Vor allem aber herrscht dabei offenkundig ein Mangel an gleichberechtigten öffentlichen Diskussionen. Untersuchungen zeigen, "dass die Versammlungsdemokratie den Stimmberechtigten zusätzlich Diskurschancen bietet, aber effektiv gewisse Diskursdefizite aufweist, weil die 'einfachen' Stimmberechtigten diese Chancen – womöglich wegen psychologischer Barrieren – nicht wahrnehmen", so Roger Blum, emeritierter Professor für Medienwissenschaften an der Universität Bern. Folglich handelt es sich bei dem "Vorbild der Schweizer direkten Demokratie" formal um ein direktdemokratisches Verfahren, dieses ist aber geprägt von elitären Naturrechtsvorstellungen und Traditionalismus, während es an öffentlichen kontroversen Diskussionen und freier Meinungsbildung mangelt.
Deshalb erstaunt es kaum, dass die Versammlungsdemokratie der Schweizer Landsgemeinden rechten Vordenkern schon länger als "Vorbild" dient. Carl Schmitt, der "Kronjurist" der Nationalsozialisten, betonte die Wichtigkeit direktdemokratischer Verfahren wie Bürgerbegehren und Volksentscheide schon 1927 und lobte das "Schweizer Vorbild". Die "eigentlichste Tätigkeit, Fähigkeit und Funktion des Volkes", so Schmitt, "der Kern jeder volkhaften Äußerung, das demokratische Urphänomen [...] ist die Akklamation, der zustimmende oder ablehnende Zuruf der versammelten Menge. Das Volk akklamiert einem Führer [...] es ruft Hoch oder Nieder, jubelt oder murrt, schlägt mit den Waffen an den Schild, erhebt auf den Schild, sagt in einem Beschluß, mit irgendeinem Wort 'Amen' oder verweigert diese Akklamation durch Schweigen." Selbstverständlich sollten Abstimmungen, so die rechte Auffassung, auf keinen Fall geheim durchgeführt werden. Sonst würde "die Unmittelbarkeit des versammelten Volkes [...] durch die Isolierung des einzelnen Stimmberechtigten" vernichtet. Soziologisch gesprochen, gehen diese völkischen Abstimmungsrituale eng mit sozialer Kontrolle und dem Verzicht auf selbstständige Urteilsbildung einher.
Auf den "politischen Instinkt" ist selten Verlass
So meint die Forderung rechtspopulistischer Parteien nach direkter Demokratie solche Abstimmungsverfahren, die auf einer völkischen Freund-Feind-Unterscheidung basieren, auf einem "politischen Instinkt" (Carl Schmitt) anstatt auf politischer Urteilsbildung. Diskussionen und Debatten sind in der Regel nicht vorgesehen, denn dabei könnten sich Meinungen bilden, die das vermeintlich "Naturhafte der Gemeinschaft" zerstören würden. An die Stelle eines Prozesses der assoziativen, gemeinsamen Meinungsbildung verschiedener Menschen wird ein dissoziative, eine trennende Freund-Feind-Unterscheidung gesetzt, die immer andere Menschen ausgrenzt. Während wirkliche demokratische Verfahren vom konstruktiven Streit zwischen verschiedenen Menschen lebt, rufen rechtspopulistische Formen direkter Demokratie lediglich zu einer Ja- oder Nein-Bekundung auf, zur Akklamation.
Wenn Rechtspopulisten vom Vorbild der direkten Demokratie sprechen, dann betrügt ihre Propaganda um ein wesentliches Versprechen der Demokratie: dass die Bürger als verschiedene, aber sich als gleichwertig und gleichberechtigt anerkennende ein Gemeinwesen selbst gestalten, egal welcher Abstammung sie sind. Stattdessen werden die Bürger in rechtspopulistischen Vorstellungen auf eine Masse abstimmender Ja- oder Nein-Sager reduziert. Das kann selbstverständlich kein Vorbild für eine wirklich demokratische Bürgerschaft, geschweige denn für eine mündige Zivilgesellschaft sein.
19 Kommentare verfügbar
Timo Sperber
am 28.09.2016Halb-direkte Demokratie meint nämlich: Es gibt vor allem den vorherrschenden Teil d. parlamentarischen Demokratie, die zwei Parlamentskammern (NR und SR), die diskutieren und machen normalerweise Gesetze und Verordnungen. Es gibt natürlich eine Regierung (deutlich kooperativer als anderswo - alle grossen Parteien darin vertreten) . Und nur, wenns vielen im "Volk stinkt", dann können Unterschriften für den Akt der direkten Demokratie gesammelt werden. Und relativ selten wird anders gestimmt, als es das Parlament beschloss. Also alles ziemlich so wie andernorts (mit dem feinen aber entscheidenden Unterschied allerdings). Die Landsgemeinden sind eher lokal und folkloristisch. Bitte BESSER RECHERCHIEREN!! Das war schon etwas peinlich ! Oder war der Text der Autorin von d. Redaktion einfach mit falschem Vorspann versehen, falsch eingeordnet worden --!? Auch das wär unschön ... Grüsse, T.S.
