Eine Hoffnung bleibt Jahrzehnte unerfüllt. "Wir würden uns wünschen, wenn die Diskussion ohne persönliche Schärfe bliebe und gute menschliche Beziehungen nicht unter unnötiger Polemik leiden müssten," schreibt der 29-jährige Eppler im Frühjahr 1956 in seiner Erklärung zum Austritt aus der "Gesamtdeutschen Volkspartei" – gemeinsam mit dem Stuttgarter Architekten Roland Ostertag. Die beiden werden sich ein Leben lang mit alten Geschichten ehren. "Die Polemik", sagt Ostertag einmal, "die ist gekommen und geblieben."
Ausgabe 323, 7.6.2018
Letzte Chance
Am Pfingstsonntag 2018 war Erhard Eppler Stargast bei Pulse of Europe in Stuttgart. Und er hatte eine kleine Überraschung im Gepäck: Die Deutschen sind gar nicht die tollen Europäer, für die sie sich halten. Sein kluges Plädoyer für mehr Solidarität hier im Wortlaut.
Was wieder auferstand, in Erzählungen, Zitaten, in Reden und Anekdoten, war ein Nachkriegsdeutschland, das so nicht allzu oft beschrieben wird in den Wirtschaftswunder-Geschichten. "Die skrupellose Mobilisierung des Antikommunismus wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus ist politischer Zynismus", so Eppler 1956, wenige Wochen nach seinem Eintritt in die SPD von Fritz Erler. Der, selber ein brillanter Redner, ist aufmerksam geworden auf den jungen Studienrat, der damals in Schwenningen am Neckar unterrichtet. Und er wirbt um ihn mit der unter linken GenossInnen legendär gewordenen Frage, was er eigentlich erreichen wolle mit seinem politischen Engagement: "Einen Grabstein mit der Aufschrift ‚Er hat immer recht gehabt‘ oder das Gefühl, in einer politischen Gemeinschaft Verantwortung zu tragen und Verbesserungen durchzusetzen?"
Eppler, der gebürtige Ulmer, viertes von sieben Kindern, der eigentlich Gärtner werden wollte, studiert nach Kriegsdienst und NSDAP-Mitgliedschaft ("Ich bin nicht gegen meinen Willen auf eine Liste gekommen, sondern habe es akzeptiert. So war das damals") dann doch lieber Englisch, Deutsch und Geschichte, promoviert über Aufbegehrende und Verzweifelnde als Heldenfiguren der elisabethanischen Tragödie, unterrichtet am Gymnasium und tritt 1952 in die vom späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann gegründete "Gesamtdeutsche Volkspartei" ein. Die lehnt die Westintegration ab, hat viele ehrenwerte Mitglieder, darunter Jean Améry, Robert Scholl, den Vater von Hans, Sophie und Inge, oder die Zentrumspolitikerin Helene Wessel.
Eppler formuliert scharf, aber nicht persönlich verletzend
Das alles hindert die Union 15 Jahre später nicht an ihrer ersten heftigen Anti-Eppler-Kampagne, als der im Kabinett von Kurt-Georg Kiesinger das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit übernehmen soll. Eppler kontert und macht sich erst recht keine Freunde: "Ich habe nie die Qualifikation des Bundeskanzlers daran gemessen, dass er 1933, als er einige Jahre älter war als ich 1952, einer weniger respektablen Partei beigetreten ist."
Den ewigen Kampf gegen "diese sinnlosen billigen persönlichen Angriffe", wie er in diesen Jahren an Ostertag schreibt, muss er dann noch lange aushalten, außerhalb und innerhalb der SPD. Auch er formuliert scharf, aber er verzichtet auf persönliche Attacken. "Wir brauchen mehr Mut, um gegen Adenauers Politik anzutreten", verlangt er Ende der Fünfziger Jahre und kündigt an, "niemals für Dinge einzutreten, die jeder bornierte Esel in der CDU besser kann." Die SPD müsse sich "kraftvoll" positionieren gegen den "dumpfen, ressentimentgeladenen Nationalismus", weil von "beleidigten, verkrampften, wehleidig schimpfenden Spießbürgern in der deutschen Geschichte nur Unheil gekommen ist". Ziele müssten eine "Bändigung der wirtschaftlichen Macht" und die Vereinigung Deutschlands in einer freiheitlich-sozialistischen Grundordnung sein und bleiben, schreibt er.
