Herr Stickelberger, Sie sind gegen Stuttgart 21, und keiner weiß, warum. Haben Sie Angst, dass Gottes Segen nicht auf Ihnen ruht?
Nein. Das liegt daran, dass mich in Stuttgart kaum jemand danach gefragt hat. In meinem Wahlkreis wissen das die Leute. Und was Gottes Segen anbelangt, habe ich schon meine Probleme damit, wenn Pfarrer Straßen und Waffen segnen.
Na, dann begründen Sie doch mal Ihre Ablehnung.
Ich bin weder Parkschützer noch Berufsdemonstrant und trage auch keine Buttons an meinem Jackett. Und mit der Militanz, die ich auf beiden Seiten teilweise feststelle, habe ich auch nichts am Hut. Ich habe die Argumente gegeneinander abgewogen, pro und kontra, und bin für mich zu dem Ergebnis gekommen, dass die Ablehnungsgründe überwiegen. Und deshalb stehe ich dem Projekt mit einer großen Grundskepsis gegenüber.
Haben Sie beim Abwägen gerechnet?
Die Kostenfrage war dabei zunächst nicht ausschlaggebend. Der Ausgangspunkt meiner Kritik sind die Erfahrungen in meiner Region Südbaden. Ich war Baubürgermeister in Weil am Rhein und hatte in dieser Funktion viel mit der Deutschen Bahn zu tun, die uns damals übel mitgespielt hat. Sie hat ihre Planungen rigoros durchgezogen, ohne Rücksicht auf lokale und regionale Belange.
Wie haben wir uns das vorzustellen?
Um der Bahn zu helfen, hat die Stadt Weil am Rhein das letzte Stück von Weil bis zur Schweizer Grenze mitgeplant, um den Lärmschutz und die städtebauliche Situation zu optimieren. Mit einem Kostenaufwand von mehr als einer viertel Million Euro. Darüber ist mit allen Beteiligten munter diskutiert worden, und am nächsten Morgen hat die Bahn ihren Planfeststellungsbeschluss rigoros durchgezogen. Mit der Oberrheinstrecke insgesamt haben wir einschlägige Erfahrungen gemacht. Während die Schweizer ihre Hausaufgaben bei der Alpentransversale erledigt haben, bleibt die wichtigste Nord-Süd-Achse für den Güterverkehr auf deutscher Seite ein Torso. Was dort läuft, dagegen ist der Verkehr auf der wirtschaftlich und verkehrspolitisch deutlich weniger bedeutenden Strecke Stuttgart–Ulm ein Nasenwasser. Wenn die Schweizer 2016/17 auf ihrer Seite fertig sind, werden wir in Südbaden einen Lkw-Stau ohne Ende haben. Für mich als Südbadener hätte die Oberrheinstrecke Priorität, nicht Stuttgart 21.
Der Badener ist eben nicht laut genug.
Baden-Württemberg wird oft vor allem von Stuttgart her gedacht. Das habe ich schon immer kritisiert. Dabei gibt es im Land gleichrangige oder hin und wieder auch größere Probleme als in der Landeshauptstadt. Ich hätte den einen oder anderen besonders vehement auftretenden Stuttgart-21-Befürworter gerne einmal auf dem Marktplatz in Offenburg gesehen oder in den Dörfern am Kaiserstuhl, die alle unter der zentralistischen Herangehensweise leiden. Es ist ja durchaus wichtig, dass Menschen sich für ihre politischen Überzeugungen einsetzen. Aber im Falle von Stuttgart 21 erscheint mir das Engagement – und zwar auf beiden Seiten – doch außergewöhnlich.
Wahrscheinlich hat sich Ihnen die europäische Dimension nicht erschlossen. Sie müssen sich Paris–Budapest vor Augen halten.
Kennen Sie den Vorschlag des Kabarettisten Rogler, der gesagt hat, man solle die ganze Stadt nach unten legen und den Bahnhof oben lassen? Aber im Ernst: ich habe die Diskussion über die Magistrale immer für überzogen gehalten. Die Verbindung Stuttgart–Ulm ist nicht die Nabelschnur der Welt. Auch die Strecke nach Mannheim ist wichtig, mit dem TGV kann ich jetzt schon von Paris nach Stuttgart fahren. Da wird vieles maßlos überschätzt.
