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Vom Übergang zum Untergang

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Die SPD hat 1989 das Berliner Programm beschlossen. Und da steht reichlich von dem drin, was die Partei heute dringend brauchen würde, um neues Vertrauen zu gewinnen. Es könnte eine Handreichung für die BewerberInnen um den Landesvorsitz sein.

Vier Mal Schaulaufen

Das Schaulaufen der Bewerber um den Vorsitz in der Landes-SPD geht auf vier Regionalkonferenzen über die Bühne. Die amtierende Chefin Leni Breymaier (58) und der Bundestagsabgeordnete Lars Castellucci (44) präsentieren sich an folgenden Terminen: Am 27. Oktober in Linkenheim-Hochstetten (10 Uhr Bürgerhaus) und Leinfelden-Echterdingen (15 Uhr Filderhalle), am 10. November in Waldkirch (10 Uhr Stadthalle) und Ulm (16 Uhr Kornhaus). Womöglich wissen die GenossInnen dann genauer, was Herausforderer Castelluci meint, wenn er vom „Umkrempeln“ der Partei spricht, auf dass sie wieder ein „ernstzunehmender Player“ werde. Schließlich sollen sie per Briefwahl entscheiden, wer es besser können könnte. (jof)

Jeder Abschied ist ein kleiner Tod. "Über 140 Jahre lang lebte die Sozialdemokratie von der Spannung aus Gegenwart und Zukunft", analysierte Albrecht von Lucke vor elf Jahren. Damals hatte sich die Partei aufgemacht in Richtung "neues Leitbild", um das Berliner Programm durch das Hamburger Programm zu ersetzen. Letzteres, verabschiedet 2007, werde so der Politologe in prophetischer Weitsicht, "keine Debatte in der Gesellschaft anstoßen, von einer gesellschaftlichen Vorreiterrolle ganz zu schweigen". Anstatt eine Auseinandersetzung darüber zu führen, was in einer sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Gesellschaft der Zukunft vertretbar sei, "verabschiedet sich die SPD mit ihrem neuen Programmentwurf von der dringend erforderlichen Wachstums- und Fortschrittskritik".

Wenig später waren die zukunftsvergessenen Grundsätze mit großer Mehrheit von einem Bundesparteitag verabschiedet und Gegenwart. Seither geht es vornehmlich bergab mit der alten Tante SPD, wenn auch in Wellen und speziell abgesehen vom kurzlebigen Hype um Martin Schulz. Aber selbst der muss mittlerweile als Ausdruck stetig anschwellender Verzweiflung gedeutet werden. Und von Lucke reibt sich die Augen, weil eine "zugespitzte Befürchtung", wie er später einmal sagen wird, aus dem Jahr 2007 heute bittere Realität geworden ist: "Fest steht, dass mit diesem Programm des Übergangs die SPD selbst zu einer Partei des Übergangs wird, im schlechtesten Fall kann aus dem Übergang ein Untergang als Volkspartei werden."

Die Roten in Baden-Württemberg sind bekanntlich Abstiegs-ExpertInnen, auch wenn so manche Wahlniederlage aus heutiger Sicht ein Riesenerfolg wäre. Die Hessen-Wahl am kommenden Sonntag wird davon Zeugnis ablegen. Dieter Spöri, smart und tief verwurzelt in seiner SPD, hatte sich Ende der Achtzigerjahre im Bundestag einen Namen gemacht und wollte dann Baden-Württemberg ein bisschen umkrempeln: irgendwie modern, dynamisch – und zugleich sozial. Die Mission ging bekanntlich schief.

Geblieben ist von Spöri und seinem Tandempartner Uli Maurer, der später zur Linken abwanderte, trotzdem einiges, an das zu erinnern sich lohnt. In dem Landesverband, auf dessen programmatische MitdenkerInnen sich die Bundespartei über viele Jahre verlassen konnte, sollten in den Achtzigern exemplarisch Arbeit und Umwelt versöhnt werden, dank kluger Konzepte. Eine "Blaupause" (Peter Conradi) wollten die Baden-WürttembergerInnen dafür liefern, wie Sozialdemokratie in prosperierenden Regionen der Republik Erfolg haben könnte. Das reichte 1992 für immerhin fast 30 Prozent - obwohl die Rechtsaußen-Republikaner mit elf Prozent in den Landtag einzogen.

