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Tübinger Müllabfuhr vor Privatisierung

Kommunale Tonne auf der Kippe

Tübinger Müllabfuhr vor Privatisierung: Kommunale Tonne auf der Kippe
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Der Tübinger Müll soll nicht mehr von der Kommune abgeholt werden. Der Gemeinderat wird am 8. Mai über die Privatisierung der städtischen Müllabfuhr abstimmen. Das würde den Stadthaushalt finanziell entlasten, doch Vorteile für die Bürger:innen sind nicht zu erwarten. Eher im Gegenteil.

Noch holen in Tübingen städtische Mitarbeitende den Müll ab, doch das soll sich ab 2027 ändern. Denn die Müllabfuhr, bislang von den Kommunalen Servicebetrieben Tübingen (KST) organisiert, schreibt seit Jahren Verluste. 2025 wird das Defizit auf rund 600.000 Euro geschätzt, Tendenz steigend. Hinzu kommt ein gravierender Investitionsstau – neue Müllfahrzeuge und sanierungsbedürftige Betriebsgebäude würden Millionen verschlingen. Jetzt sollen die bislang kommunalen Aufgaben an private Anbieter wie Alba oder Remondis vergeben werden. Vielen Mitarbeitenden der KST sei ihre Arbeit zwar ans Herz gewachsen, doch "den meisten ist klar, dass in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten wie diesen ein über Jahre defizitärer Bereich schwer zu halten ist", so Stefan Kraus, Leiter der KST.

Zwischen den Fraktionen im Gemeinderat herrscht Uneinigkeit, im Planungsausschuss war eine Mehrheit pro Privatisierung. Teile der Stadtbevölkerung und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hingegen lehnen eine Privatisierung ab. "Unser Ziel ist der Erhalt der kommunalen Daseinsvorsorge, denn diese stärkt in schwierigen Zeiten das Vertrauen der Menschen in einen funktionierenden Staat", erklärt die DGB-Kreisvorsitzende Margrit Paal.

Kommunale Lösung unter wirtschaftlichem Druck

Tübingen vor der Haushaltssperre?

Die Universitätsstadt muss sparen. Die Tübinger Steuereinnahmen brechen ein, erwartet wird ein Einnahmeverlust von rund 14 Millionen Euro. Daher wird der Gemeinderat in der kommenden Sitzung am 8. Mai nicht nur über die Müllabfuhr, sondern auch über eine Haushaltssperre sprechen. Einen entsprechenden Antrag wird Oberbürgermeister Boris Palmer stellen. Obwohl die Stadt bereits rabiat den Rotstift angesetzt hat, beispielsweise beim ÖPNV oder der Kultur, ist der Haushalt weiterhin nicht gedeckt. Margrit Paal vom DGB fragt sich, wo eigentlich nicht gespart werde: "Die Stadtverwaltung legt so viele Sparpunkte vor, dass man gar nicht mehr weiß, wo eigentlich genau gespart werden soll."

Um einen "genehmigungsfähigen Haushalt" zu haben, will Palmer jetzt den Hebesatz der Grundsteuer B von 270 Prozent auf mindestens 300 Prozent erhöhen. Und zwar rückwirkend zum 1. Januar 2025. Die geplante Anhebung in Tübingen sei "schwer nachvollziehbar und schon enorm", sagte ein Sprecher des baden-württembergischen Finanzministeriums der "Stuttgarter Zeitung".  (era)

Christian Mickeler (Grüne) wird mit seiner Fraktion für die Privatisierung stimmen, "aber nicht grundsätzlich gegen kommunale Betriebe, sondern zur Auflösung eines in BW eher unüblichen Systems". In Tübingen kümmert sich die Stadt um die Müllentsorgung, der eigentlich zuständige Landkreis bezahlt ein Entgelt. Das reicht aber nicht aus. Laut Carmen Schweikert (Tübinger Liste) werde die kommunale Müllabfuhr im Wettbewerb mit Spezialfirmen "immer ein teurer 'Hobbybetrieb' bleiben".

"Die Defizite ergeben sich hauptsächlich aus den Kosten für die Mietfahrzeuge, der neu hinzugekommenen Umsatzsteuer-Verpflichtung und den vergleichsweise hohen Tarifabschlüssen", erklärt KST-Leiter Kraus. Innerhalb der bestehenden Vereinbarung können weder grundlegende Abrechnungsmodalitäten geändert noch gestiegene Kosten umgelegt werden. Daher will die Stadt die Abfuhr von Bio-, Rest- und Sperrmüll an den Landkreis zurückgeben. Dort würde die Müllentsorgung wie im restlichen Landkreis ausgeschrieben und an das günstigste private Unternehmen vergeben. Die Gelben Säcke werden im Stadtgebiet bereits vom Entsorger Alba abgeholt. Nach 2009/2010 und 2023 ist dies bereits der dritte Versuch, die Müllabfuhr zu privatisieren.

