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Es grünt so grün

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Wenn die Legende stimmt, ist die Idee gut 2600 Jahre alt: Schon im alten Babylon wurden Dächer bepflanzt. In Zeiten des Klimawandels hat die Begrünung Hochkonjunktur und in Stuttgart ohnehin eine zusätzliche Bedeutung – für den Fall, dass irgendwann die oberirdischen Bahngeleise tatsächlich verschwinden.

Baden-Württemberg novellierte gerade seine Landesbauordnung (LBO). Der Aufschrei war groß nicht nur in der Opposition. Und selbst in den vergangenen Hitzewochen ist die Einsicht keineswegs überall gewachsen. Konservative Verbandsvertreter wettern weiter gegen die neue Vorgabe, Dächer und Fassaden zu bepflanzen. Hausbesitzer mit und ohne CDU-Parteibuch laufen Sturm gegen das "ideologiegetriebene Vorhaben". Die Handwerkskammer kritisierte die Regelung "bis ins Detail". Die "Welt" mokierte sich über die "absurde Efeu-Novelle", die FAZ erläuterte, bisher habe das Gesetz jedem Bauherrn in Baden-Württemberg freigestellt, "ob er ein Parkidyll oder eine Betonwüste schaffen möchte". Womit jedoch ausdrücklich nicht für die neue Verordnung argumentiert wird, sondern dagegen.

Seit 1. März ist die ohnehin eher weiche Muss-Vorschrift in Kraft, die verlangt, Neubauten zu begrünen, wenn "ihre Beschaffenheit, Konstruktion und Gestaltung es zulassen", wenn die Maßnahme "wirtschaftlich zumutbar ist" und eine Bepflanzung der Grundstücke drum herum "nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich". CDU-Politiker polemisieren dennoch dagegen, allen voran Spitzenkandidat Guido Wolf. Der hat aus dem Thema einen Baustein für seinen Standardreden gebastelt. "Wir wollen nicht immerzu umerzogen werden von dieser Besserwisser-Partei", schimpft er landauf, landab auf die Grünen, die den Bürgern sogar "in die Gestaltung von Fassaden oder Dächern hineinquatschen wollen".

Der Nutzen von Dachbegrünungen ist hinreichend belegt

Sie wollen? Sie sollten, unbedingt. Regionale, nationale und internationale Untersuchungen belegen die Bedeutung von Dachbegrünungen. Es gibt positive Kosten-Nutzen-Rechnungen, etwa aus Düsseldorf, und eine Vielzahl von Beispielen nicht nur im alten Babylon. In den Siebzigerjahren kam ein Landrover auf den Markt, ausgestattet für Expeditionen in Hitzeregionen, mit einem "Tropical Roof", jenem weißen Blechdach über dem eigentlichen Autodach, um die Sonneneinstrahlung abzumildern. Die Hersteller von Carports werben längst nicht mehr nur damit, dass Autos im Winter nicht vom Schnee freigeschaufelt werden müssen, sondern mit jenem Effekt, den jeder ermessen kann, der in den vergangenen Wochen in der Stuttgarter City in sein unverschattet geparktes Auto einstieg.

Und noch ein Selbsttest ist allen Zweiflern anempfohlen. Über eine Wiese im Talkessel ist ein Spaziergang selbst bei 38 Grad barfuß ohne Weiteres selbst dann möglich, wenn sie vertrocknet ist – über den angrenzenden geteerten Fußweg eher nicht. Dazu sitzen in der Region Global Player, darunter ZinCo in Nürtingen, eine Firma, die bereits seit Anfang der Siebzigerjahre(!) erfolgreich Dächer in Oasen verwandelt.

"Eine zusätzliche 'Dachhaut' in Form einer begrünten Fläche schützt vor der direkten Beeinflussung durch Wind und Wetter, die Hitze im Sommer und der Frost im Winter erreichen die Fläche darunter gar nicht oder nur gebremst, und die Räume darunter sind auf natürliche Art temperiert", schreibt das Umweltbundesamt (UBA). Gerade bei Starkregenfällen werden von Trocken- oder Halbtrockenrasen – von allen anderen Vorteilen abgesehen – bis zu 30 Prozent des Wassers gespeichert, statt Gullys überlaufen zu lassen.

In Stuttgart ist die Dachhaut schon lange Standard. Bereits vor fast hundert Jahren, weiß Rainer Kapp vom Amt für Umweltschutz, war Stadtklimatologie ein Thema, was an der Lage lag. Eine "wirklich gute Statistik" zum zusätzlichen Grün an Häusern werde allerdings nicht geführt. In den aktuellen Bebauungsplänen sind 1,5 Quadratkilometer vorgeschrieben, 200 000 Euro zur Förderung einschlägiger Projekt stehen Jahr für Jahr zur Verfügung. Das UBA lobte schon 2009 die realisierten Vorhaben auf einer Fläche vergleichbar mit jener der Wilhelma. Fachleute können sich eine Vervielfachung auf fünf Quadratkilometer vorstellen.

Gerade läuft gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt und dem ebenfalls in Nürtingen ansässigen Deutschen Dachgärtner-Verband ein Projekt in Stuttgart, Karlsruhe, München und Hamburg. Anhand von Infrarot-Aufnahmen werden die vorhandenen Flächen erfasst – "je stärker das leuchtet, desto mehr Grün ist vorhanden", erklärt Kapp – und zusätzliche Potenziale identifiziert.

