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Bildungsreform im Grünen-Wahlprogramm

Sie hatten Visionen und Ideale

Bildungsreform im Grünen-Wahlprogramm: Sie hatten Visionen und Ideale
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Baden-Württembergs Grüne hätten sich bildungspolitisch so richtig freischwimmen können: Statt im Wahlprogramm 2026 mit alten Überzeugungen aufzuwarten, ohne Bremsklotz CDU, werden eigene Fachleute düpiert. Und KI war auch im Spiel.

In dieses offene Messer laufen wollen die verantwortlichen Grünen im erfolgsverwöhnten Landesverband Baden-Württemberg auf keinen Fall: Die Fachpolitiker:innen von CDU und FDP oder die bildungsbürgerlich orientierten Lehrerverbände warten nur darauf, dass eine neue Strukturdebatte über das überkommene Schubladenschulsystem im Südwesten ab der fünften Klasse über den Horizont zieht. Der Lagerwahlkampf wäre bis zum 8. März programmiert. Gebrannte Grüne scheuen das Feuer. In schlechter Erinnerung sind die Verdrehungen und Beschimpfungen in der Zeit, in der die Partei zwischen 2011 und 2016 mit der SPD regierte: Als die Gemeinschaftsschule anhaltend als Einheitsschule diffamiert wurde. Als die Oppositionsfraktionen CDU und FDP die Verunsicherung von Eltern und Schulträger als ein, wenn nicht sogar als das Ziel verfolgten.

Aber es sind fast zehn Jahre vergangen. Gemeinschaftsschulen haben ihre Vorzüge bewiesen, Bildungsvergleiche sprechen eine deutliche Sprache. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat seine Kultusministerin Theresa Schopper (beide Grüne) sogar nach Hamburg geschickt, um noch mehr über die guten Erfahrungen mit dem längeren gemeinsamen Lernen und Lehren zu erfahren. Sogar der Beschluss des CDU-Parteitags 2011 in Leipzig, Haupt- und Realschulen von Flensburg bis an den Bodensee zusammenzuführen, hätte hervorgekramt werden können, um sich für die zu erwartenden Auseinandersetzungen zu wappnen. Der Vorschlag externer Fachleute, rund um die Rückkehr zum klassischen neunjährigen Gymnasium eine Neue Sekundarschule einzurichten, "das die nicht gymnasialen Schularten in einer Säule zusammenfasst", liegt auf dem Tisch. Sogar der noch geltende Koalitionsvertrag von 2021 wäre eine Blaupause gewesen. "Es besteht Einigkeit, dass keine grundlegenden Strukturdebatten geführt werden", steht darin zu lesen – bezogen auf die laufende Legislaturperiode.

All die Argumente konnten aber nicht überzeugen. Gezogen werden im Entwurf des grünen Wahlprogramms ganz andere Lehren. Die eigene Programmatik ist weichgespült, die neuen Zauberworte "Zukunftsschule" oder "Wohlfühlort" sind es ebenso. An solchen Orten sollen junge Menschen "Demokratie erleben und erlernen, Gemeinschaft gestalten und ihre Stimme finden". Laut Programmentwurf müssen Bedingungen geschaffen werden, unter denen jedes Kind seine Stärken entfalten kann, durch gezielte Förderung und mehr Gestaltungsspielräume vor Ort. Baulich seien Schulen "so aufzustellen", dass moderne Pädagogik ermöglicht werde mit ausreichend Platz, guter Ausstattung und digitaler Infrastruktur. 