Geschmolzen sind seither nicht nur die Prozente. Die GenossInnen haben sich zugleich Einsichten entwenden lassen, mit denen die Grünen heute punkten. Spöri trat auf als Anwalt einer "werteorientierten Technologiepolitik zum Wohle der Umwelt". In ungezählten Reden appellierte er in den Wahlkämpfen 1988 und 1992 an die Tüftler und Talente "im High-Tech-Ländle", mit ihren Ideen und ihrem Fleiß offensiv umweltverträglichen Fortschritt nach vorn zu bringen. Die Bundes-SPD müsse ihr ökologisches Problembewusstsein mit positiven Visionen technologischer Erneuerung kombinieren. Neben "richtigen Neins", wie zum "Atom- und Plutoniumstaat", wurden "kräftige Jas" angeboten: zu neuen Energieträgern, zur Mikroelektronik, zum Bau der umweltfreundlichsten Autos der Welt zwischen Nord- und Bodensee.

"Mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben" wird Fritz Kuhn ein paar Jahre später propagieren. Die wesentlichen Elemente dieses neuen Konservativismus, denen der grüne Ministerpräsident gerade ein "Büchlein" gewidmet hat, fußen auf den Erkenntnissen von Erhard Eppler. Der Sozialdemokrat wollte den Unionsparteien die Rolle als Gralshüter eines bloß strukturellen Konservativismus zuschieben und den Grundgedanken des Wertkonservativen etablieren.

So manches aus dem Südwesten ist eingeflossen ins Berliner Programm, das Mut machen wollte, beherzt aufzutreten und notfalls sogar zu nationalen Alleingängen. "Ökologisch und sozial verantwortbares Wirtschaften lässt sich nur erreichen, wo der Vorrang demokratischer Entscheidungen vor Gewinninteressen und Wirtschaftsmacht durchgesetzt wird", steht da zu lesen. "Zum ökologischen Rahmen für die Marktwirtschaft gehört meines Erachtens eine ständig steigende Ökosteuer", hatte Eppler schon in den Siebzigern verlangt, als die Grünen noch gar nicht gegründet waren.

1998, als sie dann gemeinsam mit der SPD die Bundesregierung stellten und die Idee – endlich – aufgegriffen wurde, beschrieb ausgerechnet ihr Urvater sowohl Verzwergung als auch den unvermeidlichen Pragmatismus: "Wenn man 25 Jahre vergeblich predigt, ist man sogar mit kleinen Fortschritten glücklich, denn eine mickrige Ökosteuer ist allemal besser als gar keine." Dass SozialdemokratInnen wie er, die ihrer Zeit weit voraus waren, mit "blutlos umgesetzten Versprechen" (Peter von Oertzen) zufrieden sein mussten, ist aber nur ein Mosaikstein auf dem langen Marsch in die heute drohende Einstelligkeit.

Schwer wiegt ebenfalls, wie ausgerechnet Teile des Personals, das heute das Sagen hat, aktiv mitgezimmert haben an dem von Albrecht von Lucke so treffend zerpflückten Leitbild, das viele Grundüberzeugungen verwässerte. Allen voran Olaf Scholz. Der heutige Finanzminister, der sich gut vorstellen kann, seine Partei als Spitzenkandidat in die nächste Bundestagswahl zu führen, war einer der führenden Köpfe der programmatischen Kastration. "Scholz tat nichts Geringeres", schrieb selbst die FAZ über einen seiner öffentlichen Auftritte, "als den, wie er selbst sagte, Identitätskern der deutschen Sozialdemokratie in Frage zu stellen: den Begriff der sozialen Gerechtigkeit in seiner gängigen Interpretation". Das Warum war schnell beantwortet: Es müsse ein "programmatisches Hindernis aus dem Weg geräumt werden, das vor allem in der Diskussion über die 'Agenda 2010' immer wieder Probleme bereitete".

