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Ein Schlussstrich, der keiner sein darf

Ein Schlussstrich, der keiner sein darf
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Wieder ein Vorhang zu und viele Fragen offen. Dabei hatte auch der zweite Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss versprochen, mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Jetzt sind die Abgeordneten wieder gescheitert, vor allem an der Aufklärung der Vorgänge rund um den 4. November 2011 in Eisenach.

Eine derart persönliche Missbilligung ist vergleichsweise ungewöhnlich. Im Abschlussbericht "Rechtsterrorismus und Behördenhandeln" des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses des Thüringer Landtags werden einem seit Jahren im Fokus stehenden Beamten konkrete Versäumnisse "vorgehalten", wie es wörtlich heißt. Michael Menzels Umgang "mit dem Wohnmobil in Eisenach-Stregda und der Folgezeit war unprofessionell (…), so geht man mit vielleicht mit einer Trophäe um, aber nicht mit einem Tatort". Der damalige Einsatzleiter, inzwischen Leitender Kriminaldirektor, ist seit langem Dreh- und Angelpunkt sowohl von plausiblen Thesen als auch von Verschwörungstheorien. Ändern wird sich daran voraussichtlich nichts. Denn, so schreiben die Abgeordneten im Kapitel "Tatsachen und Bewertungen, Untersuchungsfragen, Empfehlungen", eine abschließende Bewertung der Vorgänge sei dem Ausschuss nicht möglich gewesen, weil Akten entweder nicht eingesehen werden konnten oder nicht vorlagen.

Da sind die Kontext-Autoren Wolfgang Schorlau und Ekkehard Sieker deutlich weiter. "Die Wahrscheinlichkeit, dass Böhnhardt und Mundlos so umgekommen sind wie offiziell dargestellt, liegt praktisch bei Null", schreiben sie vor zwei Jahren und knüpfen eine Indizienkette, die sich in vielen Einzelteilen im Abschlussbericht mit seinen über 2200 Seiten findet. Menzel wird dort mehrere hundert Mal erwähnt, die entscheidenden Stunden im Wohnquartier "Am Schafrain" sind aus zahlreichen Perspektiven beleuchtet und der Einsatzleiter kommt dabei nie gut weg. Immerhin, strittige Fragen werden wenigstens aufgeworfen. Aber: Wer auf (neue) Antworten hofft, sucht vergebens.

Schorlau und Sieker stellen fest, dass "beide Personen Stunden zuvor ums Leben gekommen sein müssen". Eine mit den Totenflecken und der vorhandenen Totenstarre der Leichname in Einklang stehende Abschätzung des wirklichen Todeszeitpunktes ergebe: "Mundlos und Böhnhardt waren um Mitternacht des 3. auf den 4. November 2011 bereits tot." Zeitpunkt und Todesflecken spielen in allen zwölf bisherigen parlamentarischen Untersuchungsausschüssen eine Rolle. In der zweiten Thüringer Sachverhaltsermittlung wird unter anderem die Aussage eines der beiden vor Ort anwesenden Gerichtsmediziner zitiert: "Der Zeuge habe den Eindruck gehabt, dass der Todeszeitpunkt hier keine große Rolle gespielt habe und auch nicht gefragt gewesen sei."

Vieles um die monströse Mordserie bleibt im Dunkeln

Möglich sind einmal mehr verschiedene Erklärungen. Zum einen wird die offizielle Variante zementiert, der sich der zweite Thüringer Anlauf anschließt, und die die Generalbundesanwaltschaft schon 2012 vorgegeben hatte: "Uwe Mundlos erschoss (…) Uwe Böhnhardt (… ) und legte in dem Wohnmobil Feuer, bevor er sich selbst (… ) erschoss." Demnach wären die beiden als Erste am Wohnwagen eintreffenden Polizeibeamten Ohrenzeugen der Todesschüsse – der Todeszeitpunkt hätte also, weil ohnehin klar, tatsächlich keine große Rolle spielen müssen.

Es gibt aber auch ganz andere Varianten. "Vieles um die monströse Mordserie der Jahre 2000 bis 2007 ist nach wie vor im Dunkeln", schreibt für Kontext Thomas Moser im März 2013, nach der 56. Sitzung des ersten Untersuchungsausschusses im Bundestag, und bezieht den 4. November 2011 ein, an dem mit dem Tod von Böhnhardt und Mundlos der "Nationalsozialistische Untergrund" überhaupt erst öffentlich bekannt geworden war. Was der Ex-Verfassungsschützer Norbert Wiesner nun über jenen Tag mitteile, ist aus Mosers Sicht "mehr als irritierend". Denn: "Am 4. November habe er einen Anruf des Leiters der Polizeidirektion Gotha, Michael Menzel, bekommen. Der habe ihm vom Tod Böhnhardts und Mundlos' erzählt und wollte wissen, wo sich Beate Zschäpe aufhalte. (…) Kriminaldirektor Menzel ging offensichtlich davon aus, dass das LfV (Landesamt für Verfassungsschutz Thüringen, d. Red.) die ganze Zeit wusste, wo sich das Trio aufhielt." Ganz anders dessen früherer Präsident Thomas Sippel, der erst am 7. November erfahren haben soll, wer die beiden Toten von Eisenach sind.

Nach dem Wortlaut-Protokoll des Sitzungstages sagte Wiesner auch: "Ich werde das in meinem ganzen Leben nicht vergessen." Und auf Nachfrage: "Mich hat sehr verwundert, dass er anrief." Dass der Zeuge seine gesamte Aussage später als falsch zurückzog, weil er den 4. November mit dem 6. verwechselt haben will, nährt zwangsläufig alle möglichen Zweifel. "Wir ziehen keinen Schlussstrich", verspricht Dorothea Marx, die Vorsitzender des Erfurter Ausschusses, in der Landtagsdebatte des Abschlussberichts. Der Untersuchungsausschuss sei davon überzeugt, dass der NSU und dessen Taten nicht als historisch abgeschlossenes Ereignis betrachtet werden können.