Ein orthodoxer Linker ist er dabei nie. "Je mehr ich vom Marxismus begriff, desto fremder wurde er mir: Und in der Mitte des 20. Jahrhunderts ließ sich eine so perfekte Geschichtskonstruktion wie die marxistische doch wohl nur historisch begreifen, als etwas, was im 19. Jahrhundert seit Hegel möglich, verlockend üblich geworden war, aber doch von der Geschichte selbst immer dementiert werden würde." Auch die deutsche Einheit bleibt ein Dauerthema. "Ob es eine Wiedervereinigung gibt oder nicht, hängt nicht von Russen oder Amerikanern ab, sondern zuallererst von uns Deutschen selbst, so wie die Wiedervereinigung der Saar weder von der französischen noch von der deutschen Bundesregierung erreicht, sondern durch ein paar hunderttausend Saarländer erzwungen wurde", sagt er Anfang der Sechziger.
Brüche und Konflikte kennzeichnen den Weg
Ab 1961 im Bundestag, ist er zunächst Finanz- und dann Außenpolitiker, und zwar ein von seinem späteren Intimfeind Helmut Schmidt durchaus geschätzter. "Ein realistischer Dienst der Deutschen an der Welt ist es, durch unser politisches Verhalten und durch militärische Zurückhaltung den Völkern des Ostens, Polen, Tschechen, Russen, die Angst vor dem Volk Hitlers zu nehmen und eine Innenpolitik zu verfolgen, die für die Ostvölker ein erstrebenswertes Vorbild ist", empfiehlt er in einer seiner ersten Reden. Und dann mit Blick auf die USA: "Wenn wir in diesem Zusammenhang nicht mehr tun, bleiben wir drüben das Volk, das sechs Millionen umgebracht hat, nachher mit ungeheurer Zähigkeit wieder aufbaute, und jetzt wegen der Entwicklungshilfegelder zu feilschen beginnt. Der biertrinkende Spießbürger vom Oktoberfest wird zum Bild der deutschen Nation."
Brüche und Konflikte sind kennzeichnend für den politischen Lebensweg gewesen, ganz anders als das Bild vom rechthaberischen Pietisten, dem Selbstkritik fremd war: "Ich betrat das Entwicklungshilfeministerium als ein 42 Jahre junger, hoffnungsvoller Politiker, der, von Nuancen abgesehen, so dachte wie alle anderen auch, und ich verließ es sechs Jahre später fast schon als Außenseiter, über den zu lächeln, zu lachen oder zu grinsen für die meisten Repräsentanten des Mainstream zum guten Ton gehörte."
Den Abgang 1974 besiegelt ein Wortbruch des neuen Bundeskanzlers Helmut Schmidt, der Willy Brandts Versprechen nicht einlösen wollte, die deutschen Entwicklungszahlungen bis 1978 auf über sechs Milliarden Mark zu erhöhen. Das kann Eppler nicht mittragen, er nimmt seinen Hut. Er wollte eine Entwicklungspolitik als "Weltinnenpolitik", als "eigenständige Form langfristiger Friedenspolitik", nicht als "Werkzeug der Außenpolitik für außenpolitische Tagesziele". Bald ereilt ihn das Angebot, in New York Chef des UN-Kinderhilfswerks Unicef zu werden. Er lehnt ab und wechselt nach Baden-Württemberg.
Der "Pietcong" oder "Sauerampfer-Sozialist"
"Wer zu früh kommt, den bestrafen die Parteifreunde" – jetzt kommt sein Bonmot zum Tragen, das viel besser zu seinem Leben passt als das Orwell-Zitat ("Jede Biografie von innen gesehen ist nichts als eine Serie von Niederlagen"). Die Ausgangssituation ist keine schlechte. Die Südwest-SPD ist aus der Landtagswahl 1972 mit mehr als 37 Prozent hervorgegangen, in Wyhl, und längst nicht mehr nur dort, hat sich der Widerstand gegen die von Hans Filbinger geführte CDU-Landesregierung formiert. Und wieder prägt der inzwischen als "Pietcong" (Herbert Wehner) oder "Sauerampfer-Sozialist" (Holger Börner) verschriene Spitzenkandidat einen seiner vielen markanten Sätze: "Es ist auch ein Armutszeugnis für die politischen Parteien, wenn Bürgerinitiativen entstehen müssen, weil, was die Menschen umtreibt, nicht aufgenommen und vielleicht auch ein bisschen versachlicht wird."
