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Das grüne Kuckucksei

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Boris Palmer hat ein Buch geschrieben. Es heißt: "Wir können nicht allen helfen". Die Demagogie des Titels unterscheidet sich nicht von den Parolen, mit denen der äußerste rechte Unionsflügel, die NPD und die Republikaner ("Das Boot ist voll") schon in den 90er-Jahren Stimmung machten.

"Außerhalb unseres Hauses hat noch niemand eine Zeile gelesen", sagt die Sprecherin des Münchner Siedler Verlags, der zur Random-House-Gruppe von Bertelsmann gehört. Ein Termin für die Präsentation der Neuerscheinung stehe allerdings fest: Am 3. August wird das Werk des Tübinger Oberbürgermeisters im Haus der Bundespressekonferenz in Berlin vorgestellt.

Das sind exakt 50 Tage vor der Bundestagswahl. Und die Ankündigungstexte lassen erahnen, wie der 45-jährige Querkopf seinen Parteifreunden die Performance im Wahlkampf ordentlich zu verhageln gedenkt. Anstatt sich wie Winfried Kretschmann in der Flüchtlingspolitik an Angela Merkels Seite zu stellen – aus Demoskopensicht mit die Basis seines Wahlerfolgs im März 2016 –, polemisiert Palmer gegen die Kanzlerin, die "hunderttausende Flüchtlinge ins Land ließ". Er verspricht, "Probleme offen zu benennen", und "den Rechtspopulisten das Wasser abzugraben". Das sagt sich so leicht dahin. Tatsächlich leiten solche Sätze wahre Sturzbäche auf deren Mühlen.

Palmer kennt nur einen Realisten: sich selbst

Baden-Württembergs Innenministerium weist die Zugangszahlen für Kalenderwochen aus. 2015 wurde in der KW 32 mit der Registrierung von 3700 Einreisenden eine vorläufige Höchstmarke erreicht. (Nur zum Vergleich: In den süditalienischen Häfen kommen zurzeit pro Woche dreimal so viel Menschen an.) Statt ins grüne Parteiprogramm zu schauen oder sich als Kommunalpolitiker der seriösen Aufklärung der Bürgerschaft zu verschreiben, stürzte sich Palmer damals in eine unsägliche Realismus-Debatte, die im Wesentlichen nur einen Realisten kennt: ihn selbst.

Die Umdeutung des Begriffs zur Illustration angeblich unhaltbarer Zustände im Land findet jetzt ihren vorläufigen Höhepunkt in brisanten 240 Seiten, mit denen der Autor Furore und Auflage zu machen hofft. "Wenn Sie Weihnachtsbäume verkaufen wollen, fangen Sie damit auch nicht drei Tage nach Heiligabend an", sagt er in einem der Interviews, die schon vor dem Erscheinungstag öffentliche Aufmerksamkeit wecken sollen, "und wenn Sie ein politisches Buch veröffentlichen, tun Sie das vor einer Wahl und nicht danach, weil davor das politische Interesse größer ist." Generell empfehle er: "Erst das Buch lesen, und es dann kritisieren."

Allerdings sind mittlerweile derart viele Äußerungen publik geworden, dass nichts Deeskalierendes, Einordnendes, Mitmenschliches zu erwarten ist. Stattdessen heizt der Grüne an. Der Vater von zwei Kindern will "offen über die Grenzen der Belastbarkeit" sprechen, über Bildungs- und Jobchancen, Wohnungsnot, den Umgang mit Gewalt und Abschiebungen. Oder eben über Ordnung und Sicherheit. Dass diese Stoßrichtung eine gewisse Schlagseite offenbart, die sonst eher nicht mit den Grünen in Zusammenhang gebracht wird, stört ihn keineswegs. Im Gegenteil, er legt Wert darauf, sich erkennbar abzusetzen vom "idealistisch-revolutionären Flügel" der Grünen. Ohne den, weiß er, gebe es zwar seine Partei gar nicht, aber der sollte sich "besser nicht durchsetzen". So richtig frustriert ist der Sohn des einstigen Remstal-Rebellen Helmut Palmer vom Niveau der öffentlichen Debatte zu dieser heiklen Thematik: Die nämlich lässt "mir wegen ihrer Sachferne und ideologischen Überfrachtung regelmäßig die Haare zu Berge stehen".

Ganz schlimm: Schwarzfahrer zwischen Sigmaringen und Biberach

Dabei überfrachtet gerade er selbst nur zu gern. Er konstruiert Zusammenhänge, die sich verbieten, zum Beispiel den zwischen Zuwanderung und Gewalt, der sich an vielen Polizeiberichten gerade nicht ablesen lässt. Und vermeidet jeden Blick zurück auf eigene Prognosen, die aktuelle Zustandsbeschreibungen relativieren könnten. Er habe die Sorge, sagte Palmer im Oktober 2015, dass das in zwei Jahren anders sein werde: "Wenn dann viele Flüchtlinge hier leben, die in Konkurrenz zu denen stehen, die schlecht bezahlte Tätigkeiten ausüben oder auf eine Sozialwohnung warten, dann wird das das untere Fünftel der Gesellschaft womöglich anders sehen als das obere Drittel." Ganz abgesehen davon, dass solche Schwarzmalerei kaum der realen Lage im Sommer 2017 entspricht, hätte er sich zur Aufgabe machen können, einem derartigen Klima entgegenzuwirken, wenn er schon – vor allen anderen natürlich – die Gefahren vorauszusehen meinte.

