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Der Langstreckler

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Wolfgang Reinhart war württembergischer Meister im Hindernislauf über 3000 Meter. Er ist seit 40 Jahren politisch aktiv, hat es zum Vorsitzenden der CDU-Landtagsfraktion gebracht und noch höhere Aufgaben fest im Blick. Auch deshalb schürt er Unruhe, sogar im eigenen Laden.

1992 zog der Jurist mit Prädikatsexamen für den Wahlkreis Main-Tauber ins Landesparlament ein. Bald entwickelt er Vergnügen an Mechanismen, die aktuell mehr denn je zu seinem Handwerkszeug gehören. In einem Zeitungsinterview dachte er schon damals laut über die Vorzüge einer Ein-Stimmen-Mehrheit – natürlich der CDU – nach und darüber, wie "du dann als einzelner Abgeordneter jederzeit die Regierung stürzen kannst". Das sei doch "ein feines Gefühl".

Dieses feine Gefühl muss ihn beschlichen haben, als er vor gut zwei Wochen die Gelegenheit beim Schopf packte, um die Landespolitik gleich an zwei Fronten aufzumischen: in der Regierung und noch mehr in der eigenen Partei. Thomas Strobl, der selbsternannte starke Mann der Südwest-CDU, mochte nicht anreisen aus Berlin. Die neunte interne Runde im zähen Verhandlungsmarathon mit den Grünen zur Wahlrechtsreform stand an. Und obwohl der Landesvorsitzende gebeten hatte, die schwierige Frage von der Tagesordnung zu nehmen, ließ Reinhart ungerührt darüber diskutieren.

Mit einer 80-Prozent-Ablehnung jedweder Änderung im geltenden Wahlrecht rechneten TeilnehmerInnen vor Sitzungsbeginn. Nach fast vier Stunden sind es sogar 100 – bei Abwesenheit mancher Hasenfüße, die sich nicht in die eine und nicht in die andere Richtung outen wollen. Jedenfalls findet eine förmliche Abstimmung statt, deren Ergebnis den Parteifreund Strobl und zugleich die Grünen brüskiert. Im Koalitionsvertrag ist die Reform fest vereinbart. Er habe auch "die Balkonszenen und Jamaika" im Blick gehabt, bemüht Reinhart zur Rechtfertigung kühne Parallelen. Viel einfacher "wäre es gewesen, noch ein paar Runden zu drehen und die ganze Sache dann platzen zu lassen". Als "redlicher" preist er "die Klarheit, für die jetzt gesorgt ist".

Keine Speerspitze gesellschaftlichen Fortschritts

Der Fraktionschef gelte als "als extrem eitel und ehrgeizig, soll Ambitionen hegen, die CDU bei der nächsten Wahl als Spitzenkandidat anzuführen", wird die "Süddeutsche" tags darauf schreiben. Er sei "ein politischer Routinier, mit Gespür für die Befindlichkeit der ländlichen, konservativen Abgeordneten". Eine Speerspitze gesellschaftlichen Fortschritts wird der 61-Jährige jedenfalls nicht mehr. Ein Manko, das er aber verschmerzen kann in einer Partei, die an Geschlechterquotierung noch immer und – vor allem in der Jungen Union – schon wieder wenig interessiert ist und in der Quoten regelmäßig in das schlechte Licht eines Zwangsinstruments gerückt werden.

Reinhart, ein bewährter und seit jeher um Profilierung und Außendarstellung bemühter Strippenzieher, hat dieser Tage eine neue Tradition begründet und zum ersten Neujahrsempfang seiner CDU-Fraktion geladen. Unter den Gästen, kaum beachtet von den mehreren hundert Männern, eine der bekannteren Politikerinnen der Nachkriegs-Union. Renate Hellwig war Stuttgarter Landtagsabgeordnete, Heiner Geißlers Staatssekretärin in Rheinland-Pfalz, Bundestagsabgeordnete im Wahlkreis Neckar-Zaber, profilierte Kohl-Kritikerin, aktiv und widerborstig. "In meiner Partei kann man sich mit keiner Politik so unbeliebt machen wie mit Frauenpolitik", wusste Hellwig schon Anfang der Neunziger Jahre, als sich die Diskussion um mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Union wieder einmal zuspitzte. Wenig bis nichts, analysiert sie zweieinhalb Jahrzehnte danach, habe sich daran geändert.

