KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Stuttgarter Schandflecken

Bonjour, Tristesse

Stuttgarter Schandflecken: Bonjour, Tristesse
|

Datum:

Sonnenstrahlen wollen die Schönheiten der Stadt wachkitzeln: die Parks, die Halbhöhe und berückende Blickachsen in Stuttgart. Im Talkessel richtet der beginnende Frühling seine Scheinwerfer aber erbarmungslos auf Baustellen, Fehlplanungen und großmäulige Protzplakate.

Neben dem echten Stuttgart gibt es die Landeshauptstadt auch als Scheinwelt: Seit einem Vierteljahrhundert sind auf Hochglanz glückliche Menschen zu sehen, wie sie in einem glücklichen Tiefbahnhof in glückliche Züge steigen. Das Kontrastprogramm dazu sind riesige Baulöcher im Herzen der Innenstadt, bedingt durch die Arbeiten an S 21.

Wo schon Plakate und Broschüren dick auftragen, wie wundervoll man sich die Zukunft der Zukunft vorzustellen hat, spinnt das Worldwideweb manch eine Illusion noch weiter – zum Beispiel über das "schönste Stück Stuttgarts", das als Schlossgarten-Quartier unweit des Bahnhofs entstehen soll: Rund um das schon reichlich lang leerstehende "Hotel am Schlossgarten", das früher mal fünf Sterne zierten. Nun soll hier eines Tages ein "architektonisches und nachhaltiges Statement" entstehen, lehrt die Homepage zum Projekt: in Holzhybridbauweise mit begrüntem, begehbarem Schrägdach.

Wenn aus Plänen irgendwann Realität wird, entsteht die nächste Großbaustelle mitten im Zentrum und in der Einkaufsmeile, weil Teile des heutigen Komplexes abgerissen wird. "Der Mix macht's", trösten die Planer:innen, "Gewohntes bleibt, Neues kommt." Bisher hängt allein dieses eine Riesenplakat gegenüber dem Rest vom Bonatz-Bau am Hauptbahnhof, das Wohlwollenden unter den Ankommenden wegen solcher Realsatire aber immerhin ein Schmunzeln entlockt.

Das Lachen vergeht dagegen selbst oder gerade den größten Stuttgart-Fans beim Anblick des Benko-Lochs an der Schulstraße. Bonjour, Tristesse! Vor zwei Jahren musste, auch auf dringendem Wunsch von Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU), die bis dahin gut laufende Sportarena weichen, damit Neues kommen kann. Der Blick ins Archiv lehrt, auf welchem Sand die damaligen Zusagen gebaut waren. Bis 2025 wollte die Signa Real Estate 7.300 Quadratmeter Büro- und Einzelhandelsflächen hochziehen. Deren Chef René Benko hat inzwischen bekanntlich eine der spektakulärsten Pleiten in der europäischen Nachkriegsgeschichte hingelegt und sitzt anhaltend in Untersuchungshaft.

Nicht einmal tauglich fürs Fahrrad

Den Stuttgarter:innen bleibt der mahnende Schandfleck zwischen Königstraße und Marktplatz. "Wenn vorübergehend wenigstens eine BMX-Strecke errichtet worden wäre", so der makabre Scherz von Hannes Rockenbauch, dem Vorsitzenden der Fraktion "Die Linke und SÖS". Dazu kam es nicht, dafür gibt es einen neuen Eigentümer.

Jetzt stellt das Münchener Immobilienunternehmen Dipag in Aussicht, "nicht nur die lebendige Königstraße zu komplettieren, sondern die angrenzende Schulstraße mit neuem Leben zu füllen". Noch 2025 soll "auf der Baustelle wieder Leben einkehren". Wieder viel Hochglanz, wieder gedrechselte PR-Botschaften: "Ein integraler Lebensort entsteht." Die exponierte Lage in Stuttgarts Fußgängerzone sorge dafür, "dass alle Bedarfe des täglichen Lebens auf kürzestem Wege gedeckt werden können". Bezahlbares Wohnen zählt in dieser Art Investorenlogik zum täglichen Bedarf einer Stadtgesellschaft ganz offenkundig nicht.