Manche seiner Facebook-Posts erwecken den Eindruck, dass die soziale Kompetenz nicht Schritt halten kann mit den Fertigkeiten, die ihn vor sechs Jahren zum Star der Stuttgart-21-Schlichtung machten. Der Deutschen Bahn falsche Behauptungen nachzuweisen und selbst in Windeseile mit einem Fahrplan aufzuwarten, der die Nachteile des Tief- gegenüber dem Kopfbahnhof belegt, ist das eine. Die richtigen Schlüsse aus der Beobachtung schwarzfahrender Flüchtlinge zwischen Sigmaringen und Biberach zu ziehen, das andere. "Sigmaringen. Bahnhof" schreibt er, "fünf junge Männer. Offensiver Auftritt. Kontrolle im Zug: Keiner hat einen Fahrschein. Zugfahrten haben sich verändert in den letzten Jahren." Der Grüne stellt rhetorische Fragen: "Ist es rassistisch, das zu beschreiben? Ist es fremdenfeindlich, sich dabei unwohl zu fühlen?" Und er ist eingeschnappt, wenn diese und andere Fragen bejaht werden. Seit August 2015 fühlt er sich – gerade von Parteifreunden – immer wieder in die ganz rechte Ecke gestellt. Zweifeln an eigenen Positionen und Aussagen lässt ihn das nicht, eher im Gegenteil.

Und dann sind da zu allem Überfluss auch noch die vielen Unschärfen. "Wir schaffen das nicht", wusste er es schon bald besser als die Kanzlerin. Das so vage in Aussicht gestellte Chaos ist aber bis heute gar nicht eingetreten. Macht aber nichts. "Wir können nicht allen helfen", heißt das Buch, als ob die derzeit mehr als 60 Millionen Flüchtlinge weltweit nur ein Ziel hätten: die Bundesrepublik. Immerhin erntet Palmer im Netz den verdienten Shitstorm. "Mensch, Boris", schreibt ein grüner Bürgermeisterkollege, "bei uns rackern die Ehrenamtlichen Tag und Nacht (...) und jetzt redest Du der AfD nach dem Mund."

Im Netz ist schon vom "grünen Sarrazin" die Rede

Ähnlich groß ist der Ärger, wenn der passionierte Radfahrer die Abschiebung Krimineller nach Syrien fordert, dem deutschen Asylrecht und der international verbindlichen Genfer Flüchtlingskonvention Regeln andichtet, die sie gar nicht enthalten. Straftäter in Kriegsgebiete abzuschieben sei erlaubt, posaunt er hinaus. Und weiter: Die Abschiebung gewaltbereiter Flüchtlinge habe in den vergangenen Jahren wegen geringer Fallzahlen keine Rolle gespielt, aber jetzt müsse eine Neubewertung her, wegen der täglichen einschlägigen Nachrichten über Asylbewerber.

Zwar nehmen sich Parteifreunde den Provokateur nicht nur per Tweet, sondern auch hinter verschlossenen Türen zur Brust. "Aber man konnte und kann nicht mit ihm argumentieren", berichtet einer aus der Riege bundesweit bekannter baden-württembergischer Realos. Viel zu "festgefahren" sei er in seinen Ansichten schon immer gewesen, "und überzeugt davon, dass nur er richtig liegt".

Das ist bis heute so, Wahlkampf hin oder her. "Ist dir egal, welche Schwierigkeiten wir in den Fußgängerzonen bekommen werden, wenn dein Buch erst einmal auf dem Markt ist?", fragte ihn kürzlich in Stuttgart eine altgediente Grüne. Woraufhin der studierte Mathematiker erläuterte, wie er tagtäglich erlebe, dass zu viele schwarze Schafe die Hilfsbereitschaft in Deutschland ausnützten, wie groß die Gefahr für Frauen selbst im beschaulichen Tübingen sei und dass er nicht länger schönreden wolle, was nicht schönzureden sei. In diesen Tagen macht da schon der Spruch vom "grünen Sarrazin" die Runde im Netz.

Auch solche Vergleiche bremsen ihn nicht. Palmer geriere sich als "Bescheidwisser", anstatt Lösungen zu präsentieren, schrieb ihm die damalige Grünen-Landesvorsitzende Thekla Walker im Herbst 2015 zur Diskussion über Obergrenzen ins Stammbuch, fünf Monate vor der Landtagswahl. Prompt legte das Tübinger Stadtoberhaupt nach und verlangte mehr: die Schließung und Sicherung der EU-Außengrenzen – notfalls sogar bewaffnet.


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31 Kommentare verfügbar

  • Georg Cantor
    am 11.07.2017
    Antworten
    Wenn man erst einmal alle "Zusammenhänge, die sich verbieten" heraussortiert hat, ist eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Palmers "brisanten 240 Seiten" nicht mehr notwendig. Es fällt dann leicht, "Das grüne Kuckucksei" in das rechte Lager zu entsorgen. Aus meiner Sicht ist es richtig, wenn auch…
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