Das sagen Sie mal Ihren Spitzengenossen und erklären uns, warum sie in Treue fest zu Stuttgart 21 stehen. Geschehe, was da wolle.
Meine Genossen vertreten ihre tiefe Überzeugung. Die Erklärung ist aber auch im emotionalen Bereich zu suchen. Das hängt mit der Region Stuttgart zusammen, in der einige Parteifreunde zu Hause und entsprechend stark verwurzelt sind. Sie haben sich jahrelang mit dem Projekt beschäftigt und die Vorstellung gehabt, sie könnten das Thema für die SPD positiv besetzen. Sie haben sich mit S 21 identifiziert, sie wollten dabei sein, mit guten Gründen aus ihrer Sicht. Und an dieser Position wird festgehalten.
Und ihre Kinder, sagt Claus Schmiedel, sind stolz auf ihre Väter, wenn sie in 40 Jahren auf der Magistrale nach Wien brausen können.
Magistrale – das war das Lieblingswort von Günther Oettinger. Aber dass Stuttgart 21 über Partei- und Koalitionsgrenzen hinweg Zustimmung findet, ist ja hinlänglich bekannt.
Deshalb tritt Schmiedel mit CDU-Strobl und CDU-Kaufmann auf und reklamiert Gottes Segen und das Gute für sich.
Das hätte ich persönlich aus Rücksicht auf die Kritiker in der Partei nicht gemacht, die zahlreicher sind, als etliche annehmen. Wenn man ehrlich ist und die Sache bei Lichte betrachtet, artikuliert sich vorhandener Widerstand in der SPD nur weniger öffentlich als anderswo. Während ich unter anderem gegen die Finanzierungsvereinbarung gestimmt habe, halten sich andere zurück.
Aber jetzt wird für die SPD alles gut, weil sie die Erfinderin der Volksabstimmung ist, die alle wieder miteinander versöhnt.
Der Erfinder der Volksabstimmung ist Nils Schmid, der sich dabei mit Erhard Eppler und anderen abgesprochen hat. Wir standen im vergangenen Jahr vor dem entscheidenden Parteitag vor der Landtagswahl. Für mich war damals nicht auszuschließen, dass sich der Parteitag über dem Thema Stuttgart 21 spaltet, was verheerend gewesen wäre. Das wäre sicherlich zu Lasten des Spitzenkandidaten gewertet worden, und die SPD wäre womöglich heillos zerstritten in den Wahlkampf gegangen. Insofern war die Volksabstimmung eine gute Idee zur rechten Zeit. Es ging um die gesellschaftliche und auch um die innerparteiliche Befriedung durch einen Vorschlag zu einer politischen Lösung des Konflikts.
Pure Parteitaktik, oder netter gesagt, eine Brücke zwischen beiden Lagern.
Die Volksabstimmung war die Brücke, und rückwirkend betrachtet hat sie die Partei auch ein Stück weit befriedet. Aber, um das noch einmal zu wiederholen: Das gilt auch für die Gesellschaft. Ich sehe darin die womöglich letzte Möglichkeit, Frieden zu stiften.
Und die SPD kann sich entspannt zurücklehnen und das Ergebnis der Abstimmung abwarten.
Es mag sein, dass die Grünen damit ein größeres Problem haben. Die SPD hat den Volksentscheid propagiert und diese Position immer gehalten. Mit Winfried Kretschmann sind große Erwartungen verbunden. Die Grünen haben das Bürgervotum noch zwei Wochen vor der Wahl plakatieren lassen, und der Ministerpräsident hofft jetzt auf ein Wunder. Wie es seine Art ist, hat er diese Äußerungen nicht ohne Bedacht gemacht. Da hat er ja nicht unrecht.
Weil das Ergebnis abzusehen ist.