Vorwurf der Inszenierung nicht schlüssig entkräftet

Sieker schreibt Menzel eine ganz besondere Rolle in der ganzen Geschichte zu, und deren Kurzfassung gehe so: "In Stregda fühlten sich zwei Verbrecher, die neun Morde an Kleinunternehmern mit Migrationshintergrund begangen hatten, den Polizistenmord von Heilbronn, zwei Bombenattentate in Köln sowie 15 Banküberfälle, durch die Entdeckung ihres Campers durch zwei uniformierte Polizisten so final in die Enge getrieben, dass Mundlos Böhnhardt erschoss, dann das Wohnmobil in Brand steckte und sich schließlich selbst entleibte. Für den- oder diejenigen, die die Geschichte so präsentieren wollten, wäre damit ein Schlussstrich unter eine Menge bis dato unaufgeklärter Fälle gezogen worden."

Schlüssig entkräftet ist damit der Vorwurf der Inszenierung aber nicht, eher im Gegenteil. Dorothea Marx hebt die Anstrengungen des Ausschusses hervor, sich ein Bild zu machen "im wahrsten Sinn des Wortes". Dem Abschlussbericht ist ein Anhang mit mehr als hundert Fotos beigefügt, darunter eine Handvoll bisher unveröffentlichter. Marx scheut die Erwähnung "unerfreulicher Dinge" nicht: "Es wurden am Fundort zunächst Bilder der Feuerwehr konfisziert, verspätet eine leere Speicherkarte zurückgegeben; es wurde mit einer Feuerwehrharke nicht von der Tatortgruppe, sondern vom Ermittlungsleiter vor Ort nach Waffen im Wohnmobil gesucht; die Tatortgruppe, die bei uns zu Gast war, hat sich sehr unwohl gefühlt und hat in unserem Ausschuss dem Befremden darüber Ausdruck verliehen, dass es nicht in Ordnung war, dass sie beim ersten Zugriff auf dieses Wohnmobil übergangen wurde; das Wohnmobil mit Leichen, aber nicht nur mit Leichen, sondern auch mit scharfen Waffen, wurde in eine nahegelegene Halle des Abschleppunternehmens verbracht, dort am Wochenende noch mal ausführlich, wie es hieß, betrachtet und dann angeblich besenrein übergeben."

Die Ausschussvorsitzende und Rechtsanwältin Marx will daraus aber nicht schon jetzt den durchaus plausibel erscheinenden Schluss ziehen, dass allzu vieles – warum auch immer – nicht mit rechten Dingen zuging. Madeleine Henfling, die Grünen-Obfrau, geht sogar noch einen Schritt weiter und hält die Vorgänge in Stregda für weitgehend aufgeklärt. Und nachdem sie Fehler und falsche Entscheidungen eingeräumt hat, spricht sie offen an, was seit Jahren im Netz und anderswo als finsterer Verdacht über der Szene wabert – indem sie entschieden bestreitet, "dass der Staat hier in einer großen Verschwörungstheorie Neonazis ermordet hat und dann versucht hat, das zu verschleiern".

Zweifel an Ermittlungen bleiben

Diese Einschätzung wäre überzeugender, zöge sich nicht zugleich durch die Empfehlungen des Ausschusses wie ein roter Faden erstens die Klage über mangelnde Akteneinsicht und zweitens die Zweifel an den Ermittlungen am und nach dem 4. November. "Die immer wieder unterbrochene Arbeit am Wohnmobil durch immer wieder neue Personen hat offenkundig zu einer inkonsistenten, nicht gründlichen Untersuchung geführt", heißt es an einer Stelle, "an diesem Tatort wäre eine systematische und vollständige Suche und Sicherung aller entsprechenden Spuren geboten gewesen, die wegen der anfänglichen Weisung des Ermittlungsführers Menzel, täterorientiert vorzugehen, anfangs aber nicht durchgeführt wurde." Dies habe den Grundstein für weitere Komplikationen gelegt. Die Frage nach dem Warum mochten sich die Abgeordneten nicht stellen, von einer Beantwortung ganz zu schweigen.

"Wir möchten darauf hinweisen, dass wir durchaus erleichtert wären, wenn wir – wie Georg Dengler zu Beginn des ZDF-Spielfilms ‚Die Schützende Hand‘ – aus einem Albtraum aufwachen und erkennen würden: Ja, es war nur ein ganz übler Traum", schreiben Schorlau und Sieker. Und: "Wir könnten ruhiger schlafen, wenn wir sicher sein könnten, dass im NSU nicht so viel Staat stecken würde, wie wir aufgrund unserer Nachforschungen leider annehmen müssen. Wir wären froh, wenn unsere Recherchen sich als falsch erwiesen hätten. Wir wären vollständig damit zufrieden, einen spannenden Roman geschrieben zu haben."

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1 Kommentar verfügbar

  • Karl Heinz Siber
    am 30.10.2019
    Antworten
    Wenn ein Einsatzleiter der Polizei die Kamera mit den ersten und authentischen Tatortfotos, die ein Feuerwehrmann gemacht hat, beschlagnahmt und die Fotos in der Folge spurlos verschwinden, muss man kein Verschwörungstheoretiker sein, um zu wissen, dass da etwas ganz faul ist. Das Erklärungsmuster…
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