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Wir sind nicht im Krieg

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Entschlossenes Handeln ist erwünscht, plausible Verbote werden akzeptiert, die PopulistInnen in den Parlamenten haben Sendepause. Schon jetzt zeigt sich, dass einiges davon erhalten bleiben sollte.

Nein, das Land ist nicht im Krieg, wie Emmanuel Macron es gesagt hat, mit diesem Pathos, das in Frankreich geht und bei uns gar nicht. Deutschland hat auch keine Starker-Mann-Regierung wie Tschechien, wo Andrej Babiš massive Einschränkungen der Bewegungsfreiheit verkündet, ohne dass für das Publikum eine sorgfältige Abwägung von Vor- und Nachteilen sichtbar geworden wäre.

Nicht einmal einen "Klartext-Kanzler" ("Bild") wie Sebastian Kurz können wir vorweisen. Zwar hat der als Erster in Mitteleuropa einschneidende und sinnvolle Maßnahmen wie Schulschließungen verkündet, dafür aber die Gefahren der Virenschleuder Ischgl, dem Ballermann der Alpen, viel zu lange ignoriert – mit bösen Folgen für etliche Hundert Skandinavier, die sich jetzt mit Covid-19 herumschlagen.

Das Land ist vielmehr Teil jenes föderalen Deutschlands, dessen Strukturen gegenwärtig von BesserwisserInnen und BedenkenträgerInnen schlechtgeredet werden. "Bayern geht voran, und Baden-Württemberg hechelt hinterher?", fragen die "Stuttgarter Nachrichten", als Markus Söder (CSU) den Katastrophenfall ausruft. Der bayerische Ministerpräsident darf auf diese Weise Entscheidungen zentralisieren, die sonst auf kommunaler Ebene fallen, oder besondere Befugnisse für sich reklamieren, etwa wenn es um den Einsatz der rund 450.000 ehrenamtlichen HelferInnen geht, für die sich der Freistaat rühmt. Fachleute erklären indes, dass alle niederschwelligen Durchgriffsrechte ohnehin im Infektionsschutzgesetz geregelt sind. Auch Winfried Kretschmann (Grüne) kann nicht verstehen, "was die Bayern anders machen als wir, angesichts der bundesweiten Absprachen".

Kretschmann will besonnen und angemessen reagieren

Und noch eine Botschaft unterstreicht die Herangehensweise: "Wir wollen doch nicht selber eskalieren, sondern besonnen und angemessen reagieren." Erst recht, wenn es um so weitgehende Einschnitte wie – im Katastrophenfall tatsächlich mögliche – "Ausgangssperren" geht.

Das Wort mit Signalwirkung, das für ungezählte Kommentare sorgt im Netz, ist ohnehin einer der am häufigsten falsch verwendeten Begriffe dieser Tage. "Ausgangssperren" sind einst von Nazis verhängt worden, beispielsweise um WiderständlerInnen an konspirativen Treffen zu hindern. Im Deutschland des Jahres 2020 sind Einkaufen, Volltanken und sogar Spazierengehen erlaubt. Selbst im so schwer heimgesuchten Italien sind Supermärkte weiterhin geöffnet, "auch wenn sich lange Schlangen vor den Läden bilden, da die Kunden Abstand zueinander halten sollen", schreibt die ARD-Tagesschau in ihrem "Faktenfinder". Der ist eingerichtet worden, "um den massenhaften Falschmeldungen und Gerüchten über die Corona-Pandemie entgegenzuwirken, die insbesondere über Messenger-Dienste wie WhatsApp und Telegram zu Tausenden mit irreführenden oder schlicht falschen Behauptungen weitergeleitet werden."

Denn noch ein wichtiger Windfall-Profit dieser Wochen muss als große Chance begriffen werden: Seriöse Berichterstattung kann in Zeiten wie diesen einen guten Teil ihres verlorengegangenen Ansehens zurückerobern, wenn Medien wieder als diejenigen Instanzen erfahren und anerkannt werden, die trotz aller Mängel und Fehlgriffe am ehesten für Fakten, Fakten, Fakten zuständig sind und für eine verantwortungsvoll genutzte Deutungshoheit. Ein Journalismus, der sauber informiert, intelligent reflektiert und nicht Klickzahlen zum Maßstab macht, wird nach wie vor gebraucht. Vor allem einer mit Vernunft und Augenmaß, der der großen Versuchung widersteht, politische Entscheidungen am Tag X mit dem Wissen des Tages X plus eins, zwei oder drei im Nachhinein zu be- und damit zu entwerten. 

