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Koalitionsvertrag

Arbeit für die Wahlkampfstrategen

Koalitionsvertrag: Arbeit für die Wahlkampfstrategen
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Koalitionsverträge sind kompliziert und öffnen Interpretationsspielräume. Besonders Wichtiges ist nur einen Spiegelstrich wert, etwa in Zeile 1627: "Alle Maßnahmen stehen unter Finanzierungsvorbehalt." Der Passus wird auch Wahlkämpfer:innen in Baden-Württemberg Kopfzerbrechen bereiten.

Klima wieder Wahlkampfthema 

Baden-Württembergs Grüne hatten 2021 in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU versäumt, die "Menschheitsfrage Erderwärmung" (Winfreid Kretschmann) aus dem eigenen Markenkern zu rücken und parteiübergreifende als Gemeinschaftsaufgabe zu verankern. Was im Umkehrschluss allerdings bedeutet, dass die Kompetenzen für den Klimaschutz in Umfragen, im Netz und in der realen Welt weiterhin vor allem ihnen zugeschrieben werden. Kein schlechter Ausgangspunkt für einen Wahlkampf, in dem die Grünen die Ära Kretschmann münden lassen wollen in die Ära Cem Özdemir. Denn immerhin ist im Koalitionsvertrag von Union und SPD und trotz zahlreicher Alarmrufe aus Industrie und Mittelstand das Ziel der Klimaneutralität in Deutschland schon 2045 und nicht – wie EU-weit – 2050 beibehalten worden. Und zwar "mit einem Ansatz, der Klimaschutz, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und soziale Ausgewogenheit zusammenzubringen versucht und dabei ganz wesentlich auf Innovationen setzt". Die Öko-Partei sagt es seit inzwischen gut einem Vierteljahrhundert deutlich griffiger: "Mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben." (jhw)

Migration und Mehrwertsteuer, Lieferketten- oder Heizungsgesetz, Klimaschutz, Bürokratieabbau und überhaupt die Finanzen: In 17 Kapitel, Unterkapitel und nicht weniger als 4588 Zeilen haben sich Union und SPD ihre Vorhaben für die 21. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags gegossen. Nichts wurde aus der Idee des vermutlich künftigen Kanzlers Friedrich Merz (CDU), einen schlanken Vertrag vorzulegen. Der Detailreichtum: erheblich. Wolfgang Bosbach (CDU) nimmt es mit Humor. "Ich tippe, Sie haben journalistisch noch viel Arbeit vor sich", sagt der frühere Langzeit-Bundestagsabgeordnete (von 1994 bis 2017) vom Typ rheinische Frohnatur bei einer der inzwischen ungezählten Analysen des Regelwerks.

Aber nicht nur in Redaktionen, in Geschäftsstellen, Chef:innenetagen wird der Text durchgeackert, in kleine Teile zerlegt und gedeutet. Besonders bei jenen kostenintensiven Plänen, die aus den normalen Haushalten finanziert werden müssen und gerade nicht aus den sogenannten Sondervermögen, die bekanntlich in Wahrheit Sonderschulden sind, schauen die Landespolitiker:innen genau hin. In fünf Ländern wird im kommenden Jahr gewählt, darunter auch hierzulande am 8. März.

Denn gerade in Baden-Württemberg hatten zuerst Grün-Rot – O-Ton Winfried Kretschmann 2011: "Fast eine Liebesheirat" – und dann Grün-Schwarz lange aus dem Vollen geschöpft. Die Steuereinnahmen sprudelten, und gelegentlich räumte Finanzministerin Edith Sitzmann (Grüne) ein, wie vergleichsweise einfach ihr Amt unter solchen Voraussetzungen auszuüben sei. Unterdessen haben sich die Zeiten geändert, spätestens mit Corona. Der eigentliche Etat fordert von der neuen Bundesregierung Mut zum Knausern. Vieles soll sich aus einem erhofften, noch aber in den Sternen stehenden Wirtschaftsaufschwung bezahlen lassen, aber erst einmal gilt für alle Ausgaben das Prinzip, dass sie nur dann getätigt werden können, wenn das Geld dafür da ist – auch im Südwesten. Kräftemessen, um das Wort Ärger zu vermeiden, zwischen den drei Parteien ist programmiert.

