Gefragt nach den Schwerpunkten künftiger Landespolitik, erklärte der Spitzenkandidat der AfD in Mecklenburg-Vorpommern, Leif-Erik Holm, er wolle sich für "mehr direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild", mehr Bürgerbegehren und für geringere Quoren einsetzen. Auch Beatrix von Storch sieht die "direkte Demokratie" nun als wichtigste Aufgabe an und nennt das Schweizer Modell als Vorbild. Offenbar steht das Thema bei der AfD mit an erster Stelle. Das stimmt auf den ersten Blick nachdenklich, handelt es sich doch bei direkter Demokratie um eine Forderung zahlreicher demokratischer Bürgerbewegungen und bei der AfD um eine der rechtspopulistischen Parteien, die mit demokratischen Verfahren historisch ihre Probleme haben.
Was hat es mit dem "Schweizer Vorbild" auf sich? In der Schweiz wird direkte Demokratie oder "Versammlungsdemokratie" zurzeit in einigen Bezirken, in bündnerischen Kreisen und in etwa 2000 Gemeinden praktiziert. Auf kantonaler Ebene gibt es sie nur noch in zwei Kantonen: Appenzell-Innerrhoden und Glarus. Dort trifft sich einmal im Jahr die Bevölkerung, die jeweilige "Landsgemeinde", und entscheidet auf öffentlichen Plätzen unter freiem Himmel in nicht geheimer Wahl, nämlich per Handzeichen über die wichtigen Geschäfte ihrer Gebietskörperschaften. Die Versammlung jeder Landsgemeinde ist das mächtigste politische Organ.
Die Frauen wollten kein Wahlrecht
Was der Kanton Appenzell-Innerrhoden und Mecklenburg-Vorpommern bereits auf den ersten Blick gemeinsam haben, ist, dass in beiden Regionen der Ausländeranteil zu den niedrigsten des Landes, die Ausländerfeindlichkeit aber zur höchsten zählt. So stimmte in Appenzell-Innerhoden bei einer von der rechten "Schweizer Volkspartei" initiierten Abstimmung im Jahr 2014 63 Prozent der Bevölkerung "gegen Masseneinwanderung". Auch was das Frauenbild angeht, klingt es aus Appenzell-Innerrhoden ebenso altbacken wie bei der AfD. So wurde das Frauenwahlrecht in dem Schweizer Kanton erst im Jahr 1990, gegen den Willen der lokalen Bevölkerung, vor allem gegen den der Frauen, vom Schweizer Bundesgericht per Gesetz verordnet. In einer späteren, rechtlich aber bedeutungslosen Abstimmung sprachen sich die Frauen erneut gegen die Einführung ihres Wahlrechts aus – das alles in Verfahren der direkten Demokratie, versteht sich.
Wie passen diese konservativen und frauenfeindlichen Einstellungen mit der vordergründig so fortschrittlichen Form der "direkten Demokratie" zusammen? Die Mitglieder der Landsgemeinde sehen ihre Stellung als "freie Landleute" nicht als erkämpftes bürgerliches Recht an, sondern als ein "Geschenk Gottes, als Honorierung für besondere Taten und außerordentliche Tugendhaftigkeit der Vorfahren", so der Historiker Rolf Graber, Professor an der Universität Zürich. Freiheit wird nicht als Grundrecht verstanden, sondern als vererbtes, von Gott gegebenes Privileg. Dies entspricht der "ständischen Auffassung von Freiheit, in der Freiheit nur einer bestimmten Gruppe von Leuten zusteht", so Graber weiter. Zwar ist hier direkte Demokratie die Grundlage der Selbstverwaltung der Bürgerschaft, sie ist aber von Traditionalismus und Konservatismus geprägt.
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Timo Sperber
am 28.09.2016