Im Südwesten, nach dem Absturz in die Opposition 2011, wollten zudem andere, Strobl und seine damalige Generalsekretärin Katrin Schütz, inzwischen ebenfalls Reformgegnerin, die Modernisierungsflanke mit der Aktion "Frauen im Fokus" besetzen. "Programmatisch" wollte der Landesvorsitzende in die Partei hineinwirken. Wie gründlich das gescheitert ist, lässt sich an der baden-württembergischen Landesgruppe im neuen Bundestag ablesen. Von 38 Abgeordneten sind 35 männlich, weil selbst eine quotierte Liste nichts ausrichten kann gegen ein rückwärtsgewandtes gesellschaftliches Bewusstsein an der Basis. Wenn also in den Wahlkreisen vor Ort fast keine Frauen aufgestellt und alle Mandate dort direkt gewonnen werden.

Keiner kennt diese Befindlichkeiten in der Südwest-CDU besser als Reinhart. Im Machtkampf mit Strobl ist es ein Pfund, die Fraktion einstimmig hinter sich versammelt zu haben. Und wenn der ungeliebte Landesvorsitzende auf Druck der Bundestagsabgeordneten in der Parteispitze darauf pocht, 2021 – sollte er wollen – Spitzenkandidat werden zu können, dann versuchen er und die Seinen die schmerzliche Niederlage beim Mitgliederentscheid 2014 vergessen zu machen. Damals konnte Strobl nicht einmal ein Viertel aller Mitglieder der Südwest-CDU für sich mobilisieren – und unterlag dem damaligen Fraktionschef Guido Wolf.

Seit bald 40 Jahren auf Parteitagen

Dessen Nachfolger wird seit 1979 von seiner Basis als Delegierter auf Bundes- und Landesparteitage geschickt, er war CDU-Bezirksvorsitzender in Nordwürttemberg, Staatssekretär und Minister, zuständig auch für Europa und den Bund, hat die CDU als Obmann durch den schwierigen Flow-Tex-Untersuchungsausschuss manövriert, der immerhin zwei FDP-Minister das Amt kostete. Er ist bestens vernetzt, brachte es zum Koordinator der unionsregierten Länder und damit bis in den Gehörgang der Kanzlerin. Weil er ebenso mit den Grünen und speziell Winfried Kretschmann kann, wusste er genau, dass das Risiko bei diesem Vorstoß in Sachen Wahlrecht ein überschaubares war.

Aber: Viele Frauen in der digitalen und der realen Welt schäumen, selbst in der Union. Der Fraktionschef hat sogar die Landfrauen gegen sich aufgebracht, nicht aber den Ministerpräsidenten. Der schätzt den "lieben Wolfgang" deutlich mehr als Strobl, wie erzählt wird. Und beide kennen keine Scheu, selbst in den ureigensten Kompetenzbereichen des Innenministers zu wildern. Als der mit der Weiterentwicklung der grün-roten Polizeireform der vergangenen Legislaturperiode nicht zu Potte kam, regelten Kretschmann und Reinhart die heikle Causa unter vier Augen. Letzter im sicheren Wissen, dass er die Mehrheit der CDU-Abgeordneten praktisch themenunabhängig hinter sich versammeln kann. Trotz der vielen SkeptikerInnen innerhalb und außerhalb der Partei.

Seit Jahren Anlass zu Kritik bietet vor allem das Auftreten des Langstrecklers. "Eitelkeit? Die gehört sicher zu ihm. Genau wie sein Ehrgeiz", schreibt die "Main-Post" bald nach seinem Einzug in den Landtag, zu einer Zeit, als er die Haare noch länger trug und die "fast zu dunkel waren, um echt zu sein", so die "Schwäbische Zeitung". Vor elf Jahren wollte er Baden-Württembergs Finanzminister werden. Günther Oettinger musste sich zwischen zwei Gefährten entscheiden und gab Willi Stächele den Vorzug. Das Auftreten des Unterlegenen sei "liebenswürdig, aber überfreundlich", meinte die "Schwäbische Zeitung", und verstöre einige seiner Kollegen, "denn 30 Zentimeter beträgt laut Psychologen die imaginäre Schutzzone, die jeder Mensch um sich herum gerne hat, aber Reinhart rückt oft näher auf den Pelz".