Schnell passiert wohl nichts

Auffällig ist, dass viele Vorhaben erst nach dem nächsten Jahreswechsel in Angriff genommen werden sollen. Etwa die Senkung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie. Baden-Württemberg ist und versteht sich als Tourismus-Hotspot, und insbesondere die CDU will dafür kämpfen, dass auf Speisen wieder nur sieben statt 19 Prozent Mehrwertsteuer fällig werden, so wie zu Zeiten der Pandemie. Und zwar "mit Mann und Maus", hat Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel im Herbst bei den Arbeitgeber:innen des Dehoga (Deutscher Hotel- und Gaststättenverband) verkündet. Schon mit dem Sondierungspapier zeigte sich der designierte Spitzenkandidat für die Landtagswahl 2026 in dieser Hinsicht "sehr zufrieden". Jetzt erwartet er die Umsetzung des Koalitionsvertrags, "die insbesondere in unserem Genießerland echte Wirkung entfalten wird".

Noch dringen mahnende Stimmen aus der Tourismus-Branche kaum durch, dass die zwölf Prozentpunkte Steuerentlastung wegen des Kostendruck gar nicht ankommen werden bei den Gästen. Oder dass sie schon im Sommer kommen müsse, um massenhafte Pleiten zu verhindern. Die Vorverlegung ist aber hochgradig unwahrscheinlich und fände ohnehin nur dann statt, wenn auch das kleiner Gedruckte im Koalitionsvertrag Gegenstand jener öffentlichen Diskussionen würde, die bei Großvorhaben derzeit und rund um den SPD-Mitgliederentscheid schon vielstimmig geführt werden.

Stichwort Mindestlohn. Zu den 15 Euro ab dem kommenden Jahr gibt es ganz unterschiedliche Ansichten bei den mutmaßlichen Regierungsparteien Union und SPD, unter Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sowie eher linken, eher rechten oder liberalen Wirtschaftswissenschaftler:innen. Die zuständige Kommission will noch vor der Sommerpause ihr Beratungsergebnis vorlegen. Allein die Tatsache, dass bisher unberücksichtigt gebliebene EU-Vorgaben eingearbeitet werden müssen, legt eine Entscheidung für das 15-Euro-Niveau oder sehr in der Nähe nahe. Ganz zu schweigen von den positiven Auswirkungen, die diese spürbare Anhebung auf die Binnenkaufkraft haben würde, zumal in der neuen Ära von Zöllen und Exporthemmnissen. 

Unternehmer:innen sind sauer

Ganz anders kalkulieren die einflussreichen "Unternehmer Baden-Württemberg" (UBW). "Der Mindestlohn ist seit seiner Einführung mit 8,50 Euro auf heute 12,82 Euro stärker gestiegen als die allgemeinen Löhne und stärker als die Tarifentgelte", heißt es in einem Appell mit dem Titel "Hände weg von der unabhängigen Mindestlohnkommission". Dieses Plus von mehr als 50 Prozent habe "auch den stärkeren Anstieg der Verbraucherpreise in den letzten Jahren mehr als wettgemacht". Also gebe es weder eine Begründung noch eine Notwendigkeit für einen erneuten politischen Eingriff oder politischen Druck. Für ihre ideologische, will sagen: interessengeleitete Argumentation ziehen die UBW einen Vergleich mit der Ausbildungsvergütung heran: Wenn der Mindestlohn zu stark steige, sei es unattraktiv, einen Beruf zu erlernen. Die Idee, Azubis mehr Geld zu zahlen, um einer solchen Entwicklung entgegenzuwirken, hat in diesem Weltbild keinen Platz.

