieren und die Leute, die dazu aufrufen, sollten nicht so ein kleines Dorf missbrauchen."

Pavlovic kennt sich mittlerweile aus mit Demonstrationen und sympathisiert mit den Gelbwesten in Frankreich. Sie hat zwei Kinder und zwei Jobs als Klavierlehrerin, einen in Deutschland, weil sie da mehr verdient, einen in Frankreich und dazu noch eine kleine private Musikschule. Früher, sagt sie, habe sie auch wenig Geld gehabt, aber es sei zum Leben in Ordnung gewesen. Heute sei es das nicht mehr. "Mittlerweile geht es an die Existenz, nicht mehr darum, ob sich einer einen Urlaub leisten kann. Und Macron macht nichts!"

Elsa Tabacchi-Coppa steht zwischen Broten, Zöpfen und Streuseln bei Zille-Bäck. Sie kommt aus den Dolomiten in Italien, Kandel hat sie ins Herz geschlossen, weil die Kandler freundlich seien. Und nicht ausländerfeindlich. "Unsere Stadt wird politisch ausgenutzt. Das hat nichts mit dem Mädchen zu tun, das umgebracht wurde."

"Haben Sie schon ein neues Bonuskärtchen?", fragt die Bäckersfrau eine ältere Dame. In Kandel gebe es fast jeden Monat einen Markt, erzählt die Kundin und packt ihr frisch gekauftes Finnenbrot in die Einkaufstasche. Im März den Auto- und Rad-Markt, dann den Ostereiermarkt, den Maimarkt, den Kräutermarkt, einen Töpfermarkt, den Oktobermarkt mit Weinfest, den Christkindelsmarkt vor Weihnachten und alle zwei Jahre ein Stadtfest mit vier bis fünf Bühnen: "Das ist das Schöne an Kandel."

Der Bienwald, das größte zusammenhängende Waldgebiet in der Oberrheinischen Tiefebene, ist in Kandel omnipräsent. Es gibt ein Bienwald Fitness-Studio, die Naturfreunde Bienwald, den FC Bienwald Kandel und ein Brot mit Bienwald-Kruste.

In der Bienwaldhalle baut das Bündnis "Wir sind Kandel" die Kulisse für ein Theaterstück auf. "Braun werden", heißt die Komödie. Es gibt einen Stand mit Infomaterialien, Ansteckern und Aufklebern, über einer Schale mit Trillerpfeifen klemmt ein Schild: "Wenn das rechte 'Frauenbündnis' vorbeikommt, pfeift drauf."

Im Foyer steht Jutta Wegmann zwischen den doppelten Kandlern in rot und grün – hölzerne Doppelgänger von sich, welche die Mitglieder von „Wir sind Kandel“ gebastelt haben, damit die Gegendemos größer werden. Momentan überlegt die Initiative, ob sie die Figuren in einer Art Wanderausstellung reisen lassen soll an Orte, an denen es mehr Menschen braucht, die gegen Rechts auf die Straße gehen. Es gibt Männer, Frauen, Kinder, sogar zwei Terrier, einen Labrador und einen Dackel aus Holz.

Anfang 2000 hat sich im Ort der "Nationale Widerstand Kandel" formiert, erzählt Wegmann, Soziologin, angestellt bei einem Jugendhilfeträger und ehrenamtliche Kreisbeigeordnete. Damals hat sie Infoveranstaltungen mitorganisiert, die Rechten waren irgendwann wieder weg. Und dann kam der Mord an Mia, die Demos, und die Leute sagten: "Mensch, jetzt geht das schon wieder los." Und so ist "Wir sind Kandel" entstanden, gestartet mit einem großen Treffen in der Stadthalle.

Der Flüchtlingshilfeverein von Kandel kommt im Internet nicht mehr vor. Die Facebook-Seite ist gelöscht, die Homepage auch. Zu viel rechter Hass hat sich in den vergangenen zwölf Monaten über ihnen ergossen. Und als die Hassmails und die Morddrohungen an die Flüchtlingshelfer nachließen, fingen sie beim Bürgermeister an. Die Kandler Helfer haben auf die harte Tour gelernt, dass es organisierte Gruppen gibt, die den Hass steuern und Menschen schikanieren. "Es dauerte Wochen, bis ich mich wieder raus getraut habe", erzählt eine Frau, die aus Angst ihren Namen nicht nennen möchte. "Wer wusste damals schon, wer hinter der nächsten Ecke lauert?"

"Wenn man im Ausland ist und erzählt, dass man aus Kandel kommt, dann kennen das die Leute mittlerweile", sagt Nico de Zorzi, 26 Jahre alt. Er ist in Kandel aufgewachsen, er liebt das Waldschwimmbad, die Bolzplätze, im Bienwald haben er und seine Freunde als Kinder Baumhäuser gebaut.

Er kennt Kandel nur als einen Ort, der tolerant ist, an dem Nationalitäten nie eine Rolle gespielt haben. "Die Rechten ziehen das Bild in der Öffentlichkeit runter, dabei sind es gar keine Kandler." Seine Freizeit verbringt er vor allem im Jugendzentrum am Schwanenweiher, das Kinderferienfreizeiten organisiert.

Früher war er als Teilnehmer dabei, seit zehn Jahren ist er selbst Betreuer. Und er ist aktiv bei "Kandel gegen rechts" als Mitglied der Partei Die Partei. Die sei in Kandel mittlerweile so groß, dass der Ableger mit elf Aktiven im Ortsverein und 20 im Kreisverband zu den größten in Rheinland-Pfalz gehöre.

Bei einer Demonstration gegen einen rechten Aufmarsch in Kandel hat Nico de Zorzi vor einigen Monaten seine Freundin kennengelernt. Mittlerweile gehört auch Alpaka Pebbles zur Familie. Pebbles, erzählt de Zorzi, sei natürlich auch Antifaschist. Kürzlich erst hat das Stofftier mitdemonstriert und einen Farbbeutel abbekommen. Der Fleck? Der wird vermutlich bleiben.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


1 Kommentar verfügbar

  • Helga Trauth
    am 06.01.2019
    Antworten
    Danke für diesen Artikel. Sie sind Kandel gerecht geworden. So kennen wir Kandler unsere Stadt. Und wir werden uns von den Rechten unsere Stadt nicht nehmen lassen.
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!