KI kam "nur in einem Zwischenschritt" zum Einsatz

Viele Formulierungen im einschlägigen Kapitel zwei ("Orte der Chancen: Das Aufstiegsversprechen durch Bildung erneuern") erhärten bei der Lektüre einen schleichenden Verdacht. Auf Kontext-Nachfrage erläutert eine Sprecherin des Landesverbandes in entwaffnender Offenheit, wie der Entwurf entstand: In zwölf Facharbeitsgruppen wurde er im Anschluss an ein Mitgliederbeteiligungsverfahren inhaltlich ausgearbeitet, danach hat sich ein Redaktionsteam damit befasst – und die KI. "Künstliche Intelligenz kam bei einem Zwischenschritt zur Strukturierung der vorher in den Facharbeitsgruppen erarbeiteten Textbausteine zum Einsatz", teilt die Landesgeschäftsstelle im schönsten Technokrat:innen-Deutsch schriftlich mit. Jedoch seien keine Inhalte mit KI-Hilfe erstellt, sondern "die strukturierten Inhalte in den folgenden Schritten von verschiedenen Akteur*innen in mehreren Schleifen überarbeitet und finalisiert worden".

Konkretisiert aber nicht. Entweder menschliche oder künstliche Intelligenz hat früheren Überlegungen den Zahn gezogen. Zum Beispiel zur Qualität des Unterrichts, die schon seit 2021 im Mittelpunkt der grün-schwarzen Bildungspolitik stehen sollte. Die gemeinsam mit Chancengerechtigkeit weiterzuentwickeln, habe "höchste Priorität". Konkrete Antworten auf die Frage nach dem "Wie" bleiben aufgespart.

Die zuständigen Fachpolitiker:innen aus Partei und Fraktion hatten ihrerseits 15 Seiten vorgelegt, die ganz ohne KI eine Struktur vorweisen konnten, mit grünen Erfolgen auf der einen und Versprechen auf der anderen Seite, mit Zielen und Forderungen, thematisch aufgefächert und leicht fasslich. Die Vokabel "Wohlbefinden" kam da auch vor, aber nicht als Waschmittelwerbeschlagwort, sondern substanziell in Zusammenhang mit Corona-Folgen, mit Handy- und Social-Media-Nutzung, mit der Stärkung von Schulsozialarbeit und gesundheitlichen Krisen bei Kindern, Jugendlichen oder Lehrkräften.

Früher wollten sie weg vom Selektieren

Wie weit die hiesigen Grünen, zumindest jene, die für das jetzt vorliegende Programm verantwortlich zeichnen, eigene Ambitionen hinter sich gelassen haben, zeigt der Umgang mit den Klassenstufen fünf bis zehn. Die Schularten dieser sogenannten Sekundarstufe I will die Facharbeitsgruppe in ihrer Vorlage in den Blick nehmen. Der vom Landesvorstand abgesegnete Entwurf vernebelt das Vorhaben durch den Begriff "weiterführende Schulen". Das Wort "Reform" kommt in beiden Papieren überhaupt nur noch in Zusammenhang mit der Rückkehr zum neunjährigen Weg zum Abitur in klassischen Gymnasien vor. Manche Bewertung ist gar gänzlich aus den Fugen geraten, etwa wenn ein "Zurück an die Leistungsspitze" versprochen wird, wo Baden-Württemberg noch nie war, vor allem in der Frage der Abhängigkeit von gesellschaftlicher Herkunft und Schulerfolg.

Ohnehin lohnt der Blick zurück. Wäre es nach den Plänen von vor zwei Jahrzehnten gegangen, damals vehement vertreten durch einen gewissen Winfried Kretschmann, hätten schon 2006 geborene Kinder von der neuen neunjährigen Basisschule im ganzen Land profitieren können, also von der Überwindung des selektiven Schulsystems. "Integrativen Schulsystemen gelingt es besser, den Erwerb der Grundkompetenzen zu sichern und gleichzeitig Spitzenleistungen zu erzielen", hieß es in einschlägigen Beschlüssen, etwa beim Landesparteitag 2005 in Bad Saulgau. Nicht nur die Sekundarstufe I sollte verändert werden, sondern alle Kinder von der ersten bis zur neunten Klasse sollten vom gemeinsamen Lernen und Lehren verbunden mit individueller Förderung profitieren. "Wir haben Ideale und Visionen", strotzte sogar Ex-Pädagoge Kretschmann geradezu vor Reformeifer. Gute Schulen, deren Angebote für alle Schichten gleichermaßen zugänglich seien, beschrieb er als "Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit".