Gegen sich hat er aber nicht nur Bonn und (zu) große Teile der eigenen Fraktion im Stuttgarter Parlament, weil sich viele Abgeordnete als Person nicht ernst genommen gefühlt haben, "und so konnte sich jene Allianz bilden zwischen einem Fünftel der Landtagsfraktion und vier Fünftel der Landespresse, gegen die keines von den vielen Kräutlein meines Gartens Abhilfe versprach". In "Ende oder Wende", einem seiner mehr als zwei Dutzend Bücher, führt Eppler die Unterscheidung von strukturkonservativ und wertkonservativ ein, zum Frommen seiner Anhängerschar, den "Epplerianern", aber wiederum abgelehnt von vielen anderen.
Das sei, urteilt er später, "ziemlich naiv gewesen". Und weiter: "Was ich damals meinte, waren sehr einfache Werte, wie intakte natürliche Lebensgrundlagen, atembare Luft, trinkbares Wasser, aber natürlich auch Werte, ohne die die Gesellschaft zur Hölle wird, also ein Mindestmaß an mitmenschlicher Solidarität. Und ich stellte fest, dass, wer auch nur solche simplen Werte bewahren wollte, mit Machtstrukturen aneinandergeriet und zu fast revolutionären Verhaltensweisen gezwungen war."
Eppler ist im Grunde der erste Grüne
Der umstrittene Spitzenkandidat, dem Helmut Schmidt und die Seinen nicht nur jede Unterstützung im Wahlkampf verweigerten, sondern mit Sticheleien von Bonn aus noch gehörig zusetzten, verliert gut vier Prozent. Die CDU, unter Hans Filbinger mit dem Slogan "Freiheit statt Sozialismus" in den Wahlkampf gezogen, beschert sich ein Allzeithoch von fast 57 Prozent. Und vier Jahre später treffen sich zwei Biografien zum ersten Mal, als die Grünen mit 5,3 Prozent und Winfried Kretschmann in den Landtag gewählt werden. 39 Jahre später wird der Ministerpräsident daran erinnern, wie Erhard Eppler "schon sehr früh Wege vorgezeichnet hat, die letztlich zur Gründung der Grünen führten". Wie kaum ein anderer habe er die Ökologie als notwendiges Themenfeld in die Politik eingeführt, "immer klar in seiner Haltung, mit präzisen Gedanken und fesselnd in der Rede, bisweilen im besten Sinne unbequem".
In Bad Boll zum 85. Geburtstag wird der Jubilar – wieder einmal – auf das Orwell-Zitat angesprochen. Die Antwort greift weit aus ins Grundsätzliche, wie so oft bei Eppler und seinen Fundstücken: Er wolle Fehler nicht rechtfertigen, "sondern ich wollte nur vorbringen, dass ich fast immer getan habe, was ich getan habe, weil ich nicht anders konnte". In einer der zahlreichen Würdigungen nach seinem Tod am 19. Oktober wird ihm ganz Besonderes nachgerufen. Er sei, schreibt Heribert Prantl in der "Süddeutschen Zeitung", der "weißbärtige Urgroßvater von Greta Thunberg".
Weitsichtige Standpunkte
Viele von Epplers Positionierungen waren ihrer Zeit voraus. Eine kleine Auswahl:
"Die Frage ist doch unüberhörbar, ob wir alles dürfen, was wir können. Ich bin überzeugt, in der ersten Hälfte der Siebziger Jahre liegt eine geschichtliche Zäsur, die uns zwingt, praktisch alles neu zu durchdenken. Wer in der Ölkrise nur einen ärgerlichen Betriebsunfall sieht, verursacht von ein paar wildgewordenen Ölscheichen, liegt falsch mit weitreichenden Folgen." (1976)
"Es gibt Produkte, von denen jedermann weiß, dass sie ökologische Kreisläufe belasten, und zwar umso mehr, je massenhafter sie angewandt werden. Deshalb sind solche Produkte mit einer eigenen Steuer zu belegen, oder noch besser mit einem doppelten Mehrwertsteuersatz." (1978)
"Wir brauchen Tempo 130 auf Autobahnen. Es geht darum, endlich ein notwendiges Zeichen zu setzen." (1979)
"Wenn es der SPD nicht gelingt, gemeinsam mit den Gewerkschaften das, was die ökologische Bewegung will, aufzugreifen und zu gestalten, dann sehe ich nicht, wie Mehrheitsverhältnisse zu unseren Gunsten künftig aussehen könnten." (1981)
1 Kommentar verfügbar
Jörg Tauss
am 23.10.2019