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Kanzlerwahl

Zwei Alphatiere verzocken sich

Kanzlerwahl: Zwei Alphatiere verzocken sich
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Knapp war es oft. Konrad Andauer erhielt 1949 gerade so die nötige Mehrheit fürs Kanzleramt, auch Helmut Schmidt (1976) und Helmut Kohl (1994) mussten bangen. Am Ende hat es aber immer gereicht. Bis Friedrich Merz und Lars Klingbeil kamen.

So kann frau sich täuschen: Die neue Parlamentspräsidentin Julia Klöckner (CDU) freute sich an diesem historischen Dienstagmorgen über die fröhliche Stimmung im Bundestag, bevor sie begann, die Regularien der Kanzlerwahl zu erläutern. 18 Abgeordnete hatten da ihre Messer schon gewetzt. Wegen ihrer fehlenden Stimmen wurde die notwendige Mehrheit für Kandidat Merz im ersten Wahlgang deutlich verfehlt. Höchst plausibel ist, dass die Neinsager:innen aus beiden Fraktionen kommen, aus der Union und der SPD. Höchst plausibel ist auch, dass Unzufriedenheit das Motiv war: über die schlechten Ergebnisse, gebrochene Wahlversprechen, über schmerzliche Abweichungen von bisher als unverrückbar beschriebenen Positionen im Koalitionsvertrag, nicht zuletzt über Personalentscheidungen.

Wie war Friedrich Merz in weiten Teilen der veröffentlichen Meinung bejubelt worden für seine Kabinettsriege mit Quereinsteiger:innen. Beklatscht wurden die als angeblich mutiger Neuanfang. Wie wenig wurde nach der Stimmung unter erfahrenen Expert:innen in seiner Partei gefragt, die nicht zu Zuge gekommen sind. Wie wortreich beschrieben wurde die Machtfülle von Lars Klingbeil, der neue besonders starke Mann an der Spitze der SPD, die nach Bekanntgabe des Ergebnisses im ersten Wahlgang eingegangen ist wie ein Soufflé.

Im zweiten Wahlgang, für dessen Durchführung noch am gleichen Tag erst eine Änderung der Tagesordnung nötig war, konnte der Super-GAU abgewendet werden, weil sich ausreichend viele Volksvertreter:innen an ihre Verantwortung fürs große Ganze erinnerten. Selbst bestbegründete Vorbehalte gegen Merz und Klingbeil rechtfertigen nicht, die Republik in eine tagelange Dauerkrise zu stürzen. Die CDU hat den Koalitionsvertrag ohne Gegenstimme auf einem Kleinen Parteitag angenommen, die SPD-Führung lobte sich und die eigene Basis über die mehr als 80 Prozent Zustimmung im Mitgliederentscheid. Dann aber den gemeinsam ausgeguckten Regierungschef durchfallen zu lassen, wäre Verrat an diesen Votings gewesen.

Anhaltend geschwächt sind die beiden Alphatiere aber allemal. Sie haben die Stimmung in zu großen Teilen ihrer Fraktionen völlig falsch eingeschätzt. Sie müssen sich eingestehen, mit Ansage hinter die Fichte geführt worden zu sein. Viele Herausforderungen wollen Union und SPD gemeinsam angehen. Bei jedem inhaltlich komplizierten Kompromiss werden sich die Koalitionsspitzen fragen (lassen) müssen, ob das Votum diesmal funktioniert.

Die idiotische Gleichbehandlung ist Geschichte

Eine ganz andere Konstellation hat sich zum ersten Mal ergeben mit ebenfalls weitreichenden Konsequenzen, zumindest aus Sicht der AfD. Denn die Union hat sich während der Operation am offenen demokratischen Herzen eingestanden, dass es ohne die Linke keinen zügigen Ausweg aus der Misere gegeben kann. Sogar der künftige CSU-Innenminister Alexander Dobrindt soll dabei beobachtet worden sein, wie er mit der Linken-Fraktionsvorsitzenden Hedi Reichinnek zum Vier-Augen-Gespräch in ein Büro verschwand.

Die ohnehin idiotische Gleichbehandlung der sogenannten Ränder links und rechts ist damit endlich Geschichte. Die notwendigen Änderungen der Tagesordnung brachten Union, SPD, Grüne und Linke gemeinsam auf den Weg. Dass die AfD schlussendlich ebenfalls mitstimmte, war völlig ohne Bedeutung. Was für ein Signal, dass selbst die größte Opposition im Bundestag nicht gebraucht wird, um eine sinnvolle gestalterische Mehrheit zu Stande zu bringen.

Die allgemeine Erleichterung, die sich im Laufe der folgenden Stunden bereit machte, kann über den Fehlstart nicht hinwegtäuschen. Den vielen Versprechen, sowohl die Wahlergebnisse wie auch die historischen Stunden zum Start in die 20. Legislaturperiode aufzuarbeiten, müssen Taten folgen. Vor allem Taten der beiden Chefs. Denn die Schubladen, in welchen die gewetzten Messer gegenwärtig wieder gut verstaut liegen, sind schnell geöffnet. Stabile Mehrheiten sehen anders aus.

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1 Kommentar verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    vor 10 Stunden
    Antworten
    Endlich, wenigstens in ersten Ansätzen, demokratisches Handeln im Bundestag – NEIN, nicht wegen einem Scheitern im 1. Wahlgang, sondern weil Bundestagsverwaltung und Abgeodnete gefordert waren in unser Grundgesetz und die Geschäftsordnung hineinzusehen; und das _intensiv.
    Es sollte ja _kein_…
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