Stuttgart ist nicht langsamer als München

Gerade Stuttgart hat als erste Stadt im Land gezeigt, was unterhalb der Schwelle "Katastrophenalarm" alles möglich ist. Schon am vergangenen Freitag wurden mit sofortiger Wirkung und vor allem bis auf Weiteres, um Verlängerungsbeschlüsse überflüssig zu machen, alle Veranstaltungen in Kultur, Bildung, Sport und Freizeit untersagt sowie Clubs, Bars und Tanzlokale geschlossen, ebenso städtische Bibliotheken, das Planetarium, die Musikschule und das Stadtarchiv, die Volkshochschule, alle Museen, Kinos und Bäder – alles Maßnahmen, die Söder erst am Montag, dafür aber mit großer Geste verkündete. "Wir stemmen uns mit allen Kräften gegen die Ausbreitung", begründete Stuttgarts OB Fritz Kuhn die weitgehende Lahmlegung des öffentlichen Lebens. Deshalb gelte es, soziale Kontakte auf das Nötigste zu beschränken, "zum Schutz für den Einzelnen und für die Gemeinschaft".

Besonders spannungsgeladen ist die Grauzone zwischen Verboten und Eigenverantwortung. Plötzlich erkennen sogar CDU-KommunalpolitikerInnen an, dass erstere ihren guten Sinn haben können – gerade diese Abkehr von einem ideologisch erstarrten Pseudo-Liberalismus muss nach Krisenende weitergehen und beispielsweise auf eine Jahrhundertaufgabe wie den Klimaschutz übertragen werden. Die Landesregierung hat im Nachhinein und für alle baden-württembergischen Kommunen die notwendige Rechtsverordnung bis Pfingsten erlassen. Auch an diesem Zeitraum kann Winfried Kretschmann nichts erkennen, was "Aufgeregtheiten" lohnt. Pragmatisch sei eine Dauer gewählt worden, "damit wir nicht noch einmal dasselbe machen müssen". Und selbstverständlich könne das gesellschaftliche Leben jederzeit, wenn die Virusgefahr eingedämmt ist, wieder "auf Normalbetrieb hochgefahren werden". Vorerst allerdings gehe es für jeden Einzelnen darum, alle Appelle ernst zu nehmen "und sich nicht in die Eisdiele zu hocken".

Genau das hat der Landtag selber schon in der vergangenen Woche durchgespielt und seine virenfeste Verfassung bewiesen. Ein Grünen-Abgeordneter hatte Kontakt mit einer infizierten Frau, war danach aber noch auf der Fraktionssitzung, worauf sich alle seine KollegInnen, die grünen Regierungsmitglieder und die anwesenden Beschäftigten aus dem Verkehr zogen. Weil der Test des Betroffenen auf sich warten ließ, das Parlament aber weiterarbeiten wollte, wurde die Tagesordnung verknappt und auf Abstimmungen verzichtet. Donnerstagabend kam die Entwarnung.

Die Bazooka stecken lassen

Jetzt läuft der Betrieb wieder mit allen Abgeordneten, dank Videokonferenzen oder Stream und "angepasst an die Notwendigkeiten", wie Landtagspräsidentin Muhterem Aras feststellte. Bei einer Sondersitzung am Donnerstag wird vorsorglich ein Nachtragshaushalt verabschiedet, denn das Land, so Kretschmann, braucht "finanzielle Handlungsspielräume, um flexibel reagieren zu können". Und wieder geht Gelassenheit vor: In Baden-Württemberg wird die Sitzordnung des Parlaments und die Besuchertribüne miteinbezogen, um das Abstandsgebot des Robert-Koch-Instituts zu gewährleisten. Bayern hingegen schlägt einen Weg ein nahe an der Überreaktion: Bis auf Weiteres wird sich nur noch ein Fünftel der Abgeordneten im Maximilianeum treffen – natürlich entsprechend den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen –, um so die Ansteckungsgefahr "innen und außen" zu minimieren.

Wer zu früh zur "Bazooka" (Finanzminister Olaf Scholz) greift und zu zentralistischen Maßnahmen, läuft Gefahr, tatsächlich noch notwendige weitreichende Mittel voreilig aus der Hand zu geben. Er setze auf die Länder, die Landräte und Bürgermeister, sagt Kretschmann, gerade weil die gewohnt sind, "jeden Tag verantwortlich zu entscheiden". Und vor allem: Was sei in Frankreich besser, "wenn Leute nur von oben nach unten Befehle entgegennehmen".

Gegenwärtig ist jenseits des Rheins tatsächlich wenig besser. Schon am Tag nach der martialischen "Wir sind im Krieg"-Ansage des Staatschefs legt Premier Bruno le Maire nach und denkt laut über die Verstaatlichung systemrelevanter Unternehmen nach. Keine schlechte Idee – für später. Denn nach der jetzigen Herausforderung wird die größte aller künftigen darin bestehen, zu verhindern, dass der neue Normalbetrieb auch der alte ist. Eine Krise ist nicht planbar, die Zeit danach schon. Für viele schlaue Köpfe bietet sie eine äußerst günstige Gelegenheit zum vertieften Nachdenken.


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2 Kommentare verfügbar

  • Habnix
    am 20.03.2020
    Antworten
    >> Wir sind nicht im Krieg <<
    ________________________________

    Wirtschaft ist Krieg im Frieden. Erst wird der Konkurrent und der mögliche Konkurrent(Arbeitnehmer) bekämpft und falls das Ziel erreicht ist und es nichts mehr zu gewinnen gibt, folgt der Satz: “Krieg ist die Fortsetzung der Politik…
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