Heruntergebrochen auf die derzeit drängenden Fragen des Wohnungsbaus, zeigen sich die Auswirkungen schmerzlich konkret. Im Berliner Programm hatte es noch forsch geheißen: "Wir wollen ein Bodenrecht, mit dem in der kommunalen und regionalen Raumplanung ökologische und soziale Ziele durchgesetzt werden können. (...) Dazu brauchen wir ein einfacheres Enteignungs- und Entschädigungsrecht, ein preislimitierendes Vorkaufsrecht der Gemeinden, einen Planungswertausgleich, eine Bodenwertzuwachssteuer und den Vorrang des Erbbaurechtes bei der Grundstücksverfügung." Nach neun Jahren an der Regierung formuliert dann 2007 das Hamburger Programm schon reichlich lendenlahm: "Wir unterstützen das Bemühen von Kommunen, bezahlbaren Wohnraum bereitzuhalten. Wir schützen die Rechte der Mieter." Oder: "Wohnraum darf nicht zum Spekulationsobjekt werden." Der Begriff Wohnungsbau kommt gar nicht erst vor.

Alte Merksätze warten darauf, wachgeküsst zu werden

Ganz und gar umgedeutet war da schon die Haltung zum "demokratischen Sozialismus". Unter Gerhard Schröder sah sich die Partei zwar in dessen "stolzer Tradition". Das Prinzip des Handelns aber sei die soziale Demokratie. Davon, wie sich Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität bedingen und gegenseitig stützen, schreiben die Mitglieder der 1984 eingesetzten, zunächst von Willy Brandt und dann von Oskar Lafontaine geführten Programmkommission, "gleich im Rang, einander erläuternd, ergänzend und begrenzend erfüllen sie ihren Sinn". Diese Grundwerte zu verwirklichen und die Demokratie zu vollenden, sei "die dauernde Aufgabe des Demokratischen Sozialismus". Und an anderer Stelle heißt es: "Nicht jedes Wachstum ist Fortschritt. Wachsen muss, was natürliche Lebensgrundlagen sichert, Lebens- und Arbeitsqualität verbessert, Abhängigkeit mindert und Selbstbestimmung fördert, Leben und Gesundheit schützt, Frieden sichert, Lebens- und Zukunftschancen für alle erhöht, Kreativität und Eigeninitiative unterstützt." Gesamtwirtschaftlich wird nichts als vernünftig akzeptiert, was ökologisch unvernünftig ist. Solche und viele andere Merksätze warten nur darauf, wachgeküsst zu werden.

Verabschiedet wurde das Berliner Programm im Spätherbst 1989, einem schicksalshaften Datum auch für die Zukunft der Partei. Die Wende spielte allen, denen die Richtungsentscheidung beim Bundesparteitag der SPD ("Irrelevante Rhetorik von Alt-68ern") nicht passte, in die Hände. Argumentiert wurde, dass angesichts der weltbewegenden Entwicklungen gar nicht mehr in die Zeit passen konnte, was zuvor gedacht wurde. Hans-Jochen Vogel als SPD-Vorsitzender wird später wie Erhard Eppler klagen, die knappen 62 Seiten seien in den Neunzigerjahren "wie ein Geheimpapier behandelt worden". Die Modernisierung der Partei sei am Fall der Mauer gescheitert, findet die Parteizeitung "Vorwärts".

Und Albrecht von Lucke? Der nennt die Sozialdemokratie heute, im inzwischen 155. Jahr ihrer Geschichte, "zutiefst ermattet". Zudem träfen "zwei völlig unterschiedliche Weltanschauungen aufeinander – der Wille zum pragmatischen Regieren auf die tiefe Sehnsucht nach Vision und Opposition". Wenn sie es nicht fertigbringe, die Jugend wieder mitzunehmen, dann sei sie eben "erledigt." Oder irgendwann einfach gestorben: In Bayern konnte die SPD nur noch in der Alterskohorte 60 plus über die Zehn-Prozent-Hürde steigen.


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7 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 25.10.2018
    Antworten
    Die SPD hat 1989 das Berliner Programm beschlossen. – Die CDU'ler haben in _ihrem_ Programm 1985 dieses beschlossen [b][1][/b]
    Jetzt ist ein Beschluss noch lange nicht dazu angetan auch umgesetzt zu werden! [b][2][/b]
    Beschlusstreue / Vertragstreue wird ja von der "[b]Politiker-Kaste[/b]" nicht für…
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