Müllabfuhr systematisch kaputtgespart

DGB sowie die Linke-Fraktion im Gemeinderat kritisieren, die städtische Müllabfuhr mit Fuhrpark und Gebäuden sei in den letzten 20 Jahren regelrecht kaputtgespart worden. "Bereits jetzt sorgt die Rathausspitze dafür, dass gute Arbeitskräfte dem Laden den Rücken kehren", ärgert sich Gerlinde Strasdeit (Linke). Auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Florian Zarnetta sieht teils ausgebliebene Investitionen als Treiber für das starke finanzielle Argument gegen den kommunalen Verbleib. Geld sei zurückgehalten worden, um keine Tatsachen für den Verbleib zu schaffen. Doch "selbst mit modernem Fuhrpark und Gebäuden bliebe das Kostenproblem – wahrscheinlich würde es sich sogar über viel höhere Abschreibungen verschärft haben", heißt es in einem Statement der Tübinger Liste. Dem stimmt auch Christian Mickeler (Grüne) zu.

"Das ist so nicht richtig", entgegnet KST-Leiter Kraus, denn in den vergangenen Jahren sei viel in die Müllabfuhr investiert worden und der komplette Fuhrpark mit neu angemieteten Wagen ausgestattet. "Angemietet (und nicht gekauft) haben wir die Fahrzeuge, um dem Gemeinderat die größtmögliche Freiheit bei der jetzt anstehenden Entscheidung zu lassen", erklärt Kraus. Dass die Gebäude der KST, die auch für Straßenunterhaltung, Friedhofswesen oder Winterdienst zuständig ist, in die Jahre gekommen sind, bestreitet Kraus nicht.

Keine Kündigungen, aber Tarifflucht?

Ab dem 1. Januar 2027 könnten also neue Fahrzeuge mit anderen Müllwerkern durch Tübingen rollen und die Aufgaben der KST übernehmen. Deren Leiter glaubt, die Mitarbeitenden seien in erster Linie froh, dass endlich eine Entscheidung getroffen wird. Betroffenen Beschäftigten werde eine andere Stelle bei den KST angeboten, weswegen niemand um seinen Broterwerb fürchten müsse. "Müllwerker sind keine Großverdiener", so Strasdeit. "Für diejenigen, die dann den Müll abholen, bedeutet eine Privatisierung die Flucht aus den kommunalen Tarifen und ein Verlust an sozialer Sicherheit."

Wie auch KST-Leiter Kraus in Bezug auf die Müllabfuhr, machte Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos) bei Markus Lanz am 22. April (unter anderem neben Kosten für Flüchtlingsunterbringung sowie Bürgergeld) "völlig überhöhte Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst" für die miserable Finanzlage der Stadt verantwortlich. "Krass, sich gegen die eigenen Beschäftigten zu wenden", resümiert Paal (DGB), die Mitglied der Bundestarifkommission für den öffentlichen Dienst ist und zudem für die Linke im Kreistag sitzt. Palmers Aussagen seien "demokratiefeindlich", denn "gegen Gewerkschaften zu hetzen, ist angesichts der gesellschaftlichen Stimmung höchst problematisch". Selbst mit guten Tarifabschlüssen ließen sich die immensen Preissteigerungen der letzten Jahre kaum mehr auffangen. Rund ein Drittel der Aufstocker in Tübingen – also Menschen, die trotz Arbeit Sozialhilfe benötigen – seien Vollzeitbeschäftigte. Palmer sollte versuchen, etwas gegen steigende Lebenshaltungskosten oder horrende Mieten zu unternehmen. Am besten aber könne er "nach oben buckeln und nach unten treten", kritisiert Paal.

Müll im Landkreis: bestellt und nicht abgeholt

Der DGB plädiert für den Erhalt der kommunalen Müllabfuhr. Bei einem privaten Unternehmen würden schlechtere Arbeitsbedingungen und Nachteile für die Stadtbevölkerung drohen. Schließlich müsse ein Privater profitabel arbeiten. Als 2022 Alba im Landkreis Esslingen die Müllentsorgung übernahm, brauchte es Monate, bis die Abfuhr tatsächlich funktionierte – zu wenig Leute, zu wenig Fahrzeuge. Solche Zustände gab und gibt es laut KST-Leiter Kraus bei Alba im Landkreis Tübingen nicht, allerdings berichten "Schwäbisches Tagblatt" und "Reutlinger Generalanzeiger" aktuell von Problemen mit dem über die Stadtgrenzen hinaus zuständigen Entsorgungsunternehmen – und zwar landkreisweit von Dußlingen über Mössingen bis Gomaringen. Wegen vieler Krankmeldungen verzögert sich teils tage- oder wochenlang die Abfuhr von Restmüll, Biotonne und Gelben Säcken – wortwörtlich wie bestellt und nicht abgeholt.