Ignaz Wrobel
am 14.09.2016Solange Ihnen inhaltsleere Worte ( Der "Schein " ) wichtiger sind als Fakten ( Das "Sein " ) und Sie erstere auch als Kommentar zu Nichtexistentem erwarten, wird es Ihnen wegen Nichtverstehens meines Textes genauso ergehen. Sie werden bestenfalls ein Kopfschütteln ernten. Wozu also das Schweigen bei erkennbar selektiver Wahrnehmung Ihrerseits ? Zu recht.
Fred Heine
am 14.09.2016Tja, wo Nichts ist, kann man als Fragender schwerlich vernünftige Antworten erwarten."
Sehen Sie, genau das meinte ich.
Fritz
am 14.09.2016Ignaz Wrobel
am 13.09.2016Tja, wo Nichts ist, kann man als Fragender schwerlich vernünftige Antworten erwarten.
Wenn bei einem Projekt nach objektivierender Abwägung aller harten Fakten in Bezug auf Gemeinwohlverträglichkeit / Erhalt von Substanz - und Volksvermögen, bahnbetrieblicher Leistungsfähigkeit, Zukunftsfähigkeit bzgl. Leistung / Aufwuchsfähigkeit / Redundanz /ökologischem benefit / Sicherheit im Betrieb und vor allem für Passagiere / Fehler -und Ausfallfolgenminimierung bei Teilstörungen oder an neuralgischen Zwangspunkten MEHRHEITLICH nur Nachteile zutage gefördert werden, erwarten Sie bestechende Argumente FÜR Stuttgart 21 ? Obschon es welche gibt-allerdings keine überzeugenden. Denn diese bedienen Partikularinteressen : Das Minutenschinden für Leute, die glauben,die Zeit konservieren zu können. Übrigens ausschließlich dem "nice to-have" -Bundesverkehrwegeprojekt NBS Wendlingen-Ulm zu verdanken. Nicht S 21. Und natürlich der ultrateure Immobilienbaugrund im dreckigen Kessel. Der Preisdruck im Immobiliensektor wird ihn zu Büro-und Gewerbeflächen machen meiner Ansicht nach. Einige wenige millionenteure Penthousewohnungen obendrauf. Ein "Rosensteinviertel " mit vierfachem Grundstückspreis gegenüber seriös gerechneter Durchschnittsverdienerfinanzkraft nebenan, geschrumpft vom " Städtebauprojekt " zum Anhängsel.
Das Ganze hätten Sie schneller und billiger haben können , ohne " Bahnprojekt Stuttgart - Ulm " : Abrissbagger ! Der öffentliche Bahnverkehr insgesamt wird ja inzwischen klar absehbar ohnehin gezielt gegen die Wand gefahren.
Allerdings : Sie hätten nie Mehrheiten dafür bekommen.
" Dann war meist Schluss." hatte also berechtigten Grund.
by-the-way
am 13.09.2016Sie sind auf dem Irrweg!
Bei einer Volksabstimmung ist der EXAKTE Gegenstand der zu entscheidenden Sache vorgegeben!
Und dabei gibt es keinen Millimeter Spielraum!!!
Und das war bei der Volksabstimmung in BW eben die Entscheidung pro oder contra zu einem Austiegsgesetz zur Finanzierung von Stuttgart 21.
Die Interpretationen von Polit-Lügnern und -betrügern interessieren da nicht die Bohne.
Propaganda, ein von vorneherein abgekartetes Spiel.
Der Gesetzentwurf war doch niemals ernst gemeint, sondern ein politisches Betrugsmanöver, um die Projektgegner delegitimieren zu können.
Das ist glücklicherweise nicht gelungen und wird letztendlich Stuttgart 21 das Genick brechen
("Ihr werdet uns nicht los - wir Euch schon...")!
Genauso gut könnten Sie bei einer Schweizer Volksabstimmung zum Minarett-Bau im Land, der gegen den Bau ausgegangen ist. schlußfolgern, das es Wille des Volkes sei, alle Moslems des Landes zu verweisen.
Das wäre dann die gleiche Logik !
