Vor rund einem Jahr haben wir aus diesem Impuls heraus das Thüringen-Projekt gestartet. Es geht noch einen Schritt weiter und fragt: Was wäre, wenn? Wenn eine autoritär-populistische Partei staatliche Machtmittel in die Hand bekommt? Was passiert, wenn in Landratsämtern und Bürgermeisterbüros, in Landtagen und Ministerien Leute sitzen, die mit Ängsten Politik machen, die Grenzen des Sag- und Machbaren verschieben und die Demokratie untergraben? Wie könnten und wie würden diese Leute die Spielregeln ändern, um ihr eigenes Abgewähltwerden unmöglich zu machen? Mit einem Team aus Rechts- und Politikwissenschaftler:innen haben wir mehrere Szenarien durchgespielt. Als autoritär-populistisch bezeichnen wir dabei Parteien, die die Erzählung vom wahren "Volk" im Gegensatz zu "korrupten Eliten" einsetzen, um die pluralistische Demokratie zu delegitimieren und ein autoritäres Regime zu errichten.
Sperrminorität ab einem Drittel
Nehmen wir an, die Landtagswahlen in Thüringen sind gerade vorbei – und der größte Schreck ist ausgeblieben. Die AfD hat 35 Prozent der Sitze im Landtag gewonnen und ist klarer Wahlsieger, von einer Chance auf Regierungsbeteiligung jedoch weit entfernt. Die CDU steht noch, und irgendwie raufen sich die verbliebenen demokratischen Parteien zusammen, ob in einer Koalition oder einer weiteren Minderheitsregierung. AfD-Landeschef Björn Höcke hat trotzdem allen Grund zum Lachen, denn das ausgegebene Wahlziel hat die AfD erreicht: Sie hat nun eine Sperrminorität im Landtag, das heißt, dass sie jede Entscheidung im Parlament eigenständig stoppen kann, die eine Zweidrittelmehrheit erfordert. So kann sie der neuen Landesregierung das Leben zur Hölle machen und ganz legale Anschläge auf den Rechtsstaat planen.
Binnen 30 Tagen muss der neue Landtag zusammentreten. Die erste Hürde ist die Wahl der neuen Landtagspräsident:in oder des Präsidenten. Traditionell besetzt die größte Fraktion dieses Amt – in unserem Gedankenspiel also die AfD. Die kodifizierte Form dieser Tradition beinhaltet nur ein Vorschlagsrecht der größten Fraktion für dieses Amt. Gewählt werden muss der oder die Präsident:in dann von allen Mitgliedern des Landtages und dabei die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erhalten. Diese Stimmen können natürlich verweigert werden.
Allerdings – die Landtagspräsidentin/der Landtagspräsident muss gewählt sein, damit sich das Parlament konstituieren kann. Ohne Präsident:in kann weder die Legislative noch die Exekutive ihre Arbeit aufnehmen. Würden sich die anderen Fraktionen des Parlaments aufgrund absehbarer unüberbrückbarer politischer Differenzen nicht auf eine:n gemeinsame:n andere:n Kandidat:in einigen können – den oder die sie nach dem ersten gescheiterten Wahldurchgang eines AfD-Vorschlags aufstellen könnten – erscheint die Wahl eines AfD-Landtagspräsidenten oder einer AfD-Präsidentin nicht mehr ganz unrealistisch – in unserem Gedankenspiel müssten nur einige Abgeordnete von BSW und CDU ihre Stimme dafür hergeben.
Was hätte das zur Folge? Der Landtagspräsident oder die Landtagspräsidentin leitet nicht nur die Verhandlungen und erteilt Ordnungsrufe. Er oder sie leitet natürlich auch die Wahl der oder des Ministerpräsidenten/in und hätte die faktische Macht zur Auslegung des umstrittenen dritten Wahlgangs. Er oder sie steht an der Spitze der Parlamentsverwaltung, die neutral und unpolitisch und allen Abgeordneten zu Diensten sein muss, damit diese ihre Aufgaben erfüllen können.
Der Parlamentspräsident oder die Parlamentspräsidentin kann den oder die Direktor:in des Landtags ohne Angabe von Gründen durch eine loyale Person ersetzen. Dessen Bedeutung für den parlamentarischen Betrieb ist groß: Die Verwaltung verteilt die Vorlagen, über die die Abgeordneten beraten und beschließen, etwa Gesetzentwürfe. Sie stellt die ganze IT bereit. Bisher muss sich kein:e Abgeordnete:r fragen, wer in der Verwaltung alles die eigenen dienstlichen Emails mitlesen kann. Bisher konnten die Parlamentarier:innen darauf vertrauen, dass der Wissenschaftliche Dienst ihnen unabhängig zuarbeitet. Wie verändert sich das politische Klima und die Handlungsfähigkeit einer parlamentarischen Demokratie, wenn dieses Vertrauen nicht mehr begründet ist?
Der Landtagspräsident oder die Landtagspräsidentin fertigt in Thüringen auch die Gesetze aus und verkündet sie – bisher eine reine Formalität. Das hatte man in Polen auch gedacht, bis die autoritär-populistische PiS-Regierung plötzlich beschloss, Urteile des Verfassungsgerichts, die ihr nicht passten, eben nicht im Amtsblatt zu verkünden. Eine Formalität, aber eine, ohne die das, was verkündet werden muss, nicht zu geltendem Recht wird.
Verfassungsgerichtshof in Bedrängnis
In Polen haben wir auch gesehen, dass die "schwache" dritte Gewalt für autoritäre Populisten eins der wichtigsten Ziele ist. Wie verwundbar ist das oberste Gericht in Thüringen?
3 Kommentare verfügbar
Jue.So Jürgen Sojka
vor 3 WochenGrad gestern auf tagesschau.de im Kommentar [Zeileweiterschaltung eingefügt] von
wassolldas 27. August 2024 • 15:28 Uhr
Franz Josef Strauß sagte 1986 über die übliche Rhetorik von Politikern folgendes:„Es passiert ein schreckliches Verbrechen.
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