"Erfahrungen bei der Privatisierung der Abfallentsorgung zeigen, dass die Dienstleistung in der Regel an Qualität einbüßt. Gebühren werden eher erhöht, als dass die Bürgerinnen und Bürger etwas damit sparen", so Paal (DGB). KST-Leiter Kraus erwartet trotz Privatisierung keine größeren Änderungen, schließlich würde einer neuen Ausschreibung ein detailliertes Leistungsverzeichnis zugrunde liegen. Die vom Landkreis festgelegten Rahmenbedingungen entsprächen jedoch nicht eins zu eins dem Standard der KST, was unter anderem die Tarif- und Arbeitsbedingungen der Müllwerker betreffe, kritisiert Zarnetta (SPD).

Zweifel an privaten Anbietern seien verständlich, diese könnten laut Tübinger Liste aber "vertraglich abgefedert werden – etwa durch Sanktionsmechanismen bei nicht fristgerechter Abfuhr". Doch was nützen den Bürger:innen Strafzahlungen, wenn der Müll beispielsweise wegen Personalmangels nicht abgeholt werden kann? Nach einer Rückgabe an den Landkreis liegt die Überwachung eines privaten Anbieters zudem ausschließlich in der Hand des Landkreises, die Teilzuständigkeit der Universitätsstadt endet. Über Kostensteigerungen tagt dann der Kreistag auf Grundlage der Vereinbarung mit dem privaten Dienstleister, einige Gemeinderatsfraktionen erwarten steigende Kosten für die Bürger. Für Strasdeit (Linke) steht fest: "Die Profitabsicht hat in einem Betrieb, der für die kommunale Daseinsvorsorge zuständig ist, nichts verloren."

Grüne, FDP und Tübinger Liste wollen privatisieren

Die Fraktionen von SPD und CDU werden individuell abstimmen. Dazu erklärt CDU-Stadtrat Peter Lang, eine städtische Müllabfuhr sei als zentraler Punkt der Daseinsfürsorge zwar begrüßenswert, aber das in Aussicht gestellte Einsparpotenzial könne nicht ignoriert werden. Durch die geschlossene Zustimmung von Grünen, Tübinger Liste und FDP ist mit einer Mehrheit für die Privatisierung zu rechnen. Die Linke fordert, dass der Landkreis den Vertrag mit der Stadt bezüglich der vereinbarten Entgelte anpasst und mehr bezahlt, sodass das Defizit der Tübinger Müllabfuhr bei der Stadt kleiner wird. Eine Alternative zur Vertragskündigung wäre die Gründung einer gemeinsamen selbstständigen Kommunalanstalt durch Stadt und Landkreis. "Diese Rechtskonstruktion würde die Gebührenhoheit für den Rest- und Biomüll wieder in die Hände der Stadt legen und damit einen Ausgleich des Defizits im städtischen Haushalt ermöglichen", ist sich Zarnetta sicher und wird einen entsprechenden Antrag stellen.

Der DGB hat in der Tübinger Innenstadt über 1.000 Unterschriften für den Erhalt einer kommunalen Müllabfuhr gesammelt. Drei Tage vor der Abstimmung im Gemeinderat soll die Petition im von OB Palmer geleiteten Verwaltungsausschuss übergeben werden. Davor ist die drohende Privatisierung noch Thema auf der Tübinger Kundgebung zum 1. Mai. "Mach dich stark mit uns", lautet das DGB-Motto zum Arbeiterkampftag und Margrit Paal hofft, dass sich die Tübinger dieses Motto auch in Bezug auf die Müllabfuhr zu Herzen nehmen. Wenn alle Stricke reißen, gäbe es noch den Vorschlag von Jürgen Eichenbrenner (Die Partei), die Müllabfuhr in einen Gelben Sack zu packen, der dann nicht abgeholt werde. Auch wenn die Entsorgung durch Alba aktuell stockt, gilt diese Lösung als unwahrscheinlich.

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5 Kommentare verfügbar

  • Neckartäler
    vor 14 Stunden
    Antworten
    OB Palmer denkt bereits laut über Steuererhöhungen nach. Wenn der Tübinger Haushalt um 660.000 EUR entlastet wird, dann muss dieser Betrag schon mal nicht von den dortigen Steuerzahlern aufgebracht werden. Für den Autor dieses Artikels ist das offensichtlich kein Vorteil für die Tübinger Bürger.
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