Diese Positionierung blieb keine Eintagsfliege. Im Gegenteil. Das vier Jahre später in Bruchsal beschlossene Wahlprogramm liest sich ebenso glasklar: Die CDU/FDP-Landesregierung habe das Schulsterben im ländlichen Raum massiv beschleunigt. Aktiv unterstützen wollten die Grünen deshalb das Anliegen vieler Kommunen, ein größtmögliches Angebot durch weiterführende Bildungswege innerhalb einer Schule auszugestalten. Geplant war die Einführung von zwei- oder dreizügigen Basisschulen als Gemeinschaftsschulen, denn bei gezielter regionaler Planung könne in zwei von drei Gemeinden eine Sekundarschule entstehen.  Im Koalitionsvertrag 2011 mit der SPD ist zwar das Wort "Basisschule" verschwunden, nicht aber die auf vielen internationalen Studien basierende Erkenntnis, dass sich "unsere bildungspolitischen Ziele in der Gemeinschaftsschule für alle Kinder bis Klasse 10 am besten erreichen lassen".

Delegierte sollten alte Beschlüsse vortragen

Die damaligen Versprechungen der Befürworter:innen sind aktueller denn je: mehr Chancengleichheit, gute Ressourcenausstattung, bestmögliche individuelle Förderung, Sicherung wohnortnaher Schulstandorte mit breitem Angebot an Schulabschlüssen – insbesondere in den ländlichen Räumen –, effiziente Nutzung finanzieller Spielräume. Sie umzusetzen ist aber mit den jetzt vorliegenden Plänen der Südwest-Grünen unmöglich. Und Artikel 11 der Landesverfassung steht weiterhin nur auf dem Papier: "Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung."

Am besten wäre es, wenn beim Landesparteitag Mitte Dezember in Ludwigsburg, der das Wahlprogramm 2026 endgültig verabschieden soll, Delegierte einfach die Beschlusslage früherer Jahre vortragen –  damit sich die Verfasser:innen des Programmentwurfs erinnern und rückbesinnen. Selbst der Ministerpräsident könnte sich einreihen, hat er doch noch in seiner Regierungserklärung im Mai 2024 mehr Übersichtlichkeit in der Schullandschaft versprochen, weil Baden-Württemberg eines der komplexesten Schulsysteme der Republik habe. Das überfordere nicht nur viele Eltern, sondern binde auch zu viele Ressourcen. Und die KI, gefüttert mit eben jenen Erkenntnissen, sagt auf eine Frage dazu: "Ja, es gibt die politische und öffentliche Wahrnehmung und Kritik, dass das Schulsystem Baden-Württembergs eines der komplexesten in Deutschland sei." 

Sein Versprechen von "mehr Klarheit in der Struktur" hat der Ministerpräsident ebenso gebrochen. Denn tatsächlich wurde das Angebot ausgeweitet. Bisher gab es das neunjährige Gymnasium (G9) nur auf dem Beruflichen Gymnasium, seit Schulbeginn ist es aufs allgemeinbildende Gymnasium mit Klassen fünf und sechs ausgeweitet. Wie viele alte G8-Standorte ab der Fünften landesweit noch im Angebot sind – in Stuttgart ist es das Karls-Gymnasium –, weiß das Kultusministerium im stetigen Bemühen um Klarheit nicht. Und die KI erst recht nicht. Fragt man sie, sind Wohlfühlorte "ein innerer, mental vorgestellter Ort (...), der durch Imagination erschaffen wird". Das wird Kindern und Jugendlichen, Eltern und Lehrkräften im Land schwerlich reichen. Um nicht neue Zauberworte, sondern das gute alte Schulvokabular zu nutzen: Es wird den Grünen wenig anderes übrig bleiben als nachzusitzen – ausreichend gute Noten könnten sonst im nächsten März ziemlich gefährdet sein.

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