Selbst bei aufwendiger Pflege rechnen sich Moose, Gräser oder Kräuter für Hausbesitzer/-bewohner. Weshalb die Begrünung auf allen Kontinenten Hochkonjunktur hat. In Toronto, Tokio oder Kopenhagen schreiben Satzungen zwingende Anteile vor. In Wien werden in Neubaugebieten 16,5 bepflanzte Quadratmeter pro Einwohner verlangt, horizontal oder vertikal, zu ebener Erde oder auf dem letzten Stock. In Mailand entstehen im Rahmen der Expo 2015 bewaldete Wolkenkratzer. New York lockt Touristen mit der längsten Dachbegrünung der Welt, einer alten Bahntrasse auf der East Side, die auf zweieinhalb Kilometer dicht bewachsen zum Wandern und Verweilen lädt. In England gibt es sogar Naturschutzgebiete in luftiger Höhe.

Gerade in Stuttgart ist Dachbegrünung wichtig

Die Landeshauptstadt muss ihre Anstrengungen nicht nur der häufiger werdenden tropischen Sommertemperaturen wegen verstärken. Der Rückbau der Gleisanlagen am Hauptbahnhof wird das Stadtklima zusätzlich belasten. Schon die bisherige Bebauung der freigewordenen Flächen an der Heilbronner Straße nennt Kapp diplomatisch "nicht gut gelungen". Seine Abteilung hatte mit fachlichen Argumenten und Belegen von Häusern über zwanzig Meter Höhe abgeraten und mehr Wiesen- oder Wasserflächen gefordert. Unter anderem um den nächtlichen Luftstrom von Kaltental nach Bad Cannstatt und damit den Austausch sicherzustellen. Die Empfehlung ging unter im Strudel der Investoreninteressen, auch wenn – immerhin – das hochumstrittene Milaneo dachbepflanzt ist.

Die eigentliche Herausforderung kommt erst, wenn Schotter und Gleise weichen. Zwar werden Schotterflächen tagsüber ähnlich heiß wie Häuser, sie kühlen nächtens aber deutlich schneller ab. Auf den vielen Karten, die die Temperaturentwicklung im Talkessel illustrieren, ist der Hauptbahnhof immer sofort zu erkennen. "Die Gleisanlagen im Dreieck zwischen Rosensteinstraße, Rosensteinpark und Unterem Schloßgarten zeichnen sich im Vergleich zum Pragfriedhof beim morgendlichen Messflug als ausgekühlte Zone ab", stellt der Bericht der Stadt zu den klimatischen Auswirkungen von Stuttgart 21 fest. Und an anderer Stelle wird "die intensive Begrünung nicht überbauter Grundstücksteile und eine wirkungsvolle Vernetzung der so gewonnenen Grünbereiche mit den größeren innerstädtischen Grünflächen (Pragfriedhof, Schlossgarten, Rosensteinpark, IGA-Gelände)" angeraten.

Gemessen am Widerstand gegen die LBO, ist schwer vorstellbar, dass eine stadtklimagerechte Planung sich durchsetzt gegen Partikularegoismen. "Im Zweifelsfall wiegt der Verwertungsdruck in dieser Diskussion schwerer als unsere Argumente", befürchtet Kapp, der die Hoffnung allerdings nicht fahren lassen will, dass "es besser klappt als bisher". Die Landesregierung steht mit ihren neuen Vorgaben jedenfalls an der Seite der Kämpfer für mehr Grün am Bau. Was sich allerdings ändern könnte. Denn die CDU hat bereits angekündigt, die Muss-Vorschrift zurück "in die Mottenkiste" zu stopfen, sollte sie die Wahl gewinnen. "Wir wollen noch irgendetwas in unserem Leben selbst entscheiden dürfen", dreht Wolf immer weiter seine Gebetsmühle.

Der stellvertretende Landes- und Fraktionsvorsitzende der CDU, Winfried Mack, hat – als zuständiger Fachpolitiker – sogar herausgefunden, dass die "lächerliche Vorgabe" überhaupt nichts bringt, außer Neubauten zu verhindern oder zu verteuern. Angeblich solle zwar "der Luftfeuchtehaushalt eines Quartiers ausgeglichen werden", räumt Mack ein, "aber kommt im Sommer die Hitzeperiode, dann sind die Dachbegrünungen doch so und so trocken". So viel Ahnungslosigkeit schmerzt. Da widerspricht sogar die Architektenkammer: Eine gleichlautende Regelung wie in Baden-Württemberg werde in Nordrhein-Westfalen bereits seit dem Jahr 2000 angewendet – "und hat dort offensichtlich weder das Baugeschehen zum Erliegen gebracht noch massenweise Bauherren in den Konkurs getrieben".


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5 Kommentare verfügbar

  • Roland Beck
    am 28.08.2015
    Antworten
    Leider ist die menschliche Vernunft ein knappes Gut und so mussten wir auch gezwungen werden, auf Blei im Benzin zu verzichten, Katalysatoren in die Autos zu bauen, Kläranlagen zu bauen oder Rauchgasentschwefelung einzusetzen.
    Schade dass Herr Wolf fahrlässig auf Kosten der Gesundheit der…
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