Fred Heine
am 13.09.2016Die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 war de facto eine Volksabstimmung über Stuttgart 21. Das wurde von beiden Seiten (Landesregierung und Bahn) deutlich kommuniziert.
Von dem her verstehe ich das Problem nicht. Wenn die Bürger Baden-Württembergs gewollt hätten, dass Stuttgart 21 gestoppt wird, hätten sie nur mit Ja stimmen müssen.
Ich denke, der Frust wegen der VA hat ganz andere Gründe: viele S21-Gegner wurden kalt erwischt, weil sie sich erstens hauptsächlich in ihren Milieus aufgehalten und dort gegenseitig bestärkt haben. Für den "politischen Gegner" haben sie gar kein Gespür entwickelt (das ging vielen S21-Befürwortern übrigens nicht anders). Und zweitens haben sie sich für die Argumente der Gegenseite überhaupt nicht interessiert. Wie oft musste ich mir den Satz anhören: "Sagen Sie mir EIN Argument für Stuttgart 21!" Zum Schluss habe ich daraufhin nur noch geantwortet: "Sagen Sie mir EIN Argument für Stuttgart 21, das sie als solches anerkennen würden." Dann war meist Schluss.
Als bei der VA rauskam, dass die Gegner von S21 weder in Baden-Württemberg eine Mehrheit hatten, noch in Stuttgart selbst, ja nicht einmal alle Innenstadtbezirke für sich gewinnen konnten, war das ein Schlag in den Magen.
Typisch der Satz von Rockenbauch bei der Kundgebung am VA-Abend: "Wir haben die CDU-Seilschaften im Land unterschätzt." Nein, ihr habt wie Autisten gar nicht mehr mitgekriegt, was in der Stadt und im Land eigentlich los war.
Schönstes Beispiel für diesen Autismus: Wegen eines Feiertags wurde eine Montagsdemo abgesagt. Vielleicht 80 oder 100 Demonstranten wollten aber trotzdem demonstrieren und haben für eine Stunde die Innenstadt lahmgelegt. Besoffen von ihrem Erfolg, haben sie sich wie kleine Kinder gefreut, dass der Verkehr zusammenbrach. Und in jedem der Autos im Stau saßen Menschen, die nur darauf gewartet haben, es diesen Vollhorsten in der Wahlkabine zu zeigen.
Deshalb: die VA war eine Abstimmung ÜBER Stuttgart 21. Und unabhängig von der Formulierung wäre das Ergebnis das gleiche geblieben.
Fritz
am 13.09.2016by-the-way
am 12.09.2016Zitat:
"An Stuttgart 21 sieht man übrigens sehr gut, dass auch eine Volksabstimmung die Verlierer nicht zufrieden stellt."
Sie wissen aber schon noch, was die genaue Fragestellung dieser Volksabstimmung was ?!!
Da ging es, um exakt zu bleiben, um ein Gesetz zum Austieg des Landes BW aus der Finanzierung von Stuttgart 21, also ein Gesetz zur Kündigung der Landesfinanzierung.
NICHT MEHR UND NICHT WENIGER !
Über Stuttgart21 gabe es zu keinem Zeitpunkt eine thematisch gültige Volksabstimmung, die hatte schon ein
Oberbürgermeister derr Stadt Stuttgart, dessen Name mir entfallen ist, erfolgreich im Jahr 2007- trotz 67000 Unterschriften durch EINE schnelle Unterschrift unter den Finanzierungsvertrag verhindert.
Ein schönes Beispiel zu Demokratie"verständnis" solcher sogenannter "Volksvertrteter", die in ihren Taten absolutistischen Herrschern in nichts nachstehen!
Und nochmal zur Volksabstimmung:
das Ergebnis wurde zu 100% umgesetzt, und das akzeptiert auch jeder Gegner (ich kenne viele):
es gibt eben kein Gesetz zum Austieg des Landes BW aus der Finanzierung von Stuttgart 21.
Die Politik leitet aber aus dem Ergebnis der Volksabstimmung unzulässige Schlußfolgerungen her:
nämlich der Zustimmung von Stuttgart21.
Über diese Fragestellung wurde aber nicht abgestimmt, genauso könnte jeder die Schlußfolgerung daraus ziehen, das Herr Kretschmann wegen seiner mit-initierten Volksabstimmung -mangels Zustimmung- zurücktreten muss.
Stattdessen wurde und wird das Ergebnis der Volksabstimmung seitens der Regierungsparteien propagandistisch auf übelste Art und Weise durch eigenmächtige Auslegung missbraucht.
Eime echte Schande für die "direkte" Demokratie.
Und die Schandtäter sitzen in den Parlamenten!