Zu den Auffälligkeiten neben dem dunklen Haar und der gestenreichen Sprache zählten früher kanarienbunte Sakkos und heute knallige Krawatten. Und dass der Tauberbischofsheimer, der – wer kann da überrascht sein – seit langem Präsident der Gesellschaft zur Förderung des berühmten Fecht-Clubs ist, sich gern als Professor anreden lässt. Seit 1998 ist er Honorarprofessor an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Heilbronn, womit für ihn "ein Lebenstraum" in Erfüllung ging. Immerhin konnte er schon damals auf eine jahrelange Lehrtätigkeit und eine verfassungsrechtliche Promotion mit der Note 1,7 verweisen. Mit Freude engagiert er sich als Prüfer für Wirtschaftswissenschaftler, etwa im Bereich Tourismusbetriebswirtschaft oder Weinmarketing. Seine launigen Weinproben, auch schon mal in der Tonlage von Kaffeefahrten, sind nicht nur in Berlin legendär, Schenkelklopfer nach Schlüpfrigkeiten inklusive.

Wie falsch der glühende Anhänger von Stuttgart 21 gelegentlich liegen kann, bewies er nicht nur mit Ruhmreden auf den Tiefbahnhof, sondern unvergessen auch am Aschermittwoch vor 18 Jahren. Im Überschwang der Gefühle kündigte er als CDU-Kreisvorsitzender Oettinger als "jungen Wilden in der Union" und mit Blick auf die Landtagswahl 2001 sogar als "künftigen Ministerpräsidenten" an. Der Jubel bei der Veranstaltung in Kühlsheim war riesig. Danach musste der eine zurückrudern und der andere immerhin noch ganze vier Jahre warten, ehe er endlich vom Prinz Charles der Landespolitik aufstieg in die Villa Reitzenstein – und dort nicht lange bleiben durfte.

"Meister des Revanchefouls"

Kenner des CDU-Fraktionschefs kommen schnell auf "seine sympathische Schlitzohrigkeit" zu sprechen. Oder auf den politischen Instinkt, der ihn wie wenige andere dazu befähigt, "im richtigen Moment in der Deckung zu bleiben oder eben nicht". Wer es sich aber mit ihm verscherzt, der "geht nicht über Los", sagt ein anderer, und müsse infolgedessen "hintenanstehen". Oettinger hat ihn einmal – launig – als "Meister der Revanchefouls" bezeichnet. Gepriesen wird aber, nicht nur in der Union, seine Rhetorik. Zum Start in die Legislaturperiode hielt er eine von allen Parteien außer der AfD gelobte Rede zum Widerstand gegen Rassismus und Antisemitismus, der "Teil unserer Staatsräson ist, eine Frage der Vernunft und ein Gebot des menschlichen Anstands". Befeuert wurde die Debatte durch den Zwischenruf des AfD-Abgeordneten Udo Stein: "Das ist schlimmer als in der Nazizeit."

Natürlich weiß Reinhart, dass kein treuherziger Augenaufschlag reichen wird, um den Koalitionsfrieden mit den Grünen wiederherzustellen. Und er weiß, wie sehr einmal mehr die eigene Partei und ihre Führung miteinander fremdeln. "Das ist das zweite Mal", ätzt der Landesvorsitzende der Jungen Union, Philipp Bürkle, unter Anspielung auf die Turbulenzen nach einer Initiative der Fraktion für eine verbesserte Bezahlung der Abgeordneten, "dass er sowohl die Fraktion als auch die Partei in ein gewisses Chaos stürzt". Da dränge sich "langsam der Eindruck auf, dass Herrn Reinhart irgendwie das Hemd des Fraktionsvorsitzenden doch ein Stück weit zu groß zu sein scheint". Der Innenminister müsse dafür sorgen, "dass diese Ballerei sofort eingestellt wird", tönte es prompt aus dem Reinhart-Lager zurück, "sonst können wir noch ganz andere Saiten aufziehen".

Nach der Sondersitzung von Präsidium und Landesvorstand am Montag versuchen Strobls Anhänger, dessen Lesart vom vorübergehenden Unterbruch des Machtkampfs durchzusetzen: Diesmal habe sich Reinhart gehörig verzockt, wird geraunt. Jetzt ziehe man wieder an einem Strang und in die gleiche Richtung, so der Landesvorsitzende. Ein Hindernisläufer denkt in ganz anderen Kategorien. "Du darfst in der ersten Hälfte nichts verschenken", beschrieb Reinhart kurz vor der überraschenden Wahl zum Fraktionschef vor bald zwei Jahren seine Taktik auf der Tartanbahn, "in der zweiten nicht einbrechen und immer noch genügend Kraft behalten, um auf den letzten Metern zulegen zu können." Mal sehen.


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Ausgabe 459 / Grüne Anfänge mit braunen Splittern / Udo Baumann / vor 1 Tag 11 Stunden
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