Für die Vielzahl und die Bedeutung im Koalitionsvertrag geradezu angelegter Konflikte steht eine bemerkenswerte Rede von Nicola Leibinger-Kammüller Anfang Februar vor Weltmarktführer:innen in Schwäbisch Hall. Die Trumpf-Chefin, die den Maschinenbauer seit inzwischen mehr als 19 Jahren führt, hält so gar nichts von immer neuen Verteilungsdebatten, von der angeblich überbordenden Regulierungswut der EU, von Förderprogrammen und einem "Subventionswettlauf". Der Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg stehe vor der Wahl, weiterzugehen in Richtung Dirigismus und Staatsgläubigkeit oder zu Vertrauen in Markt und Wirtschaft. Als Beispiel dient ihr das "Lieferkettendings", wie sie das Gesetzeswerk zu nennen beliebt, das helfen sollte, im globalen Handel Arbeitnehmer- und Menschenrechte und das Klima besser zu schützen.

Laut Koalitionsvertrag soll das "Dings" abgeschafft und ein neues "Gesetz über die internationale Unternehmensverantwortung" vorgelegt werden, "das die Europäische Lieferkettenrichtlinie (CSDDD) bürokratiearm und vollzugsfreundlich umsetzt". Was die Komplexität aber nicht wirklich reduzieren wird. Die Richtlinie ist durch Kommission und Europaparlament zwar verwässert worden. Sie gilt aber weiterhin. Und weil neben dem Arbeits- auch der Klimaschutz davon betroffen ist, bleibt sie erst recht auf der Tagesordnung, wenn die Erderwärmung noch offenkundiger wird in Deutschland als in diesem März, der der trockenste war seit Beginn meteorologischer Aufzeichnungen. Und 2024 war sogar das wärmste Jahr in Europa überhaupt, kein Kontinent erwärmt sich schneller und der Rheingraben übrigens ganz besonders.

Vom Teufel, der im Detail steckt, zeugt erst recht der Umgang mit dem monatelang gerade von CDU und CSU zum Aufregerthema stilisierten und seit 1. Januar 2024 geltenden Heizungsgesetz. Das werde abgeschafft, heißt es, und weiter: "Das neue GEG machen wir technologieoffener, flexibler und einfacher." Zwei Sätze, die gewollt oder ungewollt Verwirrung stiften. GEG steht für Gebäudeenergiegesetz, ein Heizungsgesetz hingegen gibt es gar nicht, sondern im GEG den Paragraphen 71 (einen von 114), der die Anforderungen an eine Anlage regelt. Seit den Tagen von Tanja Gönner (CDU) und dem ersten Erneuerbare-Wärmegesetz bundesweit, sieht sich Baden-Württemberg als Vorreiterin. Nicht nur schwarzen Umweltpolitiker:innen ist bekannt, dass der weiterhin erhebliche CO2-Ausstoß im Gebäudesektor ohne strengere Vorgaben nicht zu senken sein wird.

Die Koalition hält sich vieles offen

Mindestens ebenso wichtig und wegen der Grenzen zu Frankreich und der Schweiz für den Südwesten von besonderer Bedeutung ist die Auslegung der künftigen Migrationspolitik durch die nicht mehr ganz so Große voraussichtliche Koalition eines Kanzlers Friedrich Merz. Eine 180-Grad-Asylwende hatten Manuel Hagel und viele seiner Mitstreiter:innen im kurzen Winter-Wahlkampf versprochen. Übrig geblieben ist davon gerade mal eine Kurve. In Sachen Zurückweisung an der Grenze ist es aber auch bei der Formulierung des Sondierungspapiers geblieben, wonach die "Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn" vorgenommen werden soll.

Heftig wie der Mindestlohn wird seit Tagen diskutiert, was denn der Begriff "Abstimmung" eigentlich meint. Dabei liegt die Lösung deutlich näher als gedacht: Nicht weniger als zwölf weitere Erwähnungen findet der Begriff in den Vereinbarungen zwischen Union und SPD. Lösungen in mannigfaltigen Fragen werden "in Abstimmung" angekündigt, sogar zur Änderung des Grundgesetzes mit den Ländern, mit Kommunen, in Europa und vor allem zur Festlegung der eigenen Arbeit in einer künftigen Regierung. Nicht ein einziges Mal ist darunter zu verstehen, dass eine Seite der anderen ihre Vorstellungen vor die Füße kippt und dann verlangt, dass sie sich diese ohne weitere Umschweife zu eigen zu machen. So überraschend simpel kann eine Analyse des umfangreichen Regelwerks eben auch sein. Sogar in einer der entscheidenden Fragen.

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