Tja, die Strategien der betuchten Geldgeber:innen ziehen ganz besonders. In Ulm gibt es neues Baurecht nur noch auf Böden in kommunalem Besitz. Ganz anders verfährt die Landeshauptstadt. Stuttgart spiele Monopoly, hieß das harte Urteil der "Stuttgarter Zeitung". Ein Paradebeispiel, um den Vorwurf zu untermauern, ist die alte Bahndirektion an der Heilbronner Straße. Dort waren in der jüngeren Geschichte schon mal städtische Büros untergebracht, Teile der Uni, der Club Rocker33 und ein Gründerzentrum. Ein Teil ist der Abrissbirne zum Opfer gefallen, der andere – denkmalgeschützt und 15.000 Tonnen schwer – blieb nicht nur erhalten, sondern wurde auch noch durch eine mit Recht hoch gerühmte Ingenieursleistung auf Stelzen gehoben.

Die Frage nach dem Warum ist beantwortet: Die Nordzufahrt zum überflüssigsten aller Tiefbahnhöfe brauchte Platz. Die Frage, was jetzt eigentlich geschieht mit dem Klotz aus der Gründerzeit, ist hingegen unbeantwortet. Wieder wirbt ein privater Investor, diesmal die P+B Gruppe, im vorliegenden Fall schon seit 2018 für eine "absolute Toplage in der Landeshauptstadt". Und dafür, Know-how auf Leidenschaft treffen zu lassen. Zu nicht mehr bezahlbaren Preisen allerdings, denn die Stadtverwaltung ist aus Kostengründen doch nicht mehr interessiert an gut 25.000 Quadratmetern Bürofläche samt Mensa, Kita et cetera. für die dringend notwendige neue Unterbringung eigener Mitarbeiter:innen.

Schon steht die nächste Mega-Baustelle an

Der Platz ist also weg, um attraktive Arbeitsplätze zu schaffen. Ein anderer, rund um den alten Horten und späteren Kaufhof, ist aber noch da. Mit ihm hat sich Benkos Signa ebenfalls verspekuliert. Die Stadt ist – zu nicht eben attraktiven Bedingungen – eingesprungen, hat bisher aber ganz andere Pläne mit dem Park- und dem leerstehendem Kaufhaus. Weil aber die bloß auf geduldigem Papier stehen, könnte bei entsprechendem finanziellen Engagement vieles nochmal ganz neu geordnet werden.

Ohnehin kommt auch dieses Innenstadtquartier noch lange nicht zur Ruhe. Unter anderem müssen die Gebäude an der Eberhardstraße zwischen Breuninger und dem Amt für öffentliche Ordnung saniert werden, und das im großen Stil. Der gegenwärtige Leerstand ist Ausdruck der Tatsache, dass Teile der 2022 vom Projektentwickler Hines gekauften Gebäude abgerissen werden. Linke und SÖS im Gemeinderat haben neulich einen Antrag gestellt, um erst einmal Hintergründe auszuleuchten. "Der Gebäudekomplex wurde zwischen 1978 und 1985 errichtet und feiert demnach dieses Jahr seinen 40. Geburtstag", heißt es darin. Der Investor lasse aber über die Presse ausrichten, dass der Bestand untersucht sei und "ein Erhalt nicht infrage kommt". Verlangt wird, "geldgierigen Investor*innen keine Genehmigung für Abriss-Neubau zu erteilen".

Nicht zu früh wollen OB Nopper und die Bürgermeister:innen jetzt erst einmal die Lage sichten, ohne jedoch Prioritäten in der Stadtentwicklung festzulegen. Stattdessen geht es darum, Kriterien dafür zu erarbeiten. Klingt nicht wirklich nach einem Plan. Und schon gar nicht nach Problemlösung.

Der Stadtrundgang in Gedanken führt noch vorbei heimeligen Bohnenviertel, mit den Verkehrsschlangen über das Trottoir der Esslinger Straße, an den Dauer-Staus auf der B 14 bis zum Großen Haus der Württembergischen Staatstheater, weil sich da der Kreis schließt. Wenn drüber am Rande des Schlossgartens wirklich dereinst auf schrägen, begrünten Dächern flaniert werden kann, wird hüben die Mega-Baustelle Opern-Sanierung der Stadtqualität ihren Stempel aufdrücken. Zum Glück zeigen sich wenigstens die Krokusse unbeeindruckt. Jahr für Jahr und ganz unabhängig davon, welche Inverstor:innen kommen und gehen. Willkommen im Frühling.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


1 Kommentar verfügbar

  • Frank
    am 19.03.2025
    Antworten
    Ein schöner Artikel als Bestandaufnahme.

    Die Leute von Stuttgart Marketing / Tourismus Marketing machen einen extrem mühsamen, sysiphusartigen Job - keine Ahnung wie sie jeden Morgen den Elan aufbringen, damit weiterzumachen.

    Müssen/sollen sie doch eine Monopoly-Spielwiese maskuliner…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!