Ich befürchte, dass es in vielen Landesteilen eine ganz niedrige Wahlbeteiligung geben wird. In Südbaden könnte es zwar zu einer Mehrheit gegen S 21 kommen, aber vielleicht nur bei einer Wahlbeteiligung von 15 Prozent. Zu mir sagen die Leute: Ich kann von dem Thema nichts mehr hören. Dazu gehört auch meine Frau. Je weiter wir von Stuttgart wegrücken, desto unwahrscheinlicher wird das Quorum von 30 Prozent.
Der frühere SPD-Minister Spöri hat in der Kontext:Wochenzeitung nochmals daran erinnert, dass er für eine freiwillige Volksbefragung plädiert hat.
Das war in der Diskussion, ist dann aber verworfen worden, weil man es rechtsverbindlich haben wollte. Wie wichtig das ist, hat sich auch an der geißlerschen Schlichtung gezeigt, die meines Erachtens Erwartungen geweckt hat, die nicht erfüllt werden konnten. Und zwar deshalb, weil die Schlichtung, wie man sie aus dem Tarifrecht kennt, ein Ergebnis bringen muss, das von beiden Seiten verbindlich anerkannt wird oder auch nicht. Die Schlichtung Geißlers blieb beim bloßen Appell. Sie hat zur Transparenz beigetragen und deshalb sicherlich ihre Berechtigung. Das Problem gelöst hat sie aber nicht.
Um die Volksabstimmung hinzukriegen, müssen Sie erst mal darauf vertrauen, dass niemand vor dem Staatsgerichtshof erfolgreich klagt.
Die Opposition ist da mittlerweile sehr zurückhaltend. Sie müsste gegen die Entscheidung des Parlaments klagen, eine Volksabstimmung durchzuführen, und das halte ich für eine gefährliche Gefechtslage. Ich glaube nicht, dass sich CDU und FDP mit der Aussage outen werden: Wir wollen das Volk nicht entscheiden lassen. Nichtsdestotrotz fühlen wir uns gewappnet für alles, was da kommen mag.
Ihre Tonlage ist, bei all diesen Gefechten, erstaunlich moderat. Die Genossen Schmiedel und Drexler haben Sie offenbar noch nicht anstecken können.
Ich pflege schon immer Auseinandersetzungen argumentativ zu führen. Mich hat es etwa in Landtagsdebatten oder im Wahlkampf stets gestört, wenn die Dinge emotional hochgeschaukelt werden. Wenn der grüne Verkehrsminister Hermann etwas sagt, das nicht ins klassische Schema passt, dann gibt's gleich auf die Mütze, was weitere Reaktionen hervorruft. Übrigens sind die Grünen in der Regierung sehr zurückhaltend, wenn's um Kritik geht. Und das, obwohl sie den Ministerpräsidenten und damit die Mehrheit stellen. Die SPD stellt diese nicht.
Manchem wäre die CDU doch ohnehin lieber.
Einige haben in der Wahlnacht erwartet, dass das erste Koalitionsangebot an die SPD von der CDU kommt. Aber es kam nicht. Das ist Geschichte. Jetzt müssen wir alles vermeiden, was diese Koalition gefährdet. Ein Bahnhof, und sei er noch so wichtig, ist es nicht wert, nach 58 Jahren eine notwendige Änderung in diesem Land gleich wieder umzukehren. Nur weil man sich über ein Projekt, das eines von vielen ist, nicht einigen kann. Wenn die Koalition auseinanderbricht, wäre das sowohl für das Land als auch für SPD und Grüne fatal.
Das Gespräch führte Josef-Otto Freudenreich. Fotografiert hat Jo Röttgers.
Rainer Stickelberger bezeichnet sich als "unbewaffneten Kleinwagenfahrer", womit er seine Distanz zum Vorgänger Ulrich Goll ausdrückt, dem Pistolero und Ferrari-Fan. Als Justizminister amtiert der gelernte Anwalt seit dem 12. Mai 2011. Zwischen 1984 und 1992 war er Baubürgermeister der Stadt Weil am Rhein. Daher rührt auch sein Bezug zur Basis. Im Kabinett gilt Stickelberger als versöhnendes Mitglied, das sich nicht auf die Seite der Grünen-Fresser geschlagen hat.
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AufrechterGang
am 21.09.2011