Fred Heine
am 12.09.2016In Kalifornien haben sich die Wohlhabenden mittels direkter Demokratie mehr oder minder vom Steuerzahlen verabschiedet. Wer als Gouverneur das Staatsdefizit senken will, kann dies nur auf Kosten der Armen. Steuererhöhungen sind faktisch nicht möglich, Leistungssenkungen nur dort, wo es die Armen trifft.
In der Schweiz entscheiden lächerliche Minderheiten über Wohl und Wehe bei Alltagsfragen. Und Populisten, wenn es um Aufregerthemen geht.
Wer will direkte Demokratie? Am ehesten wohl diejenigen, die in einer repräsentativen Demokratie ihre Ziele nicht durchsetzen können. Wieso aber glauben diese Leute, das über den direkten Weg schaffen zu können?
An Stuttgart 21 sieht man übrigens sehr gut, dass auch eine Volksabstimmung die Verlierer nicht zufrieden stellt.
Peter Streiff
am 11.09.2016Und zu @Peter S. (7.9.): Klar, es gab zwei Abstimmungen auf nationaler Ebene zum Gotthard-Tunnel. (ist unter Suchkriterium "wiki neat" einigermaßen gut zusammengefasst).
Noch eine Ergänzung zu den (laut Autorin) konservativen Landsgemeinden, bzw. zum Gegenbeispiel: Das von Schiesser erwähnte Beispiel, wonach im Kanton Glarus das Stimm- und Wahlrecht ab 16 beschlossen wurde, wird noch interessanter, wenn der Initiator des Vorschlags bekannt ist: Ein Vertreter der Jungsozialisten!
lieselotte schiesser
am 10.09.2016Bruno Neidhart
am 08.09.2016jetztredichklartext
am 08.09.2016Lucky Luke
am 07.09.2016Hartmann Ulrich
am 07.09.2016Claus Stroheker
am 07.09.2016Diese Beobachtung halte ich nicht für falsch, zumal ich in meinem Verwandten- und Bekanntenkreis ähnliche Erfahrungen machen musste.
Wenn dies jedoch zutreffen sollte, und es nicht nur ein Phänomen ist, welches nur Einzelne betrifft und auch wieder verschwindet, dann - so will ich es einmal ausdrücken - "gnade uns Gott", wenn zukünftig wichtige Fragen nach Schweizer Modell entschieden werden sollten.
Denn erfolgreiche, mit-reissende und stark beeinflussende Rede mit populistischem Anstrich ist, nach meiner Beobachtung, nicht Markenkern der politischen Linken.
Warum? Weil meiner festen Meinung und tiefen Überzeugung nach eine ethisch-moralische Grundlage bei der politischen Linken noch immer vorhanden ist und auch bleiben muss; das ist ein wichtiges, wesentliches Unterscheidungsmerkmal gegenüber der politischen Rechten.
Plattenputzer
am 07.09.2016Ja, auch in der Schweiz gibt e zu viele rechte Populisten.
Die Basisdemokratie in der Schweiz existiert jedoch nun schon seit 1406 und sie wird auch die wirre Idelogie der SVP überleben, wie sie schon so manches ausgehalten hat und gestärkt daraus hervor ging.
Und ja, es gab ein paar Volksabstimmungen in der Schweiz, die ein fragwürdiges Ergebnis hatten. Jedoch: die weit überwiegende Mehrzahl der Ergebnisse der in der Schweiz gelebten Basisdemokratie sind überzeugende Beweise dafür, dass die Schweizer Demokratie "können". Das liegt daran, dass sie dort die oben erwähnte lange Tradition hat und dass die meisten Schweizer sich sehr wohl genau informieren, bevor sie abstimmen.
Was vile Deutsche nicht wissen: in der Schweiz herrscht traditionell auch ein sehr hohes Maß an der Bereitschaft, Konsens herzustellen bei strittigen Fragen. Das unterscheidet die schweizer Gesellschaft grundlegend von der deutschen und das ist auch ein wichtiger Baustein zur hervorragend funktionierenden Demokratie in der Schweiz.
Nehmen wir uns ruhig die Schweiz zum Vorbild. Auch wenn die rechten Popolisten von der AFD basisdemokratische Ideen vertreten, heißt das nicht, dass diese eine Idee schlecht wäre.
Es steht allerdings zu vermuten, dass die AFDler tatsächlich eine pervertierte Vorstellung von Basisdemokratie haben, in der z. B. nur Menschen, die einen Arbeitsplatz vorweisen können oder "deutschen Blutes" sind, wählen dürfen. So einem Unsinn gilt es tatsächlich auf's schärfste zu bekämpfen!
Peter S.
am 07.09.2016