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"Maker City" am Nordbahnhof

Bauland und Biotop

"Maker City" am Nordbahnhof: Bauland und Biotop
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Bäume wurden gefällt. Eidechsen werden vergrämt. Wo am Stuttgarter Nordbahnhof das Containerdorf von Künstlerinnen und Künstlern stand, ist jetzt wieder eine Brachfläche. Und doch tut sich einiges, wie ein Gang über das Areal der künftigen "Maker City" zeigt.

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Ein kleiner Trupp, vielleicht 50 Personen, wanderte Ende Februar über das Areal des Inneren Nordbahnhofs in Stuttgart. Die Stadt hatte Bäume fällen lassen. Einem Eilantrag des Naturschutzverbands Nabu, um die Fällung zu verhindern, war nicht stattgegeben worden. "Dabei war das alles in diesem Jahr gar nicht nötig", monierte das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, das zu dem Rundgang aufgerufen hatte, "denn die 'Baufeldfreimachung' dient der Vorbereitung von Bauarbeiten, die laut Pressemitteilung der Stadt erst 2028 beginnen sollen".

Hier, um die Wagenhalle, soll auf einer Fläche von 13 Hektar die "Maker City" entstehen, als erster Teil des Bauprojekts Stuttgart Rosenstein, das wiederum Teil der geplanten Immobilienflächen des Projekts Stuttgart 21 ist. Der Name "Maker City" ist eine Wortschöpfung des Architekturbüros ASP, das den Städtebauwettbewerb gewonnen hat: Die konstruktiven Überlegungen der Architekt:innen, Künstler:innen und Gärtner:innen, die bereits heute auf dem sogenannten C1-Areal tätig sind, sollen in die Planungen einbezogen werden. Hannes Schwertfeger und Oliver Storz – das Bureau Baubotanik – sind Experten für Bauen und Biologie. Der Kunstverein Wagenhalle hat sich seit langem aktiv in die Planung eingebracht. Seit geraumer Zeit treffen sie sich mit Vertretern der städtischen Ämter und neuerdings mit einem Quartierskoordinator im Stadtplanungsamt: Timothy Fuller, der an der Hochschule für Technik "Smart City Solutions" studiert hat.

Doch wie ist nun der Stand auf dem Gelände, wie weit sind die Planungen, ab wann wird gebaut? Kontext hat bei den Makern der "Maker City" nachgefragt, die auf dem Areal entstehen soll: Die Container City, die den Mitgliedern des Kunstvereins während der Sanierung der Wagenhalle als Ausweichquartier für Ateliers, Büros und Proberäume diente, ist seit Ende 2024 weg. Doch der Stadtacker, ein seit 2012 bestehender Gemeinschaftsgarten, der bereits vor vier Jahren verschwinden sollte, ist immer noch da.

Beim Quartier geht noch nicht viel voran

Eigentlich sollte die Entwicklung des Quartiers mit ökologisch-sozialen Wohnformen, Gewerbeflächen und sozialen Einrichtungen zur Internationalen Bauausstellung 2027 (IBA’27) bereits viel weiter sein. Das verkündet auch noch die IBA-Webseite: "Grundstücksvergabe für die ersten Gebäude: 2025, im Bau: 2027", heißt es dort zum "Quartier C1 Wagenhallen". Das ist nicht mehr aktuell. "Wir kümmern uns jetzt um die Projekte, bei denen es vorwärts geht", erklärt der Pressesprecher Tobias Schiller auf Anfrage. Hier geht noch nicht viel voran. Baubeginn soll, Stand heute, 2028 sein. Das hat seinen Grund: Bevor auf dem ehemaligen Gleisfeld gebaut werden kann, müssen Wasser- und Abwasserleitungen verlegt werden – die gesamte Infrastruktur.

Noch davor müssen die Eidechsen auf dem Gelände weichen. Sträucher und Geröll, wo sich die Tiere verkriechen könnten, wurden entfernt, und auch einige Bäume wurden gefällt, was den Protest des Nabu und des Aktionsbündnisses gegen S 21 nach sich gezogen hatte. Letzteres hatte auch kritisiert, dass die Tiere nicht wie sonst üblich abgesammelt, sondern vergrämt werden sollten. Das scheint aber nicht geplant zu sein. Baubotaniker Schwertfeger erklärt: Sobald eine ebene Fläche hergestellt und mit schwarzen Folien ringsum abgedichtet sei, könne das Absammeln der Eidechsen beginnen. Das passiere zweimal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst. Derzeit befinden sich die Tiere aber noch im Winterschlaf. Und Ersatzhabitate gibt es bereits, so die Auskunft der Stadt: im Süden und im Osten Stuttgarts.

Nicht alles soll abgeholzt werden

Damit die Künstler:innen und Gärtner:innen weiter werkeln können, wurde das Areal in zwei Abschnitte geteilt: Im ersten Abschnitt, auf dem die Container City war, sollen die Eidechsen in diesem Jahr abgesammelt werden, im zweiten 2026. Dann müssen die Leitungen verlegt werden und für 2028 ist der Baubeginn geplant.

Allerdings soll nicht alles abgeholzt werden. Das Landschaftsarchitekturbüro Greenbox, das mit den Grünplanungen beauftragt ist, zeigt sich aufgeschlossen: Altbäume will es so weit wie möglich erhalten, ebenso die besonderen Orte, die bereits auf dem Areal existieren und auch in Zukunft die Identität des Quartiers prägen sollen.

Dazu gehört das "Theatre of the Long Now" am Ostzipfel des Areals, ein Projekt des Bureau Baubotanik: Baumpflanzung, Biotop, Forschungsstation und ein Theaterstück mit einer Laufzeit von 100 Jahren, das erlaubt, die langfristigen Veränderungen im Blick zu behalten. Zu den Akteuren des "Theaters" gehören Pflanzen, Insekten, Mineralien und eine Schildkröte.

Das Grundprinzip der Baubotanik besteht darin, Bäume so miteinander verwachsen zu lassen, dass anstelle einzelner Stämme ein tragfähiges Gerüst oder Gitter entsteht. Auf diese Weise soll im Lauf der nächsten 100 Jahre vor den Toren der Wagenhalle eine Allee entstehen. Jedes Jahr kommen zwei kreuzweise zusammenwachsende Bäume hinzu. In die Verbindungsstellen der Bäume wird jeweils eine Art Überraschungsei gelegt, das ein kleines Kunstwerk enthält. Worum es sich handelt, werden erst kommende Generationen erfahren, wenn die Bäume so alt sind, dass sie verrotten.

Die Künstler:innen wollen mehr Platz

Vor der Wagenhalle ist ein großer Platz als Quartiersmittelpunkt geplant. Bis es so weit ist, sollen sich die Künstler:innen allerdings mit einem kaum mehr als sechs Meter breiten Streifen zufrieden geben, zu dem eine drei Meter breite Feuerwehrzufahrt gehört, die unbedingt frei bleiben muss. Das wird nicht funktionieren, monierte Robin Bischoff, der Vorsitzende des Kunstvereins: Die Künstler:innen bräuchten mehr Platz vor der Halle. Der Verein hat ausgetestet, wie weit er die Grenze verschieben kann – Künstler:innen handeln lieber, als lange zu reden.

Jetzt gibt es dort eine Gemeinschaftswerkstatt. Materialtransferflächen, wie Bischoff es nennt, also Platz, um Dinge zwischenzulagern, eine Box für die einzigartigen Clubkonzerte, die Moritz Finkbeiner organisiert, und eine kleine Gabelstapler-Werkstatt. Die Container reichen weiter in den künftigen Wagenhallenplatz hinein. Um nachzuweisen, dass die Eidechsen darunter keinen Unterschlupf finden und sich trotzdem vergrämen lassen, hat der Kunstverein auf eigene Rechnung ein Gutachten in Auftrag gegeben: Die Container müssen auf 40 Zentimeter hohen Stützen stehen oder unten herum lückenlos abgedichtet sein.

Der Stadtacker befindet sich nach wie vor am angestammten Platz, von dem er schon vor drei Jahren hätte verschwinden sollen. Martin Abelmann, der an der Uni Hohenheim einen Master of Science in Earth and Climate System Science gemacht hat, führt jede Woche fünf Schulklassen über das Gelände. Auch im zweiten Jahr der Eidechsenabsammlung soll das Urban-Gardening-Projekt bleiben können, berichtet er, bevor es später ein Stück weiterwandert. Steinhaufen, Gewächshäuser, Geräteschuppen, kurz alles, wo sich Eidechsen verstecken könnten, müssen allerdings verschwinden. Wie das gehen soll, ist noch nicht klar.

Was wird aus Pablo Wendels "Pylonia"?

Direkt neben dem Stadtacker befand sich bis 2021 ein einzigartiger Ort: Unter den herabhängenden Zweigen einer riesigen Weide war ein natürlicher Festplatz, eine Versammlungsstätte entstanden. Die Weide ist einem Sturm zum Opfer gefallen. Nun planen die Baubotaniker ein grünes Dach: ein von Bäumen getragenes Netz, von Ranken überwuchert.

Im Siegerentwurf der Interimsoper, die auf dem Wagenhallenplatz errichtet werden soll, war Pablo Wendels 56 Meter hoher Hochspannungsmast "Pylonia" mitgedacht. Der Künstler hat diesen 2017 aus Belgien an den Nordbahnhof versetzt. Die Stadt wollte ihn dennoch entfernen. Um dies zu verhindern, ist Wendel, der ein ehemaliges Braunkohlekraftwerk als Kunstzentrum betreibt, nach Stuttgart gekommen. Die Stadt lenkte ein und suchte eine Lösung. Voraussichtlich muss der Mast zerlegt und versetzt werden, bevor er später, vielleicht an anderer Stelle, wieder erstehen kann.

Für die Interimsoper muss Boden versiegelt werden. Davor soll in Richtung Wagenhalle eine Versickerungsfläche frei bleiben. Wenn es nach den Vorschriften geht, dürfen ansonsten hier keinerlei Nutzungen erfolgen. Doch auf der dafür vorgesehenen Fläche steht bereits ein anderes Projekt des Bureau Baubotanik, das "Habitat", das aber die Versickerung in keiner Weise behindert. Vor drei Jahren hat die Künstlerin Rebecca Hennel angefangen, die Fläche zu entsiegeln: Sie bohrte Löcher in den Asphalt und säte Löwenzahn hinein. Den Rest erledigte die Natur selbst.

Momentan ist das "Habitat" im wesentlichen eine Plattform, die noch an Eisenstützen hängt. Später werden zusammengewachsene Bäume die Traglast übernehmen. Die Plattform und ein Hochsitz dienen dazu, das Zusammenleben von Tieren, Menschen und Pflanzen akustisch zu erkunden. Ein Koffer mit Handlungsanweisungen und Kopfhörern erwartet die Besucher. Wie nehmen Maulwürfe die Umgebungsgeräusche wahr? Wie reagieren Vögel und Insekten auf den Baulärm? Es ist ein neues Forschungsgebiet, die Ökoakustik, begleitet vom Musikwissenschaftlichen Seminar der Uni Detmold und der Musikhochschule Paderborn. Die Uni Hohenheim beteiligt sich wiederum mit biologischen und ökologischen Untersuchungen.

In Zukunft könnten hier die Mitarbeiter:innen des Opern-Interims entspannt ihre Mittagspause verbringen, meint Schwertfeger. Mit dem Stadtplanungsamt und den Gartenarchitekten konnten sie sich einigen. Dennoch ist das "Habitat" noch nicht gesichert. Das Tiefbauamt will hier eine Baustellen-Zufahrt einrichten. Wenn es dabei bleibt, wären drei Jahre Arbeit und Baumwachstum vergeblich gewesen. Aber das Areal ist IBA-Projekt. Hier gibt es 2027 schon etwas zu sehen, auch wenn sonst noch nichts steht.

Gedenkstätte "Zeichen der Erinnerung" bedroht

Ein Problem besteht noch an anderer Stelle: Seit 2006 gibt es am Südende des Areals die Gedenkstätte "Zeichen der Erinnerung". Mehr als 2.600 Juden und mehr als 240 Sinti und Roma wurden von hier aus in die Vernichtungslager gebracht. Teil der Konzeption ist, dass man von der Gedenkstätte, wo die Namen der Opfer an den Wänden stehen, auf die Gleise blickt, die sich in der Ferne verlieren: ein Bild für ihr Verschwinden.

Nun sagt die Stadt, wo die Gedenkstätte aufhört, müssten die Gleise entfernt werden. Für Andreas Keller, den Vorsitzenden des Gedenkstätten-Vereins, eine Katastrophe. Die SPD hat mit der damaligen FrAktion (SÖS, Linke, PluS) einen Antrag im Gemeinderat gestellt, um die Wirkung zu erhalten. Die Antwort auf den Antrag stehe "kurz vor der Fertigstellung", heißt es auf Nachfrage aus dem Rathaus. Fest stehe bereits, dass die Gleise innerhalb der Gedenkstätte in ihrer heutigen Form erhalten blieben, die Gleisflächen außerhalb werden durch die Deutsche Bahn zurückgebaut. "Für diesen Rückbau besteht ein Planfeststellungsbeschluss", lautet die Begründung. Es bliebe also bei der von Keller befürchteten Katastrophe. Doch auch hier müsste sich eine Lösung finden lassen. Der Verein "Zeichen der Erinnerung" muss eingebunden werden. Schließlich soll es ein